Polarlichter und ein unglaublicher Nachthimmel inklusive Milchstrasse über der Neumayer-Station III in der Antarktis. (Bild: AWI/Marcus Heger)
Antarktis

Die Stille an der Schelfeiskante

Die Wissenschaftler in der Forschungsstation Neumayer III nahe des Südpols sind auf ihn angewiesen: Stefan Schnitzler aus Bad Tölz, von Beruf Elektrotechniker. Ein Bericht über Kaiserpinguine, Eisberge am Horizont und über das, wovon ein Bayer im ewigen Eis träumt: eine Leberkässemmel. Aus dem BAYERNKURIER-Magazin.

Eine kaputte Glühbirne, ein defekter Staubsauger, ein Motor, der nicht anspringt – hochspezialisierte Wissenschaftler, wie sie in der antarktischen Forschungseinrichtung Neumayer-Station III des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in Bremerhaven forschen, sind nicht zwangsläufig dafür geeignet, die Dinge des Alltags zu regeln. Hier an Deutschlands südlichstem Arbeitsplatz im ewigen Eis beschäftigen sich die Experten mit Meteorologie, Geophysik, Luftchemie, Infraschall und mariner Akustik. Hier beobachten sie das Verhalten von Kaiserpinguinen, die in großen Gruppen in der Nähe der Station herumwatscheln. Hier registriert man in den verschiedenen Laboren Erdbeben oder auch nordkoreanische Atomtests, meldet Daten für die Wettervorhersage, misst die Richtung des Erdmagnetfeldes und die Dicke des Meereises, erforscht die Auswirkungen des Klimawandels oder mit Wetterballons die Atmosphäre und die Größe des Ozonlochs.

Ein Lenggrieser im ewigen Eis

Für viele andere Tätigkeiten gibt es Stefan Schnitzler. Der gebürtige Tölzer wuchs in Lenggries auf und machte nach der Schule seinen Meister der Elektrotechnik. Sieben Jahre arbeitete er als stellvertretender Betriebsleiter einer Seilbahn, danach bei einer Handwerksfirma als Projektleiter. Er schloss ein Bachelor-Studium für Energiewirtschaft und -management ab. „Neue Herausforderungen“ suchte er im Anschluss und fand sie in der Antarktis. „Die Vorstellung, ein ganzes Jahr mit wenigen Leuten zusammenzuleben und im Umkreis von Hunderten von Kilometern nichts als Meer, Eis und Schnee faszinierte mich“, sagt Schnitzler.

Die Stille, wenn man an der Schelfeiskante ist und das Meer oder das Meereis beobachtet. Polarlichter in verschiedenen Farben und Formen.

Stefan Schnitzler, über lohnende Momente

Im Februar 2015 bewarb er sich und nach einer medizinischen Untersuchung stand der neue Arbeitsplatz fest. Erst musste er aber noch die Bergung aus Gletscherspalten üben, einen Brandbekämpfungskurs und ein Überlebenstraining absolvieren. Zudem musste er alles über die Gebäudetechnik, die Maschinen und den Pistenbully lernen. Am 16. Dezember 2015 ging es zunächst nach Kapstadt, von dort mit einem russischen Ilyushin-Transportflieger zur russischen Polarstation Nowolasarewskaja und von dort mit einem kleinen Flugzeug zur Neumayer-Station.

Die 2009 eröffnete und ganzjährig betriebene Station, benannt nach dem Geophysiker Georg von Neumayer, ist die dritte Forschungseinrichtung, die das Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in der Antarktis errichtet hat. Sie ist vom geografischen Südpol rund 2.000 Kilometer entfernt. Das gesamte Projekt kostete insgesamt 39 Millionen Euro und soll mindestens 25 bis 30 Jahre in Betrieb bleiben, gerne auch länger. Die 29 Meter hohe Station bietet eine große Lounge, Küche, Sauna, Besprechungs-, Schulungs-, Krankenbehandlungs-, Wasch-, Server-, Dusch-, Essens-, Kleiderwechsel-, Heiz-, Funk-, Lager- und andere Räume. Sogar eine Großraumkühlzelle gibt es hier in der antarktischen Kälte.

