Unsichtbarer Gipfel-Gast: Peking
Tokio wird in Ise-Shima über das große Sicherheitsthema in Nordostasien sprechen wollen: den Aufstieg Chinas, das bedenkenlos den Status quo in der Region einseitig in Frage stellt. Beim Thema Ukraine steht die G7-Solidarität – was Japan nicht hindert, mit Russland eine eigene Agenda zu verfolgen. Für die Belebung der Weltwirtschaft wünscht sich Tokio Konjunkturpakete – wahrscheinlich vergeblich.
G7-Gipfel in Ise-Shima

Unsichtbarer Gipfel-Gast: Peking

Tokio wird in Ise-Shima über das große Sicherheitsthema in Nordostasien sprechen wollen: den Aufstieg Chinas, das bedenkenlos den Status quo in der Region einseitig in Frage stellt. Beim Thema Ukraine steht die G7-Solidarität – was Japan nicht hindert, mit Russland eine eigene Agenda zu verfolgen. Für die Belebung der Weltwirtschaft wünscht sich Tokio Konjunkturpakete – wahrscheinlich vergeblich.

Die Halbinsel Ise-Shima, am Ostufer der großen Hauptinsel Honschu gelegen, ist für Japaner ein besonderer Ort: Hier, im heutigen Ise-Shima Nationalpark, steht seit 1300 Jahren der wichtigste Shinto-Schrein. Der Brauch will es, dass der Ise-Jingu-Schrein, wie die Brücke, die zu ihm führt, alle 20 Jahre aus wertvollem Zypressen-Holz neu gebaut wird. Er  ist einer Sonnengottheit gewidmet, auf die sich einst das japanische Geisterhaus zurückführte. Noch immer kommt der höchste Priester des Schreins aus dem Kaiserhaus.

In Ise-Shima rückt jüngere Geschichte weiter zurück

Wer japanische Bilderbuchlandschaft sucht, wird sie in Ise-Shima wohl finden: Nationalpark, Küstenlandschaft mit Buchten und kleinen und großen Inseln. „Es ist das perfekte Beispiel unseres Kernlandes, abseits der hektischen Großstädte Städte, ein Ort, der vielen von uns viel bedeutet“, so beschreibt es Japans Premierminister Shinzo Abe in einer Video-Grußbotschaft zum G7-Gipfel auf der idyllischen Halbinsel.

Barack Obama besucht Hiroshima, Shinzo Abe später im Jahr Pearl Harbour

Zwei Tage lang ist nun Ise-Shima DER Ort hoher Politik. Natürlich hat ihn der japanische Premier nicht nur der Idylle halber ausgesucht. Mit dem Gipfel auf der Halbinsel der Shinto-Shreine erhalte der Shintoismus ein bedeutsames Stück internationaler Respektabilität, analysiert die Londoner Wochenzeitung The Economist. Japan befreit sich von einem Stück Geschichtslast und findet zu Normalität zurück. Ähnliche Wirkung hat der Besuch des amerikanischen Präsidenten Barack Obama in Hiroshima: Zum ersten Mal besucht mit ihm ein US-Präsident den Ort des Abwurfs der ersten Atombombe – und einer aktuellen Umfrage zufolge begrüßen neun Zehntel der Japaner seinen Besuch dort. Eine amerikanische Entschuldigung werden sie nicht zu hören bekommen, das hatte Washington vorher klar gestellt. Eine Voraussetzung für den Obama-Besuch soll dagegen im vergangenen Dezember die japanisch-südkoreanische Einigung über das düstere Thema der koreanischen Trostfrauen gewesen sein. Es könnte sogar sein, dass bis Ende des Jahres Premierminister Abe Pearl Harbour besucht, den Ort, wo ein ganz anderes Japan 1941 begann, was dann zu Hiroshima führte. Mehr denn je bemühen sich die am Pazifikkrieg Beteiligten um Normalität in ihren Beziehungen.

Unsichtbarer Gast beim G7-Gipfel: China

Die Ausnahme ist China, das irgendwie immer mürrisch-misstrauisch dabei ist, wenn es um Japan, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts und Politik in der ganzen großen nordostasiatischen Region geht. Zum Gipfel in Ise-Shima geladen ist Peking nicht. Trotzdem werden die Chinesen immer sozusagen mit am Tisch setzen. Eigentlich wollen G7-Gipfel ein Treffen der wirtschaftlich führenden Demokratien sein, und es soll vor allem um Wirtschaftsfragen gehen. Aber dieses Mal steht die Politik im Vordergrund – auch wenn sie, das ist der G7-Tradition geschuldet, auf Platz zwei der Agenda steht. Der Grund dafür ist China.

Peking stellt einseitig den Status quo im Ostchinesischen Meer und in der Südchinesischen See in Frage und erklärt internationale Schiedssprüche schon im vorhinein für null und nichtig.

