Großbritannien ist raus. Was nun? (Bild: Imago/Christian Ohde)
Die Konsequenzen

Brüssel und der Brexit-Schock

Brüssel ist überrascht, geschockt und weitgehend ratlos über das britische Referendum. Die Brexit-Konse­quenzen sind daher immer noch das dominante Thema aller Sitzungen in Parlament, Rat und Kommis­sion, bei den Parteien und den Think Tanks. Christian Forstner, Leiter der Verbindungsstelle der Hanns-Seidel-Stiftung in Brüssel, zieht eine Zwischenbilanz.

Brüssel tat alles, um den Brexit-Befürwortern keine Vorlagen zu liefern. Mit dem Sonderabkommen vom Februar erhielt Großbritannien weitreichende Zugeständ­nisse, vom Ziel einer immer enger werdenden Union wurden die Briten ausgenom­men, nationale Einspruchsrechte gestärkt, Europa auf Wettbewerbsfähigkeit ausge­richtet, und vor allem wurden der Sozialmigration in Europa durch eine vierjährige Ansparphase Grenzen gesetzt. Aus der Referendumskampagne hielten sich Europas Politiker heraus, größere Integrationsprojekte wie das der gemeinsamen Terrorbe­kämpfung wurden in Brüssel zurückgehalten, öffentlichkeitswirksame Veranstaltun­gen zu sensiblen Themen wurden auf nach die Zeit nach dem Referendum verscho­ben. Genutzt hat es nichts. Großbritannien votierte, wenngleich knapp, für den EU-Austritt. Brüssel ist überrascht, geschockt und weitgehend ratlos, die Brexit-Konse­quenzen sind das dominante Thema aller Sitzungen in Parlament, Rat und Kommis­sion, bei den Parteien und den Think Tanks.

Respekt und Bedauern

Die offizielle Sprachregelung war schnell gefunden: „Respect and Regret“, Respekt und Bedauern. In informellen Gesprächen konnte man aber erkennen, dass die briti­sche Entscheidung eine ohnehin schon durch die Griechenland- und Migrationskrise angeschlagene Union in noch schwereres Fahrwasser bringt. Spannungen und Divergenzen in der Brexit-Frage sind unübersehbar.

Die Überlegungen, integrationswillige Staaten zusammenzuführen und über ein Kerneuropa europäische Handlungsfähigkeit zu stärken, wurden aus Osteuropa hef­tig kritisiert. Dort wehrt man sich gegen die Anknüpfung an die europäischen Ursprünge mit sechs Gründungsmitgliedern, weil es eben auch als eine Ausgrenzung der später hinzugekommenen mittel- und osteuropäischen Länder verstanden wer­den kann. In den Augen der osteuropäischen Mitglieder muss jetzt die EU der 27 Staaten zusammengehalten werden und nicht eine Staatenminderheit das Integrati­onstempo verschärfen. Der Rat, an dessen Spitze mit Donald Tusk ein ehemaliger polnischer Premierminister steht, ist diesem Ansatz weit stärker verpflichtet als die EU-Kommission, die von Jean-Claude Juncker, dem langjährigen luxemburgischen Ministerpräsidenten und überzeugten Europäer, geleitet wird.

Das Strukturproblem der fehlenden Umsetzung europäischer Vereinbarungen, der Verwaltungsmängel und der politischen Instabilitäten auf nationaler Ebene bleibt.

Die im Nachgang zum Brexit-Votum aufgelegte deutsch-französische Initiative für ein engeres Europa bleibt vieles schuldig. Die Sicherheitsunion, eine gemeinsame Migrationspolitik und die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion sind keine neuen Ideen. Zudem scheiden sich gerade bei den stabilitätsorientierten nordeuropäischen Ländern die Geister an der staatsinterventionistischen französi­schen Industriepolitik und dem französischen Hang zu einer lockeren Geldpolitik. Darüber hinaus hakt die Idee eines Kerneuropas daran, dass sich grundsätzlich alle Staaten daran beteiligen wollen, aber man auch durch eine abgestufte Integration nicht das Strukturproblem der fehlenden Umsetzung europäischer Vereinbarungen, der Verwaltungsmängel und der politischen Instabilitäten auf nationaler Ebene beseitigen kann. Nicht zufällig sind Bulgarien und Rumänien keine vollen Mitglieder des Schengen-Raumes, wären es aber gerne.

