Ein Meer wird geschlossen
Wendepunkt im Mittelmeer: Italienische Schiffe dürfen in libyschen Hoheitsgewässern operieren – und Migranten zur libysche Küste zurückbringen. Paris wird in Libyen Aufnahmezentren einrichten. Vor dem Ende systematischer Personenkontrollen.
Migranten

Ein Meer wird geschlossen

Wendepunkt im Mittelmeer: Italienische Schiffe dürfen in libyschen Hoheitsgewässern operieren – und Migranten zur libysche Küste zurückbringen. Paris wird in Libyen Aufnahmezentren einrichten. Vor dem Ende systematischer Personenkontrollen.

Das könnte der Anfang vom Ende der zigtausendfachen Zuwanderung über die sogenannte zentrale Mittelmeeerroute von Libyen nach Italien sein: Die Regierung in Rom hat an diesem Freitag beschlossen, die italienische Marine auch zur Unterstützung der libyschen Küstenwache einzusetzen – in libyschen Hoheitsgewässern. Ein Wendepunkt, denn ab jetzt können italienische Marineeinheiten afrikanische Migranten nicht nur von der Abfahrt abhalten, sondern innerhalb der libyschen Zwölf-Meilen-Zone aufnehmen – und zur libyschen Küste zurück bringen. Das könnte das Ende des Geschäftsmodells nordafrikanischer Schlepper und Schleuser sein. Das italienische Parlament muss kommende Woche der Entscheidung der Regierung noch zustimmen.

EU-Einsatz in libyschen Gewässern

Am 26. Juli hatte Libyens Übergangspräsident Fajiz al Sarradsch die Einladung an die italienische Marine  in Rom persönlich an Ministerpräsident Gentiloni übergeben. Der italienische Premier hat sofort dafür plädiert, der Bitte zu entsprechen und sie seiner Marine zur Prüfung übergeben.

Nach Informationen der Zeitung Corriere della Sera will das italienische Verteidigungsministerium für den Libyen-Einsatz zwischen 500 und 1000 Soldaten sowie Drohnen und Hubschrauber bereitstellen. Auch auf EU-Ebene laufen nach Angaben eines Sprechers Diskussionen über eine Ausweitung des Kampfes gegen libysche Schleuserbanden. Militärisch sei man bereits vorbereitet, so ein Sprecher am Donnerstag.

Ein Wendepunkt

Paolo Gentiloni, Italiens Ministerpräsident

Nach Presseberichten wird in Brüssel nun damit gerechnet, dass die Behörden in Tripolis bereits in der kommenden Woche offiziell ihre Zustimmung auch zu EU-Marineeinsätzen in der Zwölfmeilenzone signalisieren. Bemerkenswerterweise bestehen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zufolge mehrere EU-Staaten, darunter auch Deutschland, allerdings auf einem Votum des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, bevor sie einer Ausdehnung der EU-Marine-Mission „Sophia“ auf libysche Gewässer zustimmen wollen.

Eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini wollte die Informationen zur erwarteten Einsatzerlaubnis der libyschen Behörden weder bestätigen noch dementieren. Sie wies jedoch darauf hin, dass für den kommenden Dienstag ein Spitzentreffen in Tripolis geplant sei. An ihm sollten unter anderen der zuständige Befehlshaber, Konteradmiral Enrico Credendino, und der Chef der für Libyen zuständigen EU-Delegation teilnehmen.

Libyen-Verhandlungen in Paris

Möglich wurde die neue Entwicklung durch ein Treffen der wichtigsten libyschen Bürgerkriegsparteien in Paris. Auf Einladung von Präsident Emmanuel Macron waren in La Celle-Saint-Cloud bei Paris der Präsident der libyschen Einheitsregierung in Tripolis, Fayez A-Sarraj, und sein ost-libyscher Rivale aus Benghasi, Armeeführer und Warlord Khalifa Haftar, zusammengetroffen. Die beiden verständigten sich auf einen Zehn-Punkte-Plan über einen Waffenstillstand und die Stabilisierung Libyens, der im kommenden Frühjahr zu Präsidentschafts- und Parlamentswahlen unter Aufsicht von UN-Beobachtern führen soll. Von Paris aus ist dann Sarraj nach Rom aufgebrochen, um dort seine Einladung zum europäischen Marine-Einsatz in libyschen Gewässern zu übergeben.

EU-Hotspots in Libyen?

