Fragwürdiger Auftritt: Sigmar Gabriel (l.) bei Sebastian Kurz. (Bild: Imago/Skata)
Flüchtlinge

Der Schüler Gabriel in Wien

Kommentar Österreichs Außenminister Sebastian Kurz schlägt vor, schon in Nordafrika Aufnahmelager für afrikanische Migranten einzurichten − und findet immer mehr Zustimmung. Aber Sigmar Gabriel warf ihm bei seinem Antrittsbesuch in Wien mangelnden Realitätssinn vor. Dabei hatte Gabriel vor einem Jahr die Schließung der Balkanroute durch Österreich empört kritisiert.

Österreichs junger Außenminister Sebastian Kurz hat vor allem einen außenpolitischen Maßstab: die Realität. In der großen Migrantenkrise hat er das von Anfang an unter Beweis gestellt und kühl und entschlossen gehandelt, als das unumgänglich wurde. Und nur an der Realität orientiert er sich, wenn er heute in klaren, einfachen Sätzen über den andauernden Migrantenstrom nach Europa spricht und darüber, was zu tun ist: „Die wichtigste Regel muss sein: Wer sich illegal auf den Weg macht, der wird an der Außengrenze versorgt und wieder zurückgestellt.“ So hat er es nach dem EU-Gipfel auf Malta Anfang Februar formuliert. Kurz weiter: „Das Weiterwinken der Flüchtlinge führt zu mehr Geschäft für Schlepper, zu mehr Toten im Mittelmeer und zu einer massiven Überforderung in Mitteleuropa.“ Noch so eine glasklare Einsicht, der nicht zu widersprechen ist, wenn man sich an der Realität orientiert.

Aufnahmelager für Migranten in Nordafrika

Der nüchterne Blick auf die tödliche Realität der Migrantenkrise hat ihn wie die CSU schon im vergangenen Jahr zur logischen Schlussfolgerung geführt: Aufnahmelager für Flüchtlinge in Libyen und anderswo in Nordafrika müssen sein. Bei ihrem Gipfel in Malta haben die Staats- und Regierungschefs Kurz‘ Vorschlag aufgenommen: Ein EU-Ziel soll es nun sein, in Libyen temporäre Auffanglager einzurichten, unter libyscher Kontrolle und mit Geld aus Brüssel. Der neue italienische EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani hat den Gedanken dieser Tage noch einmal aufgenommen: „Es wäre richtig, Auffanglager in Libyen zu installieren. Die EU sollte zu diesem Zweck ein Abkommen mit Libyen vereinbaren.“ In Deutschland hat sich etwa auch Innenminister Thomas de Maizière einen ähnlichen Vorschlag zu eigen gemacht. Und Kurz sagte in Wien: „Ich finde, dass die Diskussion ehrlicher wird und nicht mehr so verlogen wie früher.“ Seine Sichtweise, so Kurz, sei „mittlerweile in Europa Mehrheitsmeinung“.

Das Weiterwinken der Flüchtlinge führt zu mehr Geschäft für Schlepper, zu mehr Toten im Mittelmeer und zu einer massiven Überforderung in Mitteleuropa.

Sebastin Kurz, Österreichs Außenminister

So weit, so richtig. Bis auf ein Problem: Neben ihm stand der neue Bundesaußenminister und EX-SPD-Chef Sigmar Gabriel zum Antrittsbesuch in Österreich. Und der ist noch nicht so weit wie Kurz oder die europäische Mehrheitsmeinung. Geht nicht, meinte Gabriel einfach, das Türkei-Abkommen lasse sich nicht auf Libyen übertragen: „In der Türkei haben wir einen Staat, in Libyen haben wir keinen Staat. Mit wem wollen Sie dort ein Abkommen vereinbaren?“ Gabriel weiter: „Ich rate dazu, nicht eine Welt zu malen, die nicht existiert.“ Und: „Die Politik muss durchdenken, was sie vorschlägt.“

2016: Gabriels Realitätsverweigerung

Das ist pikant: Ausgerechnet Gabriel wirft in Wien seinem österreichischen Amtskollegen mangelnden Realitätssinn vor. Der deutsche Außenpolitik-Novize hat da einiges vergessen oder verdrängt: Niemand anderes als Kurz war es, der vor genau einem Jahr die Initiative ergriff und zusammen mit den benachbarten Westbalkan-Ländern die Balkanroute an der griechisch-mazedonischen Grenze abriegeln ließ. Kurz dazu heute: „Es war eine notwendige Notmaßnahme. Vor der Schließung wurden 15.000 Menschen täglich über diese Route nach Mitteleuropa weitergewinkt. Ich habe diese Politik von Anfang an abgelehnt. Denn so hätten sich immer mehr Menschen auf den Weg gemacht. Durch die Schließung konnten wir das beenden und den Zustrom nach Österreich massiv reduzieren.“ Kurz weiter: „Wir wussten, dass es keine Alternative gab, als die Menschen irgendwo zu stoppen. Für jeden, den wir weiterwinken, kommen zwei nach.“

Kurz hatte die bedrohliche Dynamik der Migrantenkrise erfasst. Gabriel hingegen hat damals Kurz‘ wirksame Notmaßnahme empört kritisiert. Was ihn jetzt aber nicht hindert, Kurz Unterricht in Sachen Realpolitik erteilen zu wollen.

Um die Schleuserbanden wirksamer zu bekämpfen, müssen wir ihnen die Geschäftsgrundlage entziehen, indem die im Mittelmeer geretteten Flüchtlinge wieder zurückgebracht und zunächst in Nordafrika versorgt und betreut werden.

Thomas Oppermann, SPD-Fraktionschef

Aufschlussreich: Erst kürzlich hatte sich auch SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann dem österreichischen Vorschlag angeschlossen: „Um die Schleuserbanden wirksamer zu bekämpfen, müssen wir ihnen die Geschäftsgrundlage entziehen, indem die im Mittelmeer geretteten Flüchtlinge wieder zurückgebracht und zunächst in Nordafrika versorgt und betreut werden.“ In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hatte Oppermann weiter ausgeführt: „Eine Lösung liegt in engerer Zusammenarbeit nicht nur mit dem zerrissenen Libyen, sondern auch mit stabileren Transitländern in Nordafrika − etwa Marokko und Tunesien.“ Da hat sich jemand Kurz und der europäischen Mehrheitsmeinung angeschlossen.

Auf dem Weg ins Bundeskanzleramt

Nur Gabriel ist noch nicht in der Realität angekommen. Aber Kurz wird die Gabriel-Schelte verschmerzen. Er kann schon weiter blicken. Denn die Österreicher setzen immer mehr auf ihn, und das vor allem für seine klare, realistische Haltung in der Zuwanderungsfrage. Gut möglich, dass Lehrmeister Gabriel ihm bald wieder begegnet – und Kurz dann Österreichs Bundeskanzler ist. Im Herbst 2018 oder auch schon früher stehen in Österreich Nationalratswahlen bevor. Mit dem 30-jährigen Außenminister als Spitzenkandidaten hätte seine ÖVP beste Aussichten: In aktuellen Umfragen käme sie auf 35 Prozent vor der rechtspopulistischen FPÖ (26) und erst recht den österreichischen Sozialdemokraten (23). Und auch Europa hätte den Nutzen davon.