Konsequenzen des britischen Votums

Die britischen Abgeordneten fehlen im Europäischen Parlament als liberales Gegen­gewicht gegen linke Umverteilungsversuche. So forderte Gianni Pitella, der italieni­sche Fraktionsvorsitzende der europäischen Sozialdemokraten, gleich nach dem Referendum, dass jetzt endlich die soziale Frage in Europa auf die Tagesordnung gesetzt werden müsse. Der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, ein deutscher Sozialdemokrat, sekundierte, dass jetzt schnelle Entscheidungen beim Austritt Großbritanniens notwendig seien. Eine Mandatsniederlegung der britischen Abge­ordneten würde jedoch einen Verlust an marktliberalen Stimmen im Parlament bedeuten, womit es für die christdemokratischen Kräfte schwieriger wäre, Gegen­mehrheiten gegen ein weiteres Abdriften der EU in eine Transferunion zu organisie­ren. Martin Schulz liebäugelt mit einer präzedenzlosen dritten Amtszeit als Parla­mentspräsident ab Januar 2017, was etliche Abgeordnete auch aus den Reihen der EVP nicht von vornherein ablehnen, schließlich ist Martin Schulz ein leidenschaftli­cher Streiter für die Interessen des EU-Parlaments insgesamt. Die britischen Euro­paabgeordneten gehören jedoch nicht zu Unterstützern des EU-Parlamentspräsiden­ten.

Beschleunigung der Integration oder Reform?

Brüssel ist sich uneins über die politischen Konsequenzen des Referendums. Die europäischen Föderalisten, deren Sprachrohr der frühere belgische Ministerpräsi­dent und heutige Fraktionsvorsitzende der liberalen Fraktion im EP, Guy Verhofstadt, ist, setzen auf eine Beschleunigung der Integration. Europa könne und müsse jetzt deutlich schneller voranschreiten, bei der Fiskalunion ebenso wie bei der Sozialunion und der Politischen Union, so ihre Auffassung.

Diesem integrationseuphorischen Lager stehen die Kräfte gegenüber, die das UK-Referendum als einen Warnschuss werten vor einer Entwicklung, die sich schon län­ger abzeichnete. Das Bild von Europa ist vielfach negativ, antieuropäische Kräfte haben Auftrieb, die Bürger trauen der EU immer weniger Problemlösungen zu, ver­binden vielmehr mit Brüssel ein Versagen in wichtigen Fragen wie der Migrations­krise oder der Russland-Politik.

Instabilität in Großbritannien

Kluge Köpfe in Brüssel sind sich der verfassungsrechtlichen und politischen Kompli­kationen in Großbritannien sehr wohl bewusst. Sie geben daher zu bedenken, dass man die unübersichtliche politische Lage und die absehbare wirtschaftliche Schwä­chung Großbritanniens nicht vorsätzlich von außen verschärfen sollte. Zu viel ist derzeit offen, so z.B. das Ansetzen eines britischen Parlamentsvotums, die Nominie­rung eines neuen Vorsitzenden der Tories, der Rücktritt und die Neuwahl eines neuen Premierministers, mögliche Neuwahlen zum Unterhaus, erneute Unabhängig­keitsbegehren in Schottland, die Perspektiven eines irischen Wiedervereinigungs­prozesses, als dass man die Trennungsmodalitäten jetzt schon forcieren müsste. Ein genauerer Blick auf die Lage in Großbritannien zeigt den durch das Land gehenden Riss, die junge Generation stimmte für Europa, ältere Leute gegen Europa, gebildete Leute waren eher für den EU-Verbleib, ungebildete dagegen, die Hauptstadt votierte anders als die ländlichen Räume.

Nein heißt nein, und scheiden tut weh.

Auf Großbritannien werden politische und wirtschaftliche Probleme zukommen, die man aus Brüssel nicht noch zusätzlich verschärfen sollte. Die Neigung ist aber bei einigen EU-Vertretern durchaus vorhanden, Großbritannien die Konsequenzen des Austritts durchaus spüren zu lassen. Nein heißt nein, und scheiden tut weh, so deren Meinung. Schließlich kann man mit den negativen Folgen für Großbritannien auch mögliche Nachahmer im Zaum halten, die, wenn man auch deren Sonderwün­schen nachgäbe, ein Europa à la carte heraufbeschwören würden.