Die Japaner wollen den Gipfel in Ise-Shima nutzen, um beim Blick auf die Wellen des Pazifischen Ozean über die sicherheitspolitische Lage in ihrer eigenen ostasiatischen Region zu reden, etwa über „maritime Sicherheit“. Wahrscheinlich werden die sieben Staats- und Regierungschefs am Schluss eine Erklärung vorlegen, die alle einseitigen Versuche, den Status quo mit Druck oder Gewalt zu ändern, als Herausforderung der internationalen Ordnung verurteilt und die darum eben nicht hingenommen werden dürfe. Gemeint ist damit China, das im Ostchinesischen Meer Flugsicherheitszonen über die japanischen Senkaku-Inseln ausdehnt, oder in der Südchinesischen See künstliche Inseln aufschüttet, die es dann mit Hafenanlagen und Landepisten versieht, um seinem Anspruch auf praktisch das ganze riesige Seegebiet militärischen Nachdruck zu verleihen. China droht und erklärt internationale Schiedssprüche schon im vorhinein für „null und nichtig“.

Alte Gegner in der Region kommen sich näher: Ausgerechnet Vietnam ist mit Blick auf chinesische Ansprüche an massiver US-Präsenz in der Südchinesischen See gelegen; Washington hat gerade das Waffenembargo gegen Vietnam aufgehoben.

Japan und die USA wollen dem etwas entgegensetzen und werden in Ise-Shima die Bedeutung der Herrschaft des Rechts und friedlicher Streitlösung betonen. Tokio hat darum die von chinesischer Großmachtpolitik ebenfalls massiv betroffenen Regierungschefs aus Indonesien und Vietnam zum Gipfel in Ise-Shima geladen. Man kommt sich näher: Ausgerechnet Vietnam etwa ist mit Blick auf chinesische Ansprüche sehr an fortgesetzter und massiver US-Präsenz in der Südchinesischen See gelegen; Washington hat gerade das Waffenembargo gegen Vietnam aufgehoben. Auch hier gilt: Angesichts neuer Gefahren rücken alte Gegensätze in historische Ferne. Neue Normalität zieht ein.

Peking will den politischen Status quo auf der geteilten koreanischen Halbinsel unbedingt erhalten und fürchtet darum vor allem eines: den Kollaps des nordkoreanischen Regimes.

Um China geht es auch, wenn vom nuklearen regionalen Störenfried Nordkorea die Rede ist. Pjöngjang schwingt sich zur Atommacht auf und provoziert mit Atombomben- und Raketentest – und China, von dem Nordkorea wenigstens wirtschaftlich völlig abhängig ist, lässt es geschehen. Peking will den politischen Status quo auf der geteilten koreanischen Halbinsel unbedingt erhalten und fürchtet darum vor allem eines: den Kollaps des nordkoreanischen Regimes. Das Nordkorea-Problem trennt paradoxerweise auch die beiden US-Verbündeten Japan und Südkorea: Weil Seoul weiß, dass es am Tag X des Endes des Regimes in Pjöngjang vor allem China braucht, lässt es sich auf allzu enge Kooperation mit Japan lieber nicht ein. Die gemeinsame Front gegen chinesische Hegemonieansprüche in der Region wird dadurch nicht einfacher.

Japans ganz eigene Agenda mit Russland

Auch wenn es um ganz ferne Dinge geht, etwa um die Ukraine, denkt man in Tokio an China und die nordostasiatische Region. Auf der Tagesordnung von Ise-Shima betont Japan die G7-Solidarität in der Ukraine-Krise. Denn auf dem Spiel steht eben jener Grundsatz, dass internationaler Status quo nicht einseitig und erst recht nicht mit Waffengewalt verändert werden darf – wie in der Südchinesischen See. Wie die Europäer und die USA pocht auch Japan darauf, dass die Bedingungen des Minsker Waffenstillstandsabkommens eingehalten werden – von Moskau wie von Kiew.

Tokio und Moskau nehmen die Verhandlungen über einen Friedensvertrag wieder auf.

Was Tokio nicht daran hindert, mit Moskau eine ganz eigene Agenda zu verfolgen. So stattete Premierminister Abe nach seinem Deutschlandbesuch am 4. Mai auf dem Rückflug auch Russlands Präsident Wladimir Putin in Sotschi einen „inoffiziell“ genannten Besuch ab. Ganz am Ende des Zweiten Weltkrieges, am 8. August 1945, ist auch Russland in den Krieg gegen Japan eingetreten. Einen Friedensvertrag gibt es noch nicht. Streit um zwei südliche Kurilen-Inseln und zwei weitere Inseln in unmittelbarer Nähe Japans, die Russland 1945 besetzte und dann annektierte, steht dem im Wege. Im Juni soll in Tokio eine nächste japanisch-russische Verhandlungsrunde beginnen über einen Friedensvertrag und jene „nördlichen Territorien“, wie Japan die vier Inseln nennt. Wer sagt, zwischen Moskau und Tokio gehe es um einen historischen Neuanfang, liegt nicht falsch: Ein Vertrag über die Kurilen-Inseln war 1855 der allererste Vertrag zwischen Japan und Russland überhaupt.