Unterdessen ist in Paris Präsident Macron weiter gegangen. Er fordert jetzt die Einrichtung von sogenannten EU-Hotspots – Registrierungszentren – in Libyen. Dort sollen afrikanische Migranten registriert werden, und dort soll dann auch über mögliche Asylberechtigung entschieden werden. Auch in anderen EU-Hauptstädten wird über die Einrichtung von Auffanglagern in Nordafrika nachgedacht.

Weitgehend Konsens war bislang allerdings, dass in solchen Lagern eben keine Asylanträge gestellt und keine Asyl-Entscheidungen gefällt werden sollen. Damit soll verhindert werden, dass von solchen Aufnahmelagern eine Sogwirkung ausgeht, die dann erst recht Hunderttausende und Millionen schwarzafrikanische Migranten nach Nordafrika zieht. Denn genau das ist die große Befürchtung etwa in Libyen oder auch in Tunesien und Ägypten – zwei andere nordafrikanische Länder, die als mögliche Standorte für Aufnahmelager oft genannt werden.

Frankreich wird es auf jeden Fall machen.

Präsident Emmanuel Macron

Über libysche Reaktionen auf das Ansinnen ist denn auch noch nichts bekannt. Aber die französischen Pläne sind offenbar schon weit gediehen. „Wir werden versuchen, dies mit Europa zu organisieren, aber auf jeden Fall wird Frankreich es machen“, zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Präsidenten.

Französische Unruhe

Das könnte mit wachsender französischer Unruhe über die Lage im italienischen Nachbarland zusammenhängen. Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge sind dieses Jahr bis zum 26. Juli 94.445 meist schwarzafrikanische Migranten über Libyen in italienische Häfen überführt worden – 6000 mehr als im Vergleichszeitraum des vergangenen Jahres. Insgesamt erreichten 2016 etwa 181.000 afrikanische Migranten über die zentrale Mittelmeerroute Italien. Beunruhigend: Präsident Macron zufolge warten derzeit 800.000 bis eine Million Migranten in Libyen auf die Gelegenheit zur Überfahrt nach Europa. Und viele Afrikaner wollen nach Frankreich, ein Erbe des Kolonialismus.

Nach Angaben der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR beherbergen italienische Aufnahmeeinrichtungen derzeit mindestens 170.000 Migranten. Viele weitere Tausende Migranten, deren Asyl- oder Schutzanspruch schon negativ entschieden ist, leben irgendwo im Lande auf der Straße, berichte die Londoner Wochenzeitung The Economist.

Kontrollen nur bis 12. November

Auf der französischen Seite der französisch-italienischen Grenze an der Côte d’Azur bekommt man das zu spüren. In diesem Jahr sind dort schon 27.000 afrikanische Migranten aufgegriffen und nach Italien zurück überstellt worden – gegenüber 37.000 im gesamten Jahr 2016. Derzeit werden im Département Alpes-Maritime jede Woche etwa 1000 illegale Migranten aufgegriffen und an der Weiterreise gehindert, berichtet die Pariser Tageszeitung Le Figaro. „Die Migrationswelle des Jahres 2017 wird weit über die des Vorjahres hinausgehen“, meint das Blatt in Bezug auf Frankreich. Die französische Polizei rechnet mit über 50.000 Festnahmen und Rücküberstellungen bis zum Ende des Jahres.

Die Migrationswelle des Jahres 2017 wird weit über die des Vorjahres hinausgehen.

Le Figaro

„Bis zur Stunde spielen die Italiener das Spiel auf bewundernswerte Weise mit“, so Le Figaro. Aber auf der französischen Seite wächst die Nervosität. Zur Verstärkung hat Paris Hunderte Soldaten und Angehörige der Gendarmerie in die Grenzregion entsandt. Problem: Am kommenden 12. November endet die Zweijahresfrist, während der Frankreich an seiner Schengen-Grenze ausnahmsweise systematische Personenkontrollen durchführen darf. Niemand weiß, wie es dann weiter gehen soll.

Vor der Schließung der Mittelmeeroute?

Einziger Lichtblick: Ausgerechnet im Monat Juli, in dem wegen idealer Wetterbedingungen normalerweise besonders viele Migranten die Boote besteigen, hat Italien die Zahl der Migrantenankünfte gegenüber dem Vorjahr auf 10.424 mehr als halbieren können. Dank intensiver Kooperation mit der libyschen Küstenwache, so die Erklärung aus Rom. Das macht Hoffnung: Nun dürfen auch italienische und europäische Schiffe in libyschen Hoheitsgewässern patrouillieren – und die zentrale Mittelmeerroute schließen.