 Unklarheiten der EU-Politik

Europapolitisch bedeutet das Brexit-Votum, dass wesentliche Projekte der europäi­schen Binnenmarktpolitik sowie der Handels-, Energie- und Klimapolitik nur schwer weiterverhandelt werden können, solange das Verhältnis zu Großbritannien und damit die Mitwirkungsmodalitäten am Binnenmarkt ungeklärt sind. Wie sind die EU-Klimaziele ohne Großbritannien zu erreichen, wie werden die britischen Einzahlun­gen in den gemeinsamen EU-Haushalt umgelegt, wie viel Einfluss hat Großbritan­nien, wenn es um die ab Herbst zu verhandelnde Neufassung der EU-Haushaltsprio­ritäten geht? Vor allem die Nettozahler sträuben sich gegen weitere Belastungen, wenn die britischen Zahlungen auf die anderen 27 Länder umgelegt werden.

Entge­gen der Bekenntnisse der amerikanischen Seite, am Abschluss eines ambitionierten US-EU Handelsabkommens festzuhalten, werden die TTIP-Perspektiven in Brüssel nach dem Brexit-Votum skeptisch eingeschätzt. Ohne Großbritannien dürften die USA noch weniger Interesse an Europa haben, denn die EU ist ohne das Vereinigte Königreich international deutlich schwächer. Diese außenpolitische Schwächung trifft die EU zu dem Zeitpunkt, zu dem die EU-Außenbeauftragte ihre neue Globale Strategie vorstellt und Europa als handlungsfähigen Akteur in der internationalen Politik positionieren will, der mehr als nur Soft Power anzubieten hat.

Auftrieb für die Populisten

Das britische Referendum bringt den europaskeptischen Kräften in ganz Europa kräftigen Aufwind. Aus der Verbindung von europaskeptischen und Anti-Establish­ment-Stimmungen schöpfen Populisten neuen Schwung. Dies verstärkt die politi­sche Fragmentierung in Mitgliedsländern wie Frankreich, Niederlande oder Öster­reich. Zudem gibt es den extremen Gruppen im Europäischen Parlament Auftrieb, die heute schon die Mehrheitsbildung im Europaparlament erschweren, mit ihrer polarisierenden Rhetorik aufschrecken und als konstruktive parlamentarische Kraft nicht in Erscheinung treten. Dem EU-Parlament drohen also unruhige Zeiten.

Rückschlüsse für die Europapolitik

Aus der misslichen Lage heute zeichnen sich meines Erachtens interessante europapolitische Rückschlüsse ab:

  • Referenden eignen sich nur bedingt für Entscheidungen in europapolitischen Angelegenheiten. Diese Erfahrung musste jüngst die niederländische Regie­rung machen, als das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine in einer Volksabstimmung abgelehnt wurde, obwohl es inhaltlich weitgehend unbe­kannt blieb.
  • Es ist ein gefährliches Spiel, europapolitische Positionen für innerparteiliche Machtkalküle zu benutzen. David Cameron war kein starker Tory-Führer, er brauchte die Europaskeptiker, um sich innerparteilich durchzusetzen. Er hatte von Anfang an auf eine fragile Allianz gesetzt, die früher oder später zerbrechen musste.
  • Zur Brüsseler Lesart gehört auch, dass das Scheitern von David Cameron absehbar und letztlich verdient war. Man kann nicht Jahre gegen Europa argumentieren, die EU und ihre Institutionen ständig als Quelle aller Probleme abqualifizieren sowie sich auf jedem EU-Gipfel als kompromisslo­ser Verteidiger britischer Interessen inszenieren und dann kurz vor dem Referendum genau für diese EU zu werben. So macht man keine glaubwür­dige Politik, und solche opportunistischen Politiker schätzt Brüssel nicht. Vielmehr will Brüssel geradlinige Politiker sehen, die auch in harten Zeiten zu Europa stehen und neben nationalen Interessen auch ein europäisches Gemeinwohl erkennen. David Cameron hat die EU immer als eine bessere Freihandelszone definiert, zu einer Werteunion oder einer politischen Gemeinschaft bekannte er sich nicht. Mit dieser fälschlichen Charakterisie­rung ignorierte er den Wandel Europas zu einer Staatengemeinschaft, die über den Binnenmarkt auf das Engste miteinander verflochten ist und inter­national dann maximalen Einfluss ausübt, wenn sie mit einer Stimme spricht.
  • Brüssel sieht im britischen Referendum ein gewaltiges Kommunikationsprob­lem der Europapolitik. Bei der Abstimmung spielte das Sonderabkommen vom Februar kaum noch eine Rolle, vielmehr ging es um die emotionale Posi­tionierung für oder gegen Europa, deren Antwort durch das Prisma von Mig­ration und Terrorabwehr gegeben wurde.

