Sturm auf den Eurotunnel
Nacht für Nacht versuchen Hunderte oder gar Tausende Migranten das Euro-Tunnel-Terminal bei Calais zu stürmen. Frankreich lässt sie gewähren und macht klar, dass es nicht vor hat, etwas gegen die Situation zu unternehmen. London ist ratlos und hat Angst, dass Paris die Schleusen noch weiter öffnet.
Migranten-Krise

Sturm auf den Eurotunnel

Nacht für Nacht versuchen Hunderte oder gar Tausende Migranten das Euro-Tunnel-Terminal bei Calais zu stürmen. Frankreich lässt sie gewähren und macht klar, dass es nicht vor hat, etwas gegen die Situation zu unternehmen. London ist ratlos und hat Angst, dass Paris die Schleusen noch weiter öffnet.

Vielleicht denkt Großbritanniens Premierminister David Cameron manchmal an den 8. Januar 1558. Man könnte es verstehen. An dem Schicksalstag Tag verloren die Briten nach einem Überraschungsangriff Calais an eine französische Armee. Über 200 Jahre lang war die französische Hafenstadt bis dahin in englischer Hand gewesen, als bedeutender Standort englischen Europahandels und als wichtiger Stützpunkt zur Sicherung des Kanals und der gegenüber liegenden White Cliffs of Dover.

Wenn ich sterbe, werdet ihr auf meinem Herzen das Wort ‚Calais‘ eingraviert finden.

Maria Tudor

Wäre nicht jene  Katastrophe von 1558 gewesen − denn das war es damals für das englische Königshaus −, Calais könnte heute für die Briten eine Art Gibraltar sein. London hätte mit Calais auch die Kontrolle über das andere Ende des Kanaltunnels, könnte dort schalten und walten wie es wollte. Die  aktuelle Migranten-Krise müsste es nicht geben, jedenfalls nicht in dieser Form und nicht in Calais. „Wenn ich sterbe, werdet ihr auf meinem Herzen das Wort ‚Calais‘ eingraviert finden“, soll Englands Königin Maria I. vor Ihrem Tod 1588 gesagt haben. Wahrscheinlich versteht Cameron heute, was sie meinte.

Tausende Migranten stürmen das Tunnel-Gelände

Doch dank Maria Tudor muss London heute ohne Calais auskommen. Die Briten sind auf französische Zusammenarbeit angewiesen, um mit der Migranten-Situation in Calais fertig zu werden oder sie wenigstens einzudämmen. Doch das gelingt nicht. Der Migranten-Druck auf das Terminal am Tunneleingang beim 130-Seelen-Dorf Coquelles nahe Calais nimmt zu. Jede Nacht versuchen dort hunderte meist afrikanischer, afghanischer oder syrischer Migranten die Sperren um das Terminal zu überwinden und in das 650 Hektar große Terminal-Areal einzudringen. Sie wollen anfahrende Güterzüge entern oder die Lastwagen auf den Waggons, um dann als blinde Passagiere die Fahrt durch den Tunnel nach England zu schaffen. Die Migranten riskieren immer mehr: Seit Jahresanfang sind schon etwa zehn von ihnen ums Leben gekommen – von Lastern überrollt, zu Tode gestürzt.

Kürzlich verhinderten französische Polizisten in einer Nacht wieder 1000 Versuche, in das Terminal-Areal einzudringen und illegal nach Großbritannien zu gelangen. 700 Migranten gelang der Einbruch in das Bahngelände. Eine Woche zuvor haben in einer Nacht 2000 Migranten das Tunnel-Gelände regelrecht „gestürmt, um auf Züge Richtung Großbritannien aufzuspringen“, so die Londoner Tageszeitung Financial Times. In der Nacht danach waren es wieder 1500. In einer „normalen“ Nacht können es 400 oder auch 700 Versuche sein. Nicht die Polizei, sondern die Groupe Eurotunnel S.A., der Betreiber des Tunnels und der Shuttle-Züge unter dem Kanal hindurch, hat seit Anfang des Jahres schon mehr als 37.000 Migranten abgefangen, hinter den Zäunen.

