Nur drei Tage nach der dramatischen Brexit-Entscheidung droht der Europäischen Union der nächste Schadensfall: Die Parlamentswahl in Spanien am kommenden Sonntag. Das Ergebnis wird für das übrige Europa auch wichtig werden, nicht so wichtig wie das Brexit-Votum, aber wichtig. Vor allem für die Eurozone. Und die Zeichen stehen nicht gut: Wenn es keine Überraschung gibt, dann geht es am Sonntag in Spanien nur um die Entscheidung zwischen politischer Stagnation oder gefährlichem wirtschaftlichen Rückschritt. Die Eurokrise könnte zurückkehren – in Spanien, in der viertgrößten Wirtschaft der Eurozone.
An die Stelle des 40 Jahre alten Zwei-Parteiensystems ist eine Viererrunde getreten, ohne Mehrheit und ohne Fähigkeit zum Kompromiss.
Aber der Reihe nach. Es ist nicht zu sehen, wie Spaniens erste vorgezogene Parlamentswahl – nur sechs Monate nach der Wahl im Dezember – die politische Blockade auflösen soll. 40 Jahre lang hatten konservative Volkspartei und Sozialisten den alleinigen Zugriff auf die Macht in Madrid. Aber im vergangenen Jahr, im Gefolge von Wirtschaftskrise, Bankenkrach, Eurokrise, schier endlosen Korruptionsskandalen bei Volkspartei und Sozialisten und andauernder Volkswut gegen all dies zusammen, kamen fast aus dem nichts zwei neue Protestparteien hinzu: die linkspopulistische Podemos und die liberale Ciudadanos.
Politische Blockade in Madrid
Wo sich zuvor zwei Parteien in die Macht teilten, blockieren sich seit der Wahl vom vergangenen Dezember vier: Mit 28,7 Prozent der Stimmen und 123 von 350 Mandaten blieb zwar die Volkspartei (PP) von Premierminister Mariano Rajoy stärkste Fraktion – aber von der Regierungsmehrheit weit entfernt. Die Sozialisten hielten mit 22 Prozent und 90 Mandaten knapp den zweiten Rang vor Podemos, die aus dem Stand 20,7 Prozent und 69 Mandate gewann. Die andere Neupartei, Ciudadanos, errang, ebenfalls aus dem Stand, 13,9 Prozent der Stimmen und 40 Parlamentssitze.
Nach 40 Jahren erbittertem Gegeneinander und Lagerdenken ist eine Große Koalition zwischen Volkspartei und Sozialisten kaum möglich.
Rechnerisch hätten PP und Sozialisten eine Koalitionsregierung mit knapper absoluter Mehrheit bilden können. Aber nach 40 Jahren erbittertem Gegeneinander und bei alten offenen Rechnungen aus der Zeit der Franko-Diktatur unmöglich. Rajoy hätte zudem in der PP Platz machen müssen für einen neuen jüngeren Parteichef und Premier − auch das unmöglich, jedenfalls in der PP.
Erklärtes Ziel der Podemus-Populisten ist es, die stärkste linke Kraft im Lande zu werden und die Sozialisten zu verdrängen.
Auch Sozialisten und Podemos konnten nicht zusammenfinden: Erklärtes Ziel der Podemus-Populisten ist es, die stärkste linke Kraft im Lande zu werden und die Sozialisten zu verdrängen. Gleich zwei Mal hat Podemos-Chef Pablo Iglesias verhindert, dass der sozialistische Spitzenkandidat, Pedro Sanchez, zum Regierungschef ernannt wurde. Eine Minderheitsregierung aus Sozialisten und den verträglicheren Ciudadanos-Liberalen fand im Parlament keine Zustimmung.
Im Linken Lager – Sozialisten, Podemos und Ciudadanos – gibt es vor der Wahl nur eine Übereinstimmung: gegen die PP und gegen Premier Rajoy.
Nirgendwo eine Mehrheit in Sicht, Koalitionsbildung unmöglich. Allen Prognosen zufolge wird sich daran auch am Sonntagabend nichts ändern. „Herr Rajoy kann es sich gleich sparen uns Angebote zu machen“, tönte noch im April, schon im Wahlkampf, der Sprecher der Sozialisten. Parteichef Sanchez hat noch kurz vor der Wahl eine große Koalition entschieden ausgeschlossen. Im Linken Lager – Sozialisten, Podemos und Ciudadanos – gibt es vor der Wahl nur eine Übereinstimmung: gegen die PP und gegen Premier Rajoy. Podemos hat sich kürzlich mit der kommunistischen Vereinigten Linken zusammen getan, um so zweitstärkste Fraktion zu werden. Was ihm am Sonntag sogar gelingen könnte, aber eben ein Zusammengehen mit den Sozialisten – und erst recht mit den Liberalen – unmöglich macht.