Rutschpartie ins Meer

Die ersten beiden Neumayer-Stationen lagen als Röhren auf dem Eis und versanken deshalb allmählich im jährlich um etwa einen Meter steigenden Schneezutrag. Neumayer III sollte dieses Schicksal nicht teilen. Die Station steht darum sechs Meter über dem Boden auf 16 Stützen jeweils mit einer Fundamentplatte als Fuß. Diese Platten sitzen in einem acht Meter tiefen Graben auf dem Schnee auf, werden regelmäßig hydraulisch einzeln angehoben und mit Schnee unterfüttert. So wächst die Station mit dem Schnee mit und gleicht obendrein die Querspannungen durch das wandernde Eis aus. Über eine in den Schnee gegrabene Rampe mit Deckel wird der abgedeckte Graben zudem als Garage und Lager genutzt. Der Wind kann unter der Station durchblasen und deshalb bleibt fast kein Schnee auf und unter dem Gebäude liegen. Versinken könnte die Station eher irgendwann im wenige Kilometer entfernten Meer. Denn die Neumayer-Station III liegt in der Atka-Bucht auf dem rund 200 Meter dicken Ekström-Schelfeis und bewegt sich dadurch pro Jahr etwa 200 Meter auf das offene Meer zu, ähnlich wie ein Stein auf einem Gletscher.

Ein Jahr in der Antarktis

Falls es jemals dazu kommen sollte, wird Stefan Schnitzler schon längst nicht mehr hier im ewigen Eis sein. Sein Vertrag läuft über ein Jahr. Die Arbeit gehe ihm nie aus, erzählt der 37-Jährige. Neben den kleineren alltäglichen Reparaturen gehört zu seinen Aufgaben das Warten der überlebenswichtigen Anlagen.

Ein Blockheizkraftwerk und eine Windenergieanlage versorgen die Station mit Wärme und Strom. Treibstoff ist besonders tieftemperaturbeständiger Polardiesel. Der Anteil an Windenergie soll in den kommenden Jahren schrittweise durch weitere Windkraftanlagen erhöht werden. Dazu kommt noch eine Kleinkläranlage für die Abwässer. Der übrige Klärschlamm wird wie der anfallende Müll gelagert und per Schiff abtransportiert. Nach dem Antarktis-Vertrag ist die Station so zu betreiben, dass so wenig wie möglich die Umwelt belastet wird.

Zu Schnitzlers Job gehört es, alle Anlagen sowie die Funk- und Satellitenkommunikation regelmäßig zu überprüfen und am Laufen zu halten. Die nötigen Ersatzteile liefert das Forschungsschiff „Polarstern“. Doch trotz eines großen Ersatzteillagers sei dabei immer wieder Kreativität gefragt, erzählt Schnitzler. „Eine Sache, die ich dabei lernen musste, ist, dass bei minus 30 Grad Celsius eine Aufgabe, welche bei normaler Temperatur 30 Minuten dauert, schon mal zwei Stunden in Anspruch nehmen kann“, berichtet der Lenggrieser.

Der bisherige Kälterekord an der Neumayer-Station III beträgt minus 50,2 Grad Celsius.

Zudem unterstützt Schnitzler den Stationsingenieur und ab und zu auch einen der Wissenschaftler. Hinzu kommen Alltagsarbeiten: putzen, Geschirr abwaschen, die Station betanken und, für uns gemeine Schneeschaufler eine heitere Vorstellung: Schnee räumen in der Antarktis. Das allerdings erledigt der Pistenbully, der auch die Landebahn im Sommer freiräumt, Versorgungscontainer zieht und die Schneeschmelze für die Trinkwassergewinnung befüllt. Das gewonnene Wasser wird noch UV-bestrahlt und mit Mineralien versetzt.

Schnitzlers Kälterekord liegt bei -42 Grad Celsius

Der bisherige Kälterekord an der Neumayer-Station III beträgt minus 50,2 Grad Celsius, Schnitzlers Rekord liegt bei minus 42 Grad. „Bei dieser Temperatur gefriert der Atem an den Wimpern“, berichtet der Bayer. „Mit der Zeit legt sich jeder ein persönliches System zu, wie er sich einkleidet, welches nach Außentemperatur, Wind und Aufenthaltsdauer variiert“, erklärt Schnitzler. Bei ihm sind es in den meisten Fällen lange Unterwäsche mit Arbeitsoverall darüber, bei Außeneinsätzen im moderaten Wetter kommen noch der rote Polaranzug, ein zweites Paar Socken, Winterstiefel, Sturmhaube, eine russische Uschanka-Fellmütze, ein Paar Arbeitshandschuhe und ein Paar Winterhandschuhe darüber. „Damit hält man es in der Regel ein bis zwei Stunden ohne Aufwärmen im Freien aus“, so der Elektrotechniker. Kommt Wind hinzu, wird es gefühlt noch deutlich kälter. Gar nicht so einfach bei feinen Elektrikarbeiten. „Man gewöhnt sich aber an das Arbeiten mit Handschuhen“, meint er.

