Bayernkurier: Herr Botschafter, unser Sicherheitsthema Nummer Eins liegt auf der Hand: der Dschihad ist nach Europa gekommen. Und die Terror-Gefahr wird immer größer. Welche Rolle wird das Thema auf der 51. Münchner Sicherheitskonferenz spielen?
Wolfgang Ischinger: Die Sicherheitskonferenz wird vor allem von den zwei großen Krisen bestimmt werden. Das ist neben der Eskalation der Gewalt in der Ukraine eben die Bedrohung durch den Dschihadismus. Der Londoner Professor Peter Neumann hat für unseren Munich Security Report erschreckende Zahlen zusammengestellt. Allein aus Deutschland sind mittlerweile 500-600 Dschihadisten nach Irak beziehungsweise Syrien gereist. Radikalisiert und kampferprobt kommen einige von ihnen zurück nach Europa. Diese Gefahr ist nicht zu unterschätzen.
Bayernkurier: Der sogenannte Arabische Frühling hat sich als europäische Illusion erwiesen. Statt beginnender Demokratie fast überall Staatszerfall, Anarchie, religiöse Raserei und uferlose Gewalt − vielleicht mit der Ausnahme Tunesiens. Welchen Einfluss kann Europa, kann der Westen auf diese Entwicklung noch nehmen?
Ischinger: Auch in Europa ist die Demokratie nicht über Nacht entstanden. Wahrscheinlich wird man auch erst in Jahrzehnten wirklich beurteilen können, ob der Arabische Frühling wirklich nur ein kleiner Moment des Aufbruchs war oder eben doch der Anstoß zu einem länger andauernden Modernisierungsprozess. Immerhin haben auch einige Monarchen mit moderaten Reformen begonnen. Auch das ist ja eine erfreuliche Folge des Arabischen Frühlings. Und natürlich sollten wir ein großes Interesse daran haben, dass Tunesien ein Beispiel für andere Länder werden kann. Dazu gehört vor allem wirtschaftliche Unterstützung. Europäische Investitionen haben in der Zeit des Übergangs deutlich nachgelassen. Aber nichts braucht das Land mehr als eine wirtschaftliche Perspektive. Es würde auch helfen, wenn wieder mehr Deutsche in den Urlaub nach Tunesien führen.
Bayernkurier: Ist es für uns nicht allmählich wichtiger, uns selber vor den Folgen der chaotischen Neuordnung in der arabischen Welt, in Nordafrika oder in der Sahelzone zu schützen?
Ischinger: Die beste Art, uns selbst zu schützen, ist eine proaktive Außenpolitik, die mithilft, die Konflikte vor Ort zu lösen. Wir können uns nicht erst mit Problemen auseinandersetzen, wenn sie bei uns ankommen. Und uns selbst abkapseln können und dürfen wir nicht. Im Jahr 2014 allein sind Tausende von Menschen im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken – das ist doch unerträglich und darf uns nicht kalt lassen.
Uns selbst abkapseln können und dürfen wir nicht.
Wolfgang Ischinger
Bayernkurier: Erlauben Sie eine besorgte Historiker-Frage: „Zurück zum Text, zum Evangelium“ – das war das Kernanliegen Martin Luthers und der Reformation vor fast 500 Jahren. „Zurück zum Text, zum Koran“ wollen jetzt Islamisten, Muslimbrüder, Salafisten, Wahabiten, Dschihadisten – müssen wir befürchten, dass der Islamismus die Reformation des Islam ist, auf die der Westen so hofft?
Ischinger: Das glaube ich nicht. Auch im Islam gibt es viele progressive Stimmen, die hoffentlich lauter werden, um sich klar von den Schreckenstaten der Dschihadisten zu distanzieren.
Bayernkurier: Religiöser Hass wie vor 1000 Jahren, Ablehnung grundsätzlicher Freiheitsrechte nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch in Russland oder China – Henry Kissinger warnt vor einer „Welt zunehmend gegensätzlicher Realitäten“. Das klingt bedrohlich. Wie sollen sich die Europäer da verhalten?
Ischinger: Kissinger hat recht, dass es heute Akteure gibt, mit denen man sich nicht auf eine für alle annehmbare internationale Ordnung einigen kann. Beim Wiener Kongress gab es Interessensunterschiede, aber eben auch das gemeinsame Interesse an einem Mächtegleichgewicht. Der so genannte Islamische Staat will ja eigentlich gar kein Staat sein, der sich in eine Ordnung einfügt. Er will die Überwindung jeder Ordnung. Hier müssen wir mit den Regierungen in der Region zusammenarbeiten, die sich bemühen, den sogenannten Islamischen Staat zu bekämpfen und hoffentlich bald zu beenden.
Bayernkurier: Auch im Osten Europas brennt es. Die Ukrainer wollen keine russische Zukunft, sondern eine europäische Perspektive. Dürfen sie das? Was können die Europäer hier tun?