Deutschlands Verantwortung für faire Austrittsverhandlungen

Deutschland wird jetzt als ehrlicher Makler in Europa gefordert sein. Es erstaunt, dass die Rufe nach einer beschleunigten Integration und nach mehr Europa sehr bald und sehr laut artikuliert wurden, während die Forderung nach mehr Subsidiari­tät in Europa und nach einer kritischen Reflexion über fehlgeleitete EU-Integration nur vereinzelt vernommen wurde, wohltuende Ausnahmen waren CSU-Politiker wie Angelika Niebler und Markus Ferber. Sie erinnerten daran, dass das Abkommen mit Großbritannien vom Februar wichtige und in die richtige Richtung weisende Reformimpulse aufs Papier brachte. Mit dem Votum gegen Europa sollten diese vier Körbe jetzt nicht obsolet werden.

Zu häufig mischt sich Brüssel noch unnötigerweise in die Belange vor Ort ein.

Grundsätzlich harrt das von Jean-Claude Juncker in seinem Europawahlkampf 2014 ausgegebene Motto, wonach Europa „groß im Großen und klein im Kleinen“ sein soll, seiner praktischen Umsetzung. Zu häufig mischt sich Brüssel noch unnötigerweise in die Belange vor Ort ein, beim Freiwilli­gendienst ebenso wie bei der kommunalen Daseinsvorsorge oder den Christbaum­kerzen. Die Balance zu finden zwischen einem Europa, das mehr ist als eine Frei­handelszone und doch legislativ nicht übersteuert, das eine Solidargemeinschaft ist und doch nicht in eine Transferunion mit gemeinsamer Schuldenhaftung und starker Sozialmigration einmündet, diese Balance wird für Deutschland ohne Großbritan­nien noch schwerer zu finden sein.

Deutschland darf nicht zulassen, dass man in Brüssel aus Rache die widerspenstigen Briten „bestrafen“ will, die man nicht selten als Integrationshindernis wahrgenommen hat. Vielmehr muss man faire Verhand­lungen führen im Bewusstsein, dass Großbritannien ein strategischer Partner ist, der schon immer in einem Sonderverhältnis zu Kontinentaleuropa stand. Man be­müht jetzt gerne das Schweizer oder das norwegische Modell als Blaupause für die künftigen Beziehungen zu Großbritannien. Doch Großbritannien ist ein Sonderfall, es ist im deutschen wie europäischen Interesse, dafür auch Sonderregelungen ein­zugehen. Deutschland sollte dafür werben.

Das UK-Referendum ist ein Warn­schuss.

Das britische Votum lässt viele Entwicklungen unbeantwortet. Die Einsicht in Brüssel ist groß, dass man kaum Druckmöglichkeiten auf London hat. Man kann London nicht daran hindern, bis zum Vollzug des Austritts seine EU-Rechte auszu­üben. Das beinhaltet auch die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft vom 1. Juli bis 31. Dezember 2017. Auch damit wird Europa leben können, wenngleich der Rat als Korrektiv zu Kommission und Parlament in dieser spezifischen Lage von den nationalen Regierungen weniger nachgefragt werden dürfte. Wenn es so kommt, wird Europa aber auch diese Periode überstehen. Das UK-Referendum ist ein Warn­schuss, er läutet eine kritische Reflexionsphase über den Zustand der EU ein. „Business as usual“ wäre die falsche Konsequenz. Hinter dem Votum zeigt sich weit verbreitete Zukunftsangst vor den Umbrüchen heute, vor Digitalisierung, Globalisie­rung und ungesteuerter Migration. Europa muss Antworten geben und sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren. Das britische Votum schafft dazu die beste Vorausset­zung.

Zum Autor:

Christian Forstner ist Leiter der Verbindungsstelle der Hanns-Seidel-Stiftung in Brüssel.