Entspannt und begeistert

Im antarktischen Sommer, der hier von November bis Februar dauert, sind auf der Station bis zu 50 Personen, dann wird es in manchen Zimmern eng. Schnitzler hat jedoch ein Einzelzimmer, weil er als einer von nur neun Überwinterern das ganze Jahr über hier bleibt. Das hat eben auch seine Vorteile. Nur in den sechs bis acht Wochen der Übergabe an den Nachfolger sind zwei Personen in dem Zimmer. Schnitzler jedenfalls ist hier im ewigen Eis „einfach entspannter“ – weil man „nicht ständig erreichbar“ ist. Erreichbar sind die Männer und Frauen in der Antarktis natürlich trotzdem, nämlich über Satellit.

Dann steht die Sonne niedrig und man sieht durch die Luftspiegelung die Eisberge, welche im Meer treiben, als wären sie so hoch wie Kirchtürme.

Stefan Schnitzler

„Es ist erstaunlich, wie eine so karge Landschaft einen so begeistern kann“, schwärmt der Bayer. „Auf den ersten Blick sieht man nur Eis und Schnee. Dann steht die Sonne niedrig und man sieht durch die Luftspiegelung die Eisberge, welche im Meer treiben, als wären sie so hoch wie Kirchtürme, und den Sternenhimmel, der in Europa durch Luft- und Lichtverschmutzung nie so klar sein kann wie hier.“

Viele seiner Kollegen zieht es immer wieder her und der Lenggrieser weiß warum. „Die Stille, wenn man an der Schelfeiskante ist und das Meer oder das Meereis beobachtet. Polarlichter in verschiedenen Farben und Formen. Die wenigen Tiere, allen voran der Kaiserpinguin, der sein ganzes Leben hier verbringt und seine Eier und Jungen auf den Füßen trägt, weil es sonst nur Eis gibt. Viele kleine Dinge, die das große Ganze ausmachen.“ An der Schelfeiskante kann man gelegentlich auch Wale oder Weddel-Robben im Meer beobachten.

250 Kilometer bis zum Nachbarn

Nur knapp 40 Stationen in der Antarktis sind im Winter besetzt. Mit Nachbarn kann man aber nicht mal eben ratschen. Die nächste auch im Winter besetzte Station aus Südafrika ist 250 Kilometer entfernt. Immerhin: Per Skype gab es schon ein antarktisches Dart-Turnier. Bei einem medizinischen Notfall ist die Station erst einmal auf sich allein gestellt, hat aber einen OP-Raum und eine Telemedizin-Einrichtung. Aus diesem Grund ist bei dem Überwinterungs-Team auch immer ein Arzt dabei, zurzeit eine Chirurgin.

Wenn das nicht hilft, kommt der Abtransport, der aber im Winter mindestens 48 Stunden Vorlauf braucht und bei Sturm auch scheitern kann. Entfernungen zurücklegen, das dauert in der Antarktis erheblich länger.

Natürlich würde man sich nach einer gewissen Zeit über eine Leberkässemmel oder Obazdn mit Brezn freuen.

Stefan Schnitzler

Nur 75 Kilometer Fahrt hat Schnitzler zum Watzmann. Nicht der 2.700 Meter hohe Berg bei Berchtesgaden, sondern ein Seismometerfeld, eine Anlage, die Bodenerschütterungen misst, auf einer Anhöhe in der Antarktis. Für eine Reparatur musste der Elektriker den „Aufstieg“ wagen. „Für diesen Einsatz waren wir zu dritt drei Tage unterwegs, bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit der Pistenbullys von 12 km/h dauert die Anreise ein wenig länger als mit dem Pkw“, so der in Bad Tölz geborene Lenggrieser.

Verschiedene kleine Observatorien und Lager befinden sich auf und unter dem Eis bis zu zwei Kilometer von der Station entfernt, um die Messungen nicht zu stören. In 100 Meter Entfernung liegt die südlichste Bibliothek Deutschlands, ein einsamer Container mit Hunderten von Büchern. Jedes Buch wurde jeweils mit Widmung von einem Künstler, Schriftsteller, Musiker oder Wissenschaftler gespendet. Alle abseits gelegenen Anlagen sind mit schwarzen Kabeln und Stangen mit der Station verbunden. Denn kommt plötzlich ein starker Schneesturm auf, kann der Rückweg ohne jede Sicht lebensgefährlich werden.

