Der neue Schutzmantel (r.) wird über den alten Betonsarg des Unglücksreaktors geschoben. (Bild: Imago/Ukrainian News/Polischuk Maksym)
Tschernobyl

Der neue Mantel kommt

Er ist das weltgrößte bewegliche Bauwerk an Land: der neue Schutzmantel für die Ruine des 1986 explodierten Atomkraftwerks Tschernobyl. Es wird noch einige Wochen dauern, bis die mehr als 30.000 Tonnen schwere Hülle den strahlenden Atomsarg versiegelt.

Drei Jahrzehnte nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl drohte der alte Betonsarkophag um das explodierte Kraftwerk einzustürzen. Diese Betonhülle hatten im Jahr 1986 noch zu Sowjetzeiten Arbeiter unter Einsatz ihrer Gesundheit und ihres Lebens um die radioaktive Hölle gegossen. Im Inneren des havarierten Reaktors lagert noch immer eine radioaktive Feuerschmelze aus Uran-Brennstäben, über deren genauen Zustand allerdings wenig bekannt ist.

Der neue Mantel

Die neue Hülle, in der die Pariser Kathedrale Notre Dame Platz finden würde, wurde in 330 Meter Entfernung zum Reaktor unter weniger dramatischen, aber dennoch wegen der hohen Radioaktivität harten Bedingungen hergestellt. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa zehn Metern pro Stunde und mit Pausen wird nun das Bauwerk, ein Stahlbogen, auf Schienen über den explodierten Block 4 geschoben. Noch nie wurde ein so großes Bauwerk so weit bewegt, aber die ersten Meter sind schon geschafft. Am 29. November soll die Verlegung des „New Safe Confinement“ (NSC) beendet sein. Die Umsetzung des Projekts kostete rund zwei Milliarden Euro. Der Unterhalt kann vermutlich nicht von der Ukraine allein bezahlt werden, hier laufen also weitere Kosten auf.

Eine jahrzehntelange Herausforderung. Ein bisher beispielloser Erfolg der Ingenieurskunst.

Vince Novak, Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung

Ein Zusammenschluss von 40 Staaten unter der Führung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung arbeitete seit sechs Jahren an der 162 Meter langen, 109 Meter hohen, 257 Meter breiten und 36.479 Tonnen schweren Stahl- und Betonkonstruktion und finanzierte das Mammutprojekt. Das kuppelartige Gebilde mit mehrlagigen Strukturen hält einem Tornado der Stufe 3 und einem Erdbeben der Stärke sechs stand.

Auch der neuen Hülle wird nur eine Haltbarkeit von 100 Jahren zugestanden. Sie wurde aber so dimensioniert und mit Kränen, Greifarmen und Überwachungssystemen ausgestattet, dass theoretisch darunter der Abriss des zerstörten Kraftwerks ablaufen kann. Das strahlende Material soll entfernt werden, sobald die technischen Möglichkeiten zur Neutralisation der Radioaktivität dafür gegeben sind – denn derzeit gibt es dafür noch kein geeignetes Verfahren. Unter der äußeren Hülle befindet sich eine innere aus besonders glattem Edelstahl, der Staubablagerungen minimieren soll.

Der größte anzunehmende Unfall

Nachdem die Sowjetunion 1986 zunächst tagelang versucht hatte, den atomaren Unfall vom 26. April zu vertuschen, musste nach den ersten Meldungen westlicher Messstellen die Sowjetführung den GAU dann doch einräumen. Die Kernschmelze geschah nach einer Notfallübung in dem Kraftwerk, bei dem Mensch und Material versagten. Die überforderten Behörden evakuierten in aller Eile 120.000 Menschen, besonders aus der nahen Stadt Pripyat, die sie zuvor tagelang nicht ausreichend geschützt hatten.

Ein Räumkommando von sogenannten Liquidatoren sollte die Katastrophe eindämmen – die meisten von ihnen starben später an der Verstrahlung. Mit letzter Kraft, Hubschraubern und todgeweihten Menschen errichtete man die Schutzhülle aus 5000 Tonnen Beton um den zerstörten Reaktor. Die Strahlung dort wird jedoch noch Jahrhunderte währen, weil auch langlebiges Plutonium und Uran ausgetreten waren.

Insgesamt starben je nach Schätzung zwischen 10.000 und mehr als 100.000 Menschen infolge des Unglücks. Wolken mit dem durch den Brand aufgewirbeltem radioaktiven Staub erreichten auch den Rest Europas und verstrahlten durch Niederschlag weite Gegenden mit kurzlebigeren Stoffen wie Cäsium und Strontium.

Was vom Unglück in Tschernobyl in Europa übrig blieb, lesen sie hier.