Bis zu 5000 Migranten in einem wilden Flüchtlingslager bei Calais

In Schwärmen von Hunderten und in „organisierten Gruppen“, so ein Sprecher der Eurotunnel-Gesellschaft, greifen die Migranten Schwachstellen an, schneiden Löcher in den Zaun und überwinden durch ihre schiere Zahl die Polizei vor dem Gelände und die Sicherungskräfte hinter dem Zaun. 20 bis 50 Migranten gelingt so jede Nacht die Flucht nach England, schreibt The Wall Street Journal. Beim ersten Lkw-Stop nach dem Tunnel flüchten sie dann aus dem Laster und verschwinden irgendwo in Kent in die Nacht. Vergangene Woche sollen es einmal sogar 148 Flüchtlinge  gewesen sein – zehn Prozent von denen, die es versucht hatten. Einem englischen Polizei-Chef zufolge sollen in den vergangenen fünf Wochen in der Grafschaft Kent 400 illegal eingereiste Personen aufgegriffen worden sein.

Woher kommt der plötzliche Migranten-Ansturm auf den Euro-Tunnel? Ein Grund ist, dass die Hafenanlagen in Calais immer  besser gesichert sind. Sechs Meter hohe Stacheldrahtzäune machen es den Migranten schwer, die Hafenanlagen zu erreichen und sich als blinde Passagiere auf die Fähren zu schmuggeln. Dazu kommt ein Streik des französischen Fährpersonals – es fahren weniger Fähren. Die Migranten suchen einen anderen Weg und haben das riesige, vergleichsweise schwer zu sichernde Tunnel-Terminal entdeckt. Und schließlich wächst die Zahl der Migranten, denen der Weg über das Mittelmeer oder über die Balkanroute gelingt und die sich dann mehr oder weniger ungehindert in Schengen-Europa bewegen können – bis nach Calais. Bis zu 5000 Migranten sollen sich derzeit in einem wilden Flüchtlingslager bei Calais aufhalten, 11 Kilometer vom Tunnel-Terminal entfernt. Viele Hunderte von ihnen machen sich jede Nacht von dort auf den Weg zum Terminal.

Frankreich lässt die Migranten gewähren

Die eskalierende Situation in und bei Calais droht zu Spannungen zu führen zwischen Paris und London. Premierminister David Cameron und seine Innenministerin Theresa May legen sich zwar jede erdenkliche Zurückhaltung auf und sprechen von nichts anderem als nur von Kooperation. Aber die Londoner Presse, Abgeordnete der konservativen Regierungspartei und Vertreter der Labour-Opposition werfen der französischen Seite immer lauter Nachlässigkeit und Versagen vor.

Die Regierung ist inkompetent. Wenn in Paris Migrantenlager entstehen, dann werden die gleich verlegt. Aber wenn sie hier in Calais sind, dann ist das der Regierung völlig egal.

Bürger von Calais

Da ist sogar etwas dran. Französische Sicherheitskräfte denken nicht daran, etwas gegen das riesige wilde Lager bei Calais zu unternehmen, die 3000 bis 5000 Bewohner etwa zu registrieren und in ein Asylverfahren aufzunehmen. Sie lassen die Migranten gewähren. „5000 oder mehr Migranten können sich in Calais frei bewegen“, klagt ein Sprecher der Eurotunnel-Gruppe. „Solange die Regierungen nichts unternehmen können, um diese Gruppe von Leuten zu entfernen und den Zustrom nach Calais zu unterbinden, bleibt es bei dieser Lage.“ Französische Behörden sagen, dass sie von der Masse der nächtlichen Angriffe auf das Terminal überfordert sind. Die Polizei lässt Migranten, die sie aufgreift, gleich wieder laufen. Die Angehörige einer katholischen Hilfsorganisation berichtet der Pariser Tageszeitung Le Monde, dass sie abends Flüchtlinge im Lieferwagen zum Terminal-Zaun fährt, „um ihnen den Marsch zu ersparen“. Le Monde zufolge werden seit Januar sogar Flüchtlinge auf dem Gelände der Bürgermeisterei von Calais geduldet. „Früher oder später schaffen es alle, und wenn der (zahlenmäßige) Druck in Calais wirklich zu groß wird, drücken wir ein Auge zu“, erklärt ein Mitglied der Stadtregierung ganz offen der Neuen Zürcher Zeitung.

Früher oder später schaffen es alle, und wenn der Druck in Calais wirklich zu groß wird, drücken wir ein Auge zu.

Mitglied der Stadtregierung von Calais

Wovon kaum jemand spricht: Calais leidet unter der Flüchtlingsflut. Die englischen Touristen bleiben aus. „Die Regierung ist inkompetent“, klagt ein Stadtbürger dem Korrespondenten des Daily Telegraph: „Wenn in Paris Migrantenlager entstehen, dann werden die gleich verlegt. Aber wenn sie hier in Calais sind, dann ist das der Regierung völlig egal.“ Aus Sicht der Lastwagenfahrer wird es sogar bedrohlich in der Hafenstadt. „Wie ich nach Calais hereinkam, waren die Migranten überall, sie sind herumgelaufen wie Passagiere“, berichtet ein Lastwagenfahrer vom Terminal. Die Fahrer sind den Migranten dort ausgeliefert und wissen nicht, was im Terminal oder auf dem Zug mit und in ihren Lkws passiert, berichtet ein anderer: „Das macht Angst. Man kann sich nicht mit denen anlegen. Die haben Messer bei sich. Man kann nur im Lkw bleiben, die Kabine abschließen und die machen lassen.“

Paris signalisiert, dass es nichts unternehmen will

Unterdessen erhöht die französische Regierung den Druck auf den Tunnelbetreiber. Innenminister Bernard Cazeneuve hat der Groupe Eurotunnel brieflich vorgeworfen, „nicht die nötigen Anstrengungen zu unternehmen, um das Eindringen der Migranten in den Tunnel unter dem Ärmelkanal von Calais zu verhindern“. Aber vor dem Tunnelgelände sind ausschließlich französische Behörden und französische Polizei zuständig. Die Betreibergesellschaft ist nur für die Sicherheit auf dem großen Terminalgelände verantwortlich. Ihr Sicherheitspersonal hat keine Polizeigewalt. Was Premierminister Manuel Valls nicht davon abgehalten hat, den Betreiber ungerührt aufzufordern, „seiner Verantwortung gerecht zu werden“. Paris versucht allen Ernstes die Verantwortung für die Situation in Calais auf die Groupe Eurotunnel abzuwälzen – und signalisiert London damit, dass man auf französischer Seite nicht vor hat, wirklich etwas zu unternehmen.

London wiederum möchte das ganze Problem am liebsten Paris überlassen. Wo es auch hingehört. Denn die Briten haben seit 1558 mit Calais eben nichts mehr zu tun. Cameron meldet sich aus dem Urlaub, das Sicherheitskabinett tagt. Frankreichs Innenminister Cazeneuve fliegt nach London. Gemeinsam mit seiner britischen Kollegin May veröffentlicht er einen Zeitungsartikel, der in der wohlfeilen Forderung gipfelt: „Letztendlich liegt die langfristige Antwort auf das Problem darin, die Zahl der Migranten, die von Afrika nach Europa kommen, zu reduzieren.“ Für die kritische Lage in Calais bedeutet das nichts. Immerhin: Paris schickt 120 zusätzliche Polizisten nach Calais, London wendet zehn Millionen Euro auf, um die Zaunsperren um das Terminal bei Coquelles zu verstärken. Der vierte Zaun um den Terminal soll schon fertig sein.

In Calais ist Frankreich Londons Polizei-Arm

„Das wird ein schwieriges Thema bleiben, den ganzen Sommer“, sagt Cameron. „Wie schließen nichts aus, um Maßnahmen zu ergreifen, bei diesem sehr ernsten Problem.“ Aber London ist ratlos und hat vor allem eine Sorge: Dass Frankreich die Migranten-Schleuse in Calais noch weiter öffnet.

Die englische Grenze muss in Dover sein, nicht in Calais.

Xavier Bertrand, Ex-Arbeitsminister

Die Sorge ist nicht unbegründet. „Es gibt keinen Grund, dass diese Leute in Frankreich gelagert werden, wenn ich das so sagen darf. So kann es nicht weiter gehen“, erklärt etwa Henri Guaino, Abgeordneter der Sarkozy-Partei Die Republikaner: „Die Sache ist ziemlich einfach. Migranten kommen nach Calais, um nach England zu gelangen. England will sie nicht. Deswegen stapeln sich die Migranten in Calais und versuchen mit allen Mitteln nach England zu kommen.“ In Calais machen die Briten „Frankreich zum ‚Polizei-Arm‘ Londons“, kommentiert bitter die Tageszeitung Le Monde. Das Blatt beklagt die politischen Kosten, die  entstehen, weil Paris als unmenschlich oder uneffektiv dargestellt wird und Frankreich zunehmend von „xenophober Rhetorik unterminiert“ würde. Der ehemalige Arbeitsminister Xavier Bertrand sieht es ähnlich: „Die englische Grenze muss in Dover sein, nicht in Calais.“ Am liebsten würden viele in Paris es offenbar ähnlich machen wie die Italiener und die Griechen: Die Migranten einfach weiter schicken.

Großbritannien ist schuld, weil es attraktiv ist

Wie andere in Frankreich gibt auch Natacha Bouchart, die Bürgermeisterin von Calais, London die Schuld an der Misere in ihrer Stadt, weil Großbritannien so attraktiv sei für Migranten aus Syrien, Afrika oder Südasien. „Ihr habt ein viel großzügigeres Sozialsystem in Großbritannien als in anderen europäischen Ländern“ glaubt sie. Tatsächlich hat Großbritannien einiges zu bieten: die englische Sprache, die viele Migranten wenigstens etwas sprechen, Zugang zum kostenlosen Nationalen Gesundheitsdienst oder einen relativ hohen Mindestlohn. Im Lager in Calais sprechen Migranten immer wieder von einem: In England gibt es keine Personalausweise und keine Personalausweiskontrollen. Es ist viel leichter, dort unterzutauchen, eine Wohnung zu mieten und schwarz zu arbeiten. „Großbritannien hat in der Sache auch Verantwortung“, klagt wieder Ex-Arbeitsminister Bertrand: „Es erlaubt diesen Migranten, ohne Papiere zu arbeiten.“

Großbritannien hat in der Sache auch Verantwortung. Es erlaubt diesen Migranten, ohne Papiere zu arbeiten.

Xavier Bertrand

Die Briten arbeiten daran. An der fehlenden Ausweispflicht wird sich zwar so schnell nichts ändern lassen, wenn überhaupt je. Aber Großbritannien will nicht länger als das Land erscheinen, „in dem Milch und Honig fließen“, erklärt Einwanderungsminister James Brokenshire. London will darum Asylbewerbern das Taschengeld von 36 Pfund die Woche kürzen. Abgelehnte Asylbewerber verlieren den Anspruch automatisch, es sei denn, sie haben Kinder. Jetzt soll auch diese Ausnahmereglung gestrichen werden. Außerdem sollen demnächst Vermieter gezwungen werden, die Papiere und Aufenthaltsberechtigungen von potentiellen Mietern zu überprüfen. Wer an illegale Migranten vermietet, muss dann mit harten Strafen rechnen − im Wiederholungsfall mit bis zu fünf Jahren Gefängnis.

Dass das die Migranten in Calais beeindruckt, ist eher unwahrscheinlich. Und eine Frage bleibt bei alledem unbeantwortet, vor allem in Paris: Gibt es in Frankreich wirklich Fluchtgründe, die Migranten, von woher auch immer sie kommen, zwingen, aus Frankreich zu fliehen und auf der anderen Seite des Ärmelkanals um Asyl nachzusuchen? Wenn es in Frankreich keine Fluchtgründe gibt, dürfte Paris die Dinge in Calais eigentlich nicht länger treiben lassen und müsste sich dort der Migranten annehmen.