Abes Acht-Punkte-Plan über Zusammenarbeit mit Russland

Ob Moskau nun auf die vier Inseln verzichtet? Die Kurilen-Inseln sind strategisch bedeutsam. Sie öffnen – oder verschließen – der russischen Flotte den Zugang zum Pazifik. Aber die Gelegenheit ist günstig: Abe hat Putin in Sotschi einen acht Punkte langen Plan für vor allem wirtschaftliche Zusammenarbeit vorgelegt mit lauter Dingen, die der russischen Wirtschaft wirklich gut täten – Ausdehnung der Zusammenarbeit mittelständischer und kleiner Unternehmen, Förderung der Diversifizierung und der Produktivität russischer Industrie, Entwicklung einer Grundlage für Industrie und Export im Fernen Osten, Zusammenarbeit bei Spitzentechnologien und im Bereich Energie. Einem offiziellen japanischen Bericht über das „japanisch-russische Gipfeltreffen“ zufolge, muss Putin regelrecht begeistert gewesen sein. Kein Wunder: Moskau ist isoliert und wirtschaftlich in Not und kann jede Hilfe brauchen. Tokio möchte den Russen eine Alternative zur ohnehin schwierigen Kooperation mit China aufzeigen. Die Vorbereitungen für einen Japan-Besuch Putins laufen. Auch das wurde in Sotschi bekräftigt.

Wiederbelebung der Weltwirtschaft

Für den wirtschaftlichen Teil des G7-Gipfels steht natürlich die Wiederbelebung der Weltwirtschaft im Vordergrund. Japanischen Quellen zufolge strebt Premierminister Abe in Ise-Shima eine „nachdrückliche Botschaft der G7 an“, die neben der Beschleunigung von Strukturreformen auch eine „dynamische Ausgabenpolitik“ fordert. Gemeint sind damit: zigmilliarden schwere Konjunkturpakete. Japans Wirtschaft ist im vergangenen Jahr nur um 0,5 Prozent gewachsen, und die Aussichten für 2016 sind kaum besser. Da wäre ein Konjunkturpaket schon recht. Aber bei einer Staatsverschuldung von nun 250 Prozent der Wirtschaftskraft – zum Vergleich: die Griechenlands liegt bei 180 Prozent – und einem Haushaltsdefizit von 6,2 Prozent dürfte Tokio am Ende seiner Mittel angelangt sein und sucht nach Hilfe.

Finanzminister Wolfgang Schäuble: Es gehe nicht darum, möglichst viel Geld auszugeben, sondern es gezielt und richtig zu investieren.

Beim Gespräch in Schloss Merseburg Anfang Mai hat Bundeskanzlerin Merkel jedoch den Kopf geschüttelt: Für sie selbst stehe eine dynamische Ausgabenpolitik nicht an erster Stelle; es sei wichtig Finanz- und Haushaltspolitik sowie Strukturreformen gleichzeitig voranzutreiben. Beim Vorbereitungstreffen der G7-Finanzminister erging es den Japanern nicht besser. Auch Washington und Paris haben mit je etwa 100 Prozent Staatsverschuldung keinen Spielraum mehr. Finanzminister Wolfang Schäuble brachte die deutsche Skepsis auf den Punkt: Es gehe nicht darum, möglichst viel Geld auszugeben, sondern es gezielt und richtig zu investieren. Tokio kann sich trösten: Mit 3,2 Prozent ist die Arbeitslosigkeit in Japan weit niedriger als bei allen anderen Gipfelteilnehmern; Japans Handelsbilanzüberschuss ist mit 3,8 Prozent immerhin halb so groß wie der deutsche, die Zinslast ist mit 0,11 Prozent die niedrigste überhaupt.

Japan drängt bei der Entwicklungshilfepolitik

Ise-Shima ist der erste G7-Gipfel seit Inkrafttreten der UN-Agenda für eine Nachhaltige Entwicklung – auch Agenda 2030 genannt – am 1. Januar 2016. Japan, das im August die Sechste Tokioer Konferenz über afrikanische Entwicklung durchführt, ist das Thema wichtig. Am zweiten Gipfel-Tag stehen darum unter anderem Afrika und Entwicklungspolitik auf der Agenda. Abe erhofft sich eine „pro-aktive Führung“ der G7 bei der Umsetzung der Agenda-2030-Ziele. Ein Schwerpunkt japanischer Entwicklungshilfepolitik ist der Aufbau von Infrastruktur. Als Gast zu den Gesprächen über Afrika hat Tokio den Präsidenten des Tschad, Idriss Déby, geladen. Eine gute Wahl:  Der Tschad ist so ziemlich das einzige stabile Land im derzeit höchst kritischen Zentrum der Sahelzone. Idriss Déby wird auch etwas beitragen können, wenn es um Terror und Terrorbekämpfung geht, etwa in seinen Nachbarländern Nigeria, Mali, oder Libyen. Frankreich, das in der Region um Stabilität ringt, setzt auf ihn.