Sonnenuntergang in Istanbul: Die Türkei ist gespalten. (Bild: Fotolia/Dario Bajurin)
Wahlen in der Türkei

Türkei zwischen Machterhalt und Neuanfang

Die Türkei wählt am kommenden Sonntag ein neues Parlament und der Wahlabend verspricht, spannend und wichtig zu werden – auch für Deutschland. Denn das Abschneiden der neuen prokurdischen Partei HDP könnte die Mehrheitsverhältnisse am Bosporus durcheinanderwirbeln und somit für Präsident Erdogan zum ernsten Problem werden.

Wenn die Türken am kommenden Sonntag ein neues Parlament wählen, kommt einer politischen Kraft ein besonderer Stellenwert zu, der neuen prokurdischen Partei HDP (Halkların Demokratik Partisi, zu Deutsch „Demokratische Partei der Völker“). Deren Parteichef Selahattin Demirtas steht für eine sozialistische Politik, für Klassenkampf, Minderheitenschutz und Genderpolitik – und könnte für Recep Tayyip Erdogans AKP zum Problem werden. Denn schafft sie den Sprung ins Parlament – das türkische System kennt eine 10-Prozent-Hürde – verlöre Erdogan zumindest die Zweidrittelmehrheit, die er benötigt, um das politische System nachhaltig in ein Präsidialsystem zu verwandeln und die Macht des Präsidentenamtes weiter auszubauen.

David gegen Goliath: Erdogan muss um Macht bangen

Unter Umständen könnte der AKP sogar der Verlust der Mehrheit drohen – eine große Bedrohung also für das System Erdogan, der alles Mögliche tut, um seine Macht zu erhalten.

Dreizehn Jahre stand er an der Spitze des Landes, zunächst als Ministerpräsident, zuletzt als Präsident mit einem ihm genehmen Ministerpräsidenten Davutoglu. Er hat nach und nach die Rechte des Präsidenten ausgeweitet. Möglich machten das die wirtschaftlichen Erfolge, die ihm den Rückhalt weiter Teile der Bevölkerung sicherten, was das Land aber auch in Sachen Politik und Demokratieverständnis zurück geworfen hat: Hin zu stärkerer Unterdrückung der Opposition durch einen der Regierung hörigen Polizeiapparat, hin zu weniger Presse- und Meinungsfreiheit und weg von dem Status als Tor zwischen Ost und West, Christentum und Islam.

Einschüchterung der politischen Opposition

Dazu zählt (einmal mehr) auch die Unterdrückung politischer Gegner. Wie wenig Humor die Staatsmacht versteht, zeigt der Fall des Elektrikers Ersan Tas, der (vergleichsweise harmlose) Witze und Fotomontagen über die Mächtigen des Staates, vor allem über Erdogan und Melih Gökcek, den Bürgermeister Ankaras, über Twitter verbreitet hat – und dafür seit dieser Woche vor Gericht steht. Amnesty International spricht von einer „Atmosphäre der Einschüchterung“ und von faktisch nicht vorhandener Meinungsfreiheit.

Bedroht werden auch Journalisten wie Can Dündar, Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“. Dündar hatte über angebliche Waffenlieferungen an Extremisten in Syrien berichtet. Der Autor werde einen hohen Preis dafür bezahlen, sagte Erdogan im Staatssender TRT. Bei dem Bericht handele es sich um „Unterstellungen“ und um eine „Spionageaktion“.

Demirtas als echte Alternative oder kleineres Übel?

Für viele Türken (auch außerhalb der kurdischen Minderheit) stellt die HDP daher eine willkommene Alternative zum verhassten System Erdogan dar. Neu und anders ist auch der Stil von Parteiführer Demirtas: weniger einheizend und aggressiv als sonst im türkischen Wahlkampf üblich, weniger auf Beleidigungen des politischen Gegners abzielend. Hinzu kommen ein sozialistisch orientierter Duktus und fortschrittliche Themen wie Ökologie und Gleichberechtigung, was gerade die jüngeren Wählergruppen gewinnen kann.

Das bringt der HDP allerdings auch die Unterstützung der DHKP-C, der marxistischen Untergrundorganisation, der in den vergangenen Jahren einige tödliche Anschläge in der Türkei zugeschrieben werden. Die Wurzeln der HDP reichen zur BDP, zu linken Gruppierungen des Arbeiterkampfes und zur kurdischen Arbeiterpartei PKK – alles in allem also auch zu gewalttätigen Kräften, von denen sie sich nicht distanziert, deren Fürsprache und Unterstützung sie sogar dankend annimmt, was ihr viele politische Gegner zum Vorwurf machen.

Dennoch genießt Demirtas, der sich als Mann aus dem Volk präsentiert, großen Zuspruch, der vor allem daher rührt, dass jede Stimme für die HDP vor allem eine Stimme gegen Erdogan darstellt. Dennoch ist unklar, was man inhaltlich eigentlich von der HDP erwarten kann. Auf der einen Seite stehen die alten kemalistischen Kräfte der CHP, die Islamistisch-Konservativen der AKP und die Nationalisten der MHP, auf der anderen Seite distanziert sich die Partei aber auch nicht von prokurdischer Politik, die auch Gewalt als Mittel des politischen Kampfes versteht.

Und so dürfte der Wahlabend nicht nur für Erdogan zur Bewährungsprobe werden, sondern auch für das türkische Volk, das die HDP als Alternative begreift, aber nicht wirklich abschätzen kann, wofür die Partei in Zukunft steht. Dennoch kann der weitere Ausbau der Macht Erdogans nicht im Sinne des Auslands sein – schließlich ist die Türkei nicht nur Nato-Mitglied und zumindest theoretisch EU-Beitrittskandidat, sondern genießt aufgrund ihrer geografischen Lage, angrenzend an Syrien, den Iran und den Irak, einen besonderen Stellenwert in der Region, was sich durchaus auch auf die Sicherheitslage in Europa auswirken könnte.