Im Sommer geht in der Antarktis die Sonne niemals unter, in der Polarnacht geht sie zwei Monate lang gar nicht auf.

Eine als Notquartier dienende Emergency-Base ist 6 Kilometer entfernt: Es ist die ausschließlich im Sommer genutzte andere Station der Südafrikaner. Die kleinere „Kohnen“-Station für spezielle Forschungen 750 Kilometer. Es gibt für die „Polarstern“ drei 12 bis 24 Kilometer von der Station entfernte Plätze, von wo aus per Schiffskran die Versorgungsgüter und Ersatzteile entladen werden können. In der Regel macht das Schiff längs zur Schelfeiskante fest, die zwischen 5 und 20 Meter aus dem Meer ragt. Von dort geht es per Bully-Schlitten zur Station. Entladen werden kann aber nur, wenn das Meereis von November bis März aufgebrochen ist.

Gegen Heimweh hilft Schokolade

Im Sommer, der jetzt in der Antarktis beginnt, geht die Sonne hier gar nicht unter – aber zwei Monate geht sie auch gar nicht auf: in der Polarnacht. Da hat man am kürzesten „Tag“, dem 21. Juni, nur drei Stunden Dämmerung zur Erhellung der Sinne. Was tut man gegen die Dunkelheit, die doch „etwas auf das Gemüt schlägt“? „Mir hilft da am besten, mich zu beschäftigen“, berichtet Schnitzler. Außerhalb der Arbeitszeiten puzzelt er dann, liest viel, baut Papiermodelle und bearbeitet Bilder und Videos. Andere haben auch mal aus Lego die Station nachgebaut. Für alle Überwinterer stehen außerdem eine Bibliothek, ein Billardtisch, ein Kicker, eine Tischtennisplatte, ein Fitnessraum und eine umfangreiche Filmesammlung zur Verfügung. Für Notfälle hält die Bordapotheke aber auch Antidepressiva bereit.

Das Essen sei dank des guten Kochs hervorragend, sagt Schnitzler, auch wenn im Laufe des langen Winters frische Produkte wie Obst und Gemüse ausgingen. „Dann gibt es nur noch Tiefkühlkost oder lang lagerbare Lebensmittel“, so der Bayer. Hat er kulinarisch dennoch Heimweh? „Natürlich würde man sich nach einer gewissen Zeit über eine Leberkässemmel oder Obazdn mit Brezn freuen, es gab aber schon Schweinebraten, Hirschgulasch und weitere heimische Kost.“ Und wenn es ganz schlimm wird, dann gebe es „ja immer noch Eis und Schokolade“.

Die südlichste Bibliothek Deutschlands

liegt auf 70°40´Süd, 08°16´West und steht seit nunmehr zehn Jahren in einer der unwirtlichsten Regionen der Erde. Im Südsommer 2004/2005 schuf der Kölner Künstler Lutz Fritsch auf dem antarktischen Ekström-Schelfeis die „Bibliothek im Eis“ – um dort in der Weite des „weißen Kontinents“ einen Raum für den Austausch zwischen Wissenschaft und Kultur zu schaffen.

Seitdem ist der Bibliothekscontainer samt seiner Büchersammlung ein fester Bestandteil der Neumayer-Stationen. Auf den Kirschholz-Regalen des grünen, isolierten Containers stehen heute knapp 700 Bücher. Jedes Jahr kommen neue Romane, Sachbücher, Bildbände und Biografien hinzu – jedes eine Spende eines bekannten oder aufstrebenden deutschen Künstlers, Schriftstellers, Musikers oder Wissenschaftlers jeglicher Disziplin. In ihren persönlichen Widmungen erläutern sie, warum sie gerade dieses Buch ausgewählt haben und es den Menschen, die an der antarktischen Forschungsstation überwintern, an die Hand geben möchten. Und als im Jahr 2009 die Neumayer-Station III eröffnet wurde, zog auch die „Bibliothek im Eis“ auf dem Schelfeis um. Die neue Station liegt zwar nicht mehr unter dem Eis, dennoch trennt Station und Bibliothek immer noch ein Fußweg von 100 Metern. „Die Überwinterer sollen bewusst den Weg von der Wissenschaft zur Kultur gehen“, sagt Lutz Fritsch. Bei einem Schneesturm muss sich der Besucher dagegen an einer Handleine entlanghangeln, die zwischen Aluminiumstangen gespannt ist.