Rajoys Aufschwung in Gefahr
Wenn es bei der Blockade bleibt, gerät Spaniens heikle Wirtschaft in Gefahr. Wenn sie sich doch noch auflöst und eine Linksregierung übernimmt, könnte es noch schlimmer werden. Dabei gab es Grund zur Hoffnung: Mit 3,2 Prozent Wirtschaftswachstum gehörte Spanien im vergangenen Jahr zu den europäischen Spitzenreitern. Für 2016 wird – noch – mit einem Plus von 2,7 Prozent gerechnet. Die Industrieproduktion hat im vergangenen Jahr um 8,9 Prozent zugelegt. Das Land verzeichnet einen regelrechten Exportboom und erwirtschaftet schon mehr als ein Drittel seiner Wirtschaftsleistung mit Ausfuhren – 2009, zu Beginn der Krise, waren es noch 27 Prozent.
Rajoys Arbeitsmarktreform − sinkende Löhne und flexiblere Tarifverträge − hat die Wettbewerbsfähigkeit der spanischen Wirtschaft erhöht und das Exportgeschäft deutlich angeschoben.
Den schönen Aufschwung verdankt Spanien der von der Linken erbittert bekämpften Sparpolitik von Premier Rajoy und vor allem seiner Arbeitsmarktreform: Sinkende Löhne und flexiblere Tarifverträge haben die Wettbewerbsfähigkeit der spanischen Wirtschaft erhöht und das Exportgeschäft deutlich angeschoben. Podemos will Rajoys erfolgreiche Arbeitsmarktreform stoppen und abwickeln und die Staatsausgaben um eine hoch zweistellige Milliardensumme erhöhen. Die spanischen Linkspopulisten stehen der linksradikalen griechischen Syriza-Partei und deren Premier Alexis Tsipras demonstrativ nahe und klingen auch so: Podemos-Chef Iglesias erklärt alle Sparpolitik für gescheitert und fabuliert von einem neuen Modell für Europa. Beobachter sehen denn auch für den Fall einer Regierung unter Podemos-Beteiligung ein griechisches Desaster auf Spanien zurollen.
Noch tief in der Gefahrenzone: Haushaltsdefizit, Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit
Zumal Spanien trotz Wachstum und Exportboom noch lange nicht aus der Gefahrenzone heraus ist. Der EU hatte Madrid versprochen, das Haushaltsdefizit im Jahr 2015 auf 4,2 Prozent zurückzuführen (2001: 9 Prozent). Aber im Superwahljahr 2015 – Kommunalwahlen, Regionalwahlen Parlamentswahlen – hat auch Rajoy die Sparpolitik nicht durchgehalten und reichlich Wahlgeschenke verteilt: Einkommenssteuern gesenkt, Renten und Staatsbezüge erhöht. Ergebnis: Das Haushaltsdefizit belief sich Ende 2015 nicht auf 4,2, sondern auf 5,2 Prozent. Um 2016 doch noch auf die mit Brüssel ausgehandelten 2,8 Prozent zu kommen, hätte Madrid dieses Jahr 20 Milliarden Euro einsparen müssen. Inzwischen hat Brüssel Madrid mehr Zeit für das 2,8-Prozent-Ziel gegeben. Was 2016 aber immer noch Einsparungen von 8 Milliarden Euro nötig macht. Die neue Regierung muss dafür erst einmal die Kraft mobilisieren. Aber am Sparkurs führt kein Weg vorbei: Spaniens Staatschulden belaufen sich auf bedrohliche 100 Prozent der Wirtschaftskraft.
Seit Jahrzehnten verlassen 20 Prozent oder mehr Spanier eines jeden Jahrgangs die Schulen ohne Abschluss, um in Tourismus oder Baugewerbe einfaches Geld zu verdienen.
Ein Problem am Wahltag wird sein, dass Rajoys bitter erarbeiteter Aufschwung eben noch kaum bei den Wählern angekommen ist. Die Arbeitslosigkeit ist seit 2013 zwar vom Höchststand von 27 Prozent gesunken – auf immer noch erschreckende 21 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei katastrophalen 46 Prozent. Besserung ist mühsam: Weit über 90 Prozent aller spanischen Betriebe sind mittelgroße Unternehmen mit maximal 250 Mitarbeiter, und die Hälfte davon sind Kleinstbetriebe mit weniger als zehn Angestellten. Seit Jahrzehnten verlassen 20 Prozent oder mehr Spanier eines jeden Jahrgangs die Schulen ohne Abschluss, um in Tourismus oder Baugewerbe einfaches Geld zu verdienen. So arbeiteten 2007 in Spaniens Bausektor 32 Prozent Schulabbrecher und 2012 noch 27 Prozent. Vor dem großen Crash 2008 und vor dem Platzen der spanischen Immobilien-Blase 2011 hat das funktioniert. Aber jetzt ringt Spanien fast schon um eine verlorene Generation. „Es sind viele junge Leute, die eigentlich nur Steine klopfen gelernt haben, auf der Strecke geblieben”, so Spaniens Bildungsminister José Ignacio Wert 2012 im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Da fällt Umkehr schwer. Hoffnung bietet nur Rajoys bitterer Reformkurs und weiteres Wachstum. Aber beides ist am spanischen Wahlsonntag in Gefahr. Was dann teure Folgen haben kann für die Eurozone. Kommt zum Brexit nun die Neuauflage der Spanien-Krise?