Die britische Politik steht nach dem Brexit-Votum vor unruhigen Zeiten. (Bild: Fotolia / by-studio)
Großbritannien-Wahl

Das Vereinigte Königreich wird umgebaut

Nach David Camerons Wahlwunder steht Großbritannien vor der wichtigsten Legislaturperiode seit langer Zeit: Es geht um Schottland, um die Einheit und Verfassung des Vereinigten Königreichs und um seine Stellung in Europa und der Welt.

„Das ist der süßeste von allen Wahlsiegen“, die er seit 1987 erlebt habe, jubelte Premierminister David Cameron in jener langen, verrückten Wahlnacht im Tory-Hauptquartier. In der Tat: Cameron und seinen Konservativen ist der dramatischste Wahl-Schocker gelungen seit der Niederlage von Kriegspremier Winston S. Churchill 1945 (The Guardian). Gegen jede Erwartung hat er mit 36,9 Prozent und 331 Mandaten eine absolute Mehrheit eingefahren.
Jetzt dürfen – und müssen – Cameron und seine Tories allein regieren. Wie Margaret Thatcher, mit der viele den 49-jährigen Premier bald vergleichen werden. Denn Camerons zweite Amtszeit wird für das Land die wichtigste und folgenreichste werden seit langer Zeit. Für Großbritannien steht viel auf dem Spiel, eigentlich alles: die Wirtschaft, Schottland, die Union, die Verfassung des Königreichs und sein Platz in Europa und der Welt.

Als ob ein Wahl-Hinrichtungskommando eine ganze Generation von Labour-Führern liquidiert hätte

Was für Camerons Tories der süßeste Triumph ist für Labour der Absturz in die Finsternis, vielleicht für lange Zeit. In Schottland wurde Labour regelrecht ausgelöscht. Vom „Tsunami“ sprach der ehemalige Labour-Innenminister David Blunkett. Aber verloren hat die Partei die Wahl in England, wo es Labour nicht gelang, Konservativen und Liberalen Mandate abzujagen, beobachtet zutreffend die Neue Zürcher Zeitung. Mit 232 Parlamentssitzen bleiben Labour fast 100 Mandate weniger als den Tories.

Fünf Jahre lang hat Camerons Koalitionsregierung den Wählern einen bitteren Konsolidierungs- und Sparkurs auferlegt. Trotzdem wollten die sich jetzt auf den rigiden Linkskurs von Labour-Chef Ed Milibands nicht einlassen. Er ist inzwischen zurückgetreten. Wichtige Partei-Granden haben ihre Mandate verloren. „Es ist, als hätte ein Wahl-Hinrichtungskommando – „an electoral firing squad“ – eine ganze Generation von Labour-Führern liquidiert“, so ein fassungsloser Kommentator am Morgen nach der Wahl im BBC-Studio. Jetzt müsse sich die Partei erst einmal neu aufstellen, rät in der Tageszeitung The Guardian Ex-Premier Tony Blair: „Einen neuen Parteichef zu wählen, ist wichtig, aber nicht entfernt so wichtig, wie den Kurs zu bestimmen.“ Der Richtungsstreit zwischen doktrinären Labour-Linken und
Blairs New Labour ist denn auch schon in vollem Gange.

Noch schlimmer als Labour hat es nur Camerons bisherigen liberaldemokratischen Koalitionspartner getroffen. Die Partei von Vizepremier Nick Clegg schrumpfte von 56 auf ganze acht Mandate. Vom liberal-demokratischen „Gemetzel längs und quer im Vereinigten Königreich“, schreibt The ­Guardian.

Ohne Schottland ist Labour in Großbritannien zu dauernder struktureller Unterlegenheit verdammt

Camerons Wunder-Wahl hat Großbritanniens politische Landkarte völlig verändert. In Schottland hat die Schottische Nationalpartei (SNP) 56 von 59 Mandaten erobert und Schottland praktisch zum Ein-Parteien-Land gemacht. Eine Frucht des verlorenen Unabhängigkeitsreferendums vom vergangenen Jahr, das, wie sich jetzt zeigt, für die SNP eine einzige große Mobilisierungskampagne war.

Ohne Schottland, hieß es vor jenem Referendum am 18. September 2014 immer, sei Labour in Großbritannien zu dauernder struktureller Unterlegenheit verdammt. Dank des SNP-Erfolges ist genau diese Situation jetzt eingetreten – sogar ohne den Austritt Schottlands aus der Union. Die Tories haben keinen Grund zