Soldaten der Bundeswehr sind im westafrikanischen Mali im Rahmen der UN Mission MINUSMA stationiert. (Foto: picture alliance/Michael Kappeler)
NATO

Sicherheit gibt es nicht zum Discountpreis

Gastbeitrag Aus dem aktuellen BAYERNKURIER-Magazin: Deutschland muss verteidigungspolitisch eine weitaus aktivere Rolle übernehmen. Dazu braucht es eine Bundeswehr, die bestmöglich ausgestattet ist. Eine Analyse von Generalleutnant a.D. Karl Müllner.

Die Sicherheit Deutschlands und der verlässliche Schutz unserer Bündnispartner – der grundsätzliche Auftrag der Bundeswehr hat sich seit ihrer Gründung vor mehr als sechs Jahrzehnten nicht verändert. Dann müssten sich der Umfang und die Qualität von Personal und Material für die Bundeswehr ja ganz einfach definieren lassen?

Doch halt, ganz so einfach ist die Sache nicht! Denn der nächste Schritt wäre eine nüchterne, auf realen Fakten basierende Bedrohungsanalyse. Und daraus abgeleitet, eine nationale Sicherheitsstrategie, in der beschrieben wird, wie Deutschland den Bedrohungen gemeinsam mit seinen Partnern in Europa und jenseits des Atlantiks entgegentreten möchte – und welche Rolle es dabei spielen möchte. Erst auf der Basis solch einer Strategie ließe sich dann schlüssig ableiten, welche Fähigkeiten die Bundeswehr tatsächlich benötigte und wie viel Geld dafür bereitgestellt werden müsste.

In unserem Land gibt es weder eine ehrliche Bedrohungsanalyse, noch eine substanzielle Strategie und Definition der Rolle Deutschlands in der Welt.

Generalleutnant a.D. Karl Müllner

Fakt ist jedoch, dass es in unserem Land weder eine ehrliche Bedrohungsanalyse gibt, noch eine substanzielle Strategie und Definition der Rolle Deutschlands in der Welt. Zwar erhebt das Weißbuch 2016 den Anspruch all dies leisten zu können. Beim genaueren Hinsehen ist jedoch unschwer zu erkennen, dass es in der Substanz zu abstrakt, zu wenig konkret und damit weit interpretierbar und unverbindlich bleibt.

Trügerisches Wunschbild

Das ist auch kein Wunder, denn die Politik in Deutschland liefert seit Jahrzehnten nur das Wunschbild einer friedlichen Welt. Die harte sicherheitspolitische Realität scheut sie dagegen. Mit den sich daraus ergebenden Konsequenz ließen sich ja auch kaum Wahlen gewinnen. Schließlich erwarten die Bürger unseres Landes mit weit überwiegender Mehrheit genau dieses Wunschbild und würden sich abwenden, würden sie etwas anderes präsentiert bekommen.

Wenn jedoch statt einer faktenbasierten Bedrohungsanalyse ein sicherheitspolitisches Wunschbild Ausgangsbasis ist und eine tragfähige Strategie allein schon deswegen fehlt, dann muss es nicht verwundern, wenn sowohl für präventive als auch für die aktive Konfliktbewältigung, also Entwicklungshilfe und Bundeswehr, deutlich zu wenig Mittel zur Verfügung gestellt wird. Warum sollte man statt in soziale Wohltaten auch mehr in sicherheitspolitische Vorsorge investieren, wenn die Welt doch so friedlich ist?

Die Realität ist jedoch leider eine andere: Die Sicherheitslage ist gefährlich, komplex, volatil – und Deutschland ist mittendrin. In unmittelbarer Nähe unserer Grenzen erleben wir an der europäischen Peripherie Terrorismus, Bürgerkriege und die provokative Machtprojektion Russlands. Weltweit kennzeichnen langjährige kriegerische Konflikte, instabile Staaten und aggressive Aufrüstungsbestrebungen die sicherheitspolitische Lage unserer Zeit. Phänomene wie digitale Rekrutierungs- und Propagandaoperationen terroristischer Gruppierungen, die hybride Kriegsführung sowie Propagandaoperationen des Kremls, Organisierte Kriminalität und Cyberangriffe von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren, haben eine grenzenlose Dimension und beeinflussen unsere Sicherheit direkt und unmittelbar.

Russland rüstet auf

Apropos Russland: das deutsche sicherheitspolitische Russlandbild wird nicht unwesentlich geprägt durch eine gewisse kulturromantische Naivität, durch wirtschaftliche Interessen, die selbst völkerrechtswidriges russisches Machtstreben gerne verdrängen, sowie die erfolgreiche russische Propaganda, die Russland als vermeintliches Opfer der politischen Umwälzungen in Europa vor fast 30 Jahren erscheinen lässt. Fakt ist jedoch, dass Russland sich von der vom Westen damals angebotenen Partnerschaft abgewendet hat und seine strategische Rivalität ausdrücklich betont. Um diese Ambitionen zu untermauern, hat Russland im konventionellen und atomaren Bereich in den letzten Jahren massiv aufgerüstet.

Wer so agiert, will sich eine Eskalationsdominanz aufbauen und wir, die europäischen Nationen, müssen darauf vorbereitet sein und Vorsorge treffen, auf Droh- und Erpressungsszenarien reagieren zu können. Landes- und Bündnisverteidigung sind daher wieder relevant, was die Regierungschefs der NATO Staaten auf ihre letzten Gipfeltreffen in Wales und Warschau einstimmig zum Ausdruck gebracht haben. Aber nicht nur mit Russland ist eine harte Machtpolitik auf die internationale Bühne zurückgekehrt. Trends zu stärkerer Aufrüstung sehen wir in vielen Staaten der Welt. Insgesamt befinden wir uns in einer Lage, die selten so risikoreich, komplex, unübersichtlich und unberechenbar war.

Deutschland muss Verantwortung übernehmen

Deutschland muss auf diese Herausforderungen Antworten finden. Und diese müssen anders ausfallen als in der Vergangenheit. Viele Jahrzehnte war es für Deutschland bequem, auf die Bürde der eigenen Vergangenheit verweisen zu können und damit harte militärische Beiträge zur Krisenvorsorge und -bewältigung zu verweigern. Man überließ dies lieber den Vereinigten Staaten von Amerika, die man dann vom hohen moralischen Ross auch noch für ihre Interventionspolitik schelten konnte. Deutschland konnte im Windschatten dieser Aufgabenteilung bequem seinen Wohlstand mehren, wogegen andere, die mit hohem Aufwand für die Stabilität weltweit sorgten, in der der Exportweltmeister Deutschland gute Geschäfte entwickelte, den Preis dafür zahlten. Nicht erst seit Donald Trump wird dies nicht mehr akzeptiert. Bereits sein in Deutschland so hochgeschätzter Vorgänger Barack Obama hatte von Deutschland zu Recht höhere Verteidigungsausgaben Richtung zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt und eine aktivere Rolle im NATO Bündnis gefordert.

Deutschland ist prädestiniert, Führungsverantwortung in Europa und in der NATO zu übernehmen.

Generalleutnant a.D. Karl Müllner

Deutschland muss seine bisherige Sicherheitspolitik aber nicht nur überdenken, weil die USA oder andere Bündnispartner mehr Übernahme von Verantwortung und eine aktivere Rolle erwarten. Es ist angesichts der Größe unseres Landes und unserer geographischen Lage sowie unserer politischen und wirtschaftlichen Stärke vielmehr in unserem eigenen Interesse, diesen Erwartungen zu entsprechen. Und nicht nur das. Deutschland ist nicht nur gefordert, sondern vielmehr prädestiniert, Führungsverantwortung in Europa und eine wesentliche Rolle im NATO Bündnis zu übernehmen.

Ob man es nun mag oder nicht: neben engagierter Diplomatie sowie an sicherheitspolitischen Zielen mit ausgerichteter Entwicklungspolitik sind leistungsfähige und einsatzbereite Streitkräfte Voraussetzung dafür, um diese Rolle in Europa und in der NATO übernehmen zu können. Dazu gehören dann übrigens auch die politische Kraft und der Wille, die Bundeswehr nicht nur für Unterstützungsaufgaben wie Sicherung, Ausbildung, Transport, Aufklärung oder Medizinische Hilfe einzusetzen. Gerade ein Land mit der Vergangenheit Deutschlands darf als eine der Führungsnationen Europas nicht von vornherein ausschließen, sich an einer Militäraktion wie zuletzt gegen die Chemiewaffenlager in Syrien zu beteiligen. Manchmal muss man eben auch mit dem Einsatz militärischer Gewalt reagieren, um dem Morden eines gewissenlosen Despoten, zumal mit Massenvernichtungswaffen, Einhalt zu gebieten.

Eine lange Mängelliste

Wie sieht es jedoch mit den Fähigkeiten der Bundeswehr heute aus? Könnte die Bundeswehr das überhaupt leisten? Auch hier bedarf es einer ehrlichen Analyse. Dabei gilt es zunächst festzustellen, dass die Bundeswehr durchaus in der Lage ist, einen begrenzten Beitrag zu internationalen Operationen zu Krisenbewältigung sowie zu den Vorsorgemaßahmen der NATO und EU zu leisten. Dabei handelt es sich jedoch nur um ausgewählte Fähigkeiten, die für diese Einsätze aus der gesamten Bundeswehr und mit Unterstützung ziviler Dienstleister zusammengestellt werden. Derzeit befinden sich 3.500 Soldatinnen und Soldaten in mandatierten Auslandseinsätzen sowie weitere 10.000 in Bereitschaft.

Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es mit der Einsatzbereitschaft für Operationen größeren Umfangs, wie sie in der Bündnis- und Landesverteidigung zu erwarten sind, schlecht bestellt ist. Denn die Mängelliste ist lang und der Investitionsstau erheblich. Das Stichwort „Friedensdividende“ kennzeichnet den Sparkurs der Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges. Mit der Finanzkrise im Jahr 2008 verstärkte sich diese Entwicklung in einem Maß, das die Substanz der Bundeswehr nachhaltig beeinträchtigte. Die Bundeswehr steht deshalb vor immensen Herausforderungen.

Sicherheitspolitische Glaubwürdigkeit unseres Landes

Zwar wurde in den letzten vier Jahren zumindest konzeptionell Schritt für Schritt umgesteuert, um die bereits eingesetzte Erosion von Fähigkeiten aufzuhalten und umzukehren. Die materiellen Defizite sind jedoch derart vorangeschritten, dass die Behebung der Mängel erhebliche finanzielle Mittel sowie besondere personelle und organisatorische Anstrengungen bedarf. Mit der Umsetzung der so genannten Trendwenden hapert es deshalb noch. Was 25 Jahre lang gekürzt wurde, holt man aber auch nicht in kurzer Frist nach.

Die Bundeswehr wird aber auch langfristig nicht aufholen können, wenn die erforderliche Ausstattung nicht finanziert wird. Und da gibt die derzeitige Debatte innerhalb der Regierungskoalition Anlass zu großer Sorge. Denn die bisher für die nächsten Jahre vorgesehene Steigerung des Verteidigungsetats, reicht leider bei weitem noch nicht aus. Sollte es bei den bisherigen Plänen des Finanzministers bleiben, ist sogar zu befürchten, dass weitere wichtige Fähigkeiten verloren gehen und die notwendigen Ambitionen, im europäischen Kontext gemeinsame Projekte mit deutscher Beteiligungen oder unter deutscher Führung zu verwirklichen, nicht realisiert werden können. Das würde der sicherheitspolitischen Glaubwürdigkeit unseres Landes erheblichen Schaden zufügen und auch an den Grundfesten der NATO, zu denen vor allem Verlässlichkeit und faire Lastenteilung gehören, rütteln.

Ohne Nato keine Sicherheit

In diesem Zusammenhang gehört es auch zur Ehrlichkeit klar auf einige Wahrheiten hinzuweisen: Ohne die Nato ist Sicherheit in Europa undenkbar. Hinzu kommt, dass Europa nicht auf die amerikanische Sicherheitsgarantie verzichten kann. Zwei Prozent – um das klar zu sagen – sind eine berechtigte Forderung. Sicherheit braucht Investitionen und ist nicht zum Discountpreis zu haben.

Neben der Erhöhung der Verteidigungsausgaben geht es aber auch darum, die Steuermittel effektiver einzusetzen. Heute geben die Europäer ein Drittel von dem aus, was die USA für Verteidigung investieren. Allerdings haben wir Europäer mit diesem Mittelansatz nur 10 bis 15 Prozent der amerikanischen Fähigkeiten. Viel Geld ausgeben, wenig dafür kriegen – das muss auf europäischer und nationaler Ebene bald ein Ende haben. Das Beschaffungs- und Rüstungswesen im Dreieck Industrie, Beschaffungsamt und Ministerium muss hierzu modernisiert werden. Noch ist das „Tal der Tränen“ nicht durchschritten und noch gehören irritierende Mängellisten sowie frustrierende Lieferverzögerungen nicht der Vergangenheit an. Auch die Verbesserung des Vergaberechts und die Umstrukturierung in der Beschaffungsorganisation bleiben noch hinter den Anforderungen zurück.

Europa gibt viel Geld für Verteidigung aus, bekommt dafür aber nur geringe militärische Fähigkeiten.

Generalleutnant a.D. Karl Müllner

Verantwortung auch für die Soldaten

Marschroute muss aber sein, dass, wer Soldaten in einen Einsatz schickt – ja, schicken muss – auch für deren bestmöglichen Schutz und deren bestmögliche Ausrüstung sorgen muss. Das ist übrigens im Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung auch so vereinbart. „Bestmöglich“ darf sich dabei aber nicht nach Kassenlage definieren. Maßstab muss sein, was für die Erfüllung des Auftrags erforderlich ist. Alles andere würde die Risiken in den Einsätzen auf die Soldatinnen und Soldaten abwälzen.

Jeden Tag leisten die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Außergewöhnliches und übernehmen – auch fern von Deutschland – Verantwortung. Damit die Bundeswehr gut gerüstet für die Zukunft ist, müssen wir die Modernisierung weiter vorantreiben und die Bereitschaft zeigen, unseren Worten Taten folgen zu lassen. Konkret wird die Zukunft der Bundeswehr nicht ohne Investitionen zu haben sein – wir werden etwas auf den Tisch legen müssen. Hierzu ist Klarheit und Führung erforderlich. Wer gestalten will, braucht nicht nur eine klare Vorstellung vom künftigen Weg, sondern auch den Mut, unumstößliche Wahrheiten auszusprechen. Nur hierdurch kann die Grundlage einer neuen, vertrauensvollen Beziehung geschaffen werden: zwischen politischer Führung und unseren Soldatinnen und Soldaten ebenso wie im internationalen Konzert unserer Bündnispartner.

Generalleutnant a.D. Karl Müllner war bis Mai 2018 Inspekteur der Luftwaffe.