Ischinger: Natürlich dürfen sie das! Und im Gegenzug gilt: Wir dürfen ihnen diese europäische Zukunft nicht verweigern – ganz so, wie wir auch Russland die Tür nach Westen offen halten sollten, auch wenn Russland derzeit diese Tür nicht durchschreiten will. Eine andere Frage ist es, ob man nun eine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine thematisiert. Das halte ich für falsch, ja kontraproduktiv, weil die Voraussetzungen dafür fehlen. Aber es bleibt dabei, dass jedes Land in Europa selbst darüber entscheiden darf, wohin es gehören möchte. Gleichzeitig hat die Regierung in Kiew natürlich auch eine Bringschuld: Korruption und Vetternwirtschaft muss entschieden bekämpft, Staat und Wirtschaft reformiert werden. Es passiert da Einiges in Kiew, obwohl es sehr schwer ist, ein schmerzhaftes Reformprogramm durchzusetzen, während in einem Teil des Landes Krieg herrscht.
Die Sanktionen beginnen zu wirken.
Wolfgang Ischinger
Bayernkurier: Vor allem weil Europa derzeit so schwach und mit sich selbst beschäftigt ist, habe Putin es gewagt, in der Ukraine auf Konfrontationskurs mit dem Westen zu gehen, meint der US-Außenpolitik-Experte Walter Russel Mead. Hat er recht?
Ischinger: Ist Europa denn wirklich schwach? Ich würde eher sagen, dass Europa gezeigt hat, wie stark es sein kann, wenn es darauf ankommt. Die Sanktionen haben die Europäer einstimmig beschlossen und mehrfach verschärft. Und die Sanktionen beginnen zu wirken. Schauen Sie sich die Entwicklung des Rubels oder der russischen Kreditwürdigkeit an. Putin hat sich verkalkuliert.
Bayernkurier: Wie geht der Konflikt zwischen Moskau und Kiew weiter?
Ischinger: Das hängt vor allem von Moskau ab. Die westlichen Sanktionen sollen die Kosten für die russische Politik in die Höhe treiben und Anreize für eine konstruktivere Politik geben. Aber ändern kann die russische Politik nur die russische Regierung selbst.
Bayernkurier: Die britische Wochenzeitung The Economist schrieb im Dezember von der „überfälligen Implosion der Kleptokratie Wladimir Putins“. Wenn es so kommt, wäre das dann nach Gorbatschow die zweite Regime-Implosion in Moskau. Können wir sicher sein, dass sie so friedlich abläuft wie die erste?
Ischinger: Nein, überhaupt nicht. Aber wir tun gut daran, nicht über regime change zu reden. Darum geht es ja auch bei den Sanktionen überhaupt nicht – auch wenn das in Moskau von einigen behauptet wird. Was richtig ist: Das russische System ist gegenwärtig kaum darauf ausgerichtet, eine moderne Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen. Im Gegenteil dreht man in Moskau die Zeit zurück. Davon haben nur wenige Russen etwas: korrupte Eliten und am vergangenen Glanz der Sowjetunion hängende Patrioten.
Wir haben seit Jahren vor dem Abbau militärischer Fähigkeiten gewarnt.
Wolfgang Ischinger
Bayernkurier: Wohl die wichtigste Grundlage der Sicherheit ist eigene − auch militärische − Stärke. Aber die Europäer haben das in den vergangenen zwanzig Jahren sehr vernachlässigt. War das klug? Müssen wir hier korrigieren?
Ischinger: Bei der Münchner Sicherheitskonferenz wird seit Jahren vor dem Abbau militärischer Kernfähigkeiten gewarnt. Der Munich Security Report enthält dazu die neuesten Zahlen des Londoner International Institute for Strategic Studies. Eine reale Aufstockung der europäischen Verteidigungshaushalte wird es wohl nur in wenigen Ländern geben. Aber wichtig ist, dass die Europäer stärker zusammenarbeiten. In Deutschland haben sich ja schon viele für das Ziel einer europäischen Armee ausgesprochen. Als ersten Schritt geht es um „Pooling and Sharing“. Also eine gemeinsame Beschaffung, Ausbildung, Ausrüstung, und anderes mehr zum effizienteren Ressourceneinsatz. Damit wäre viel gewonnen. Ich glaube, dass dies auch eine gute Gelegenheit für Deutschland ist, hier eine Vorreiterfunktion in Europa zu übernehmen.
Bayernkurier: Deutschlands Rolle in der internationalen Sicherheitspolitik wird wichtiger – vielleicht auch weil Europa so geschwächt da steht. Welchen Rat geben Sie der Berliner Politik für das Jahr 2015?
Ischinger: Die Bundesregierung übernimmt Führungsverantwortung, tritt auf als ein Motor der EU und ist bedacht, die verschiedenen europäischen Positionen zusammenzuhalten. Das trägt dazu bei, dass Europa Geschlossenheit zeigt. Wenn wir die gemeinsame europäische Außenpolitik voranbringen, ist auch dem deutschen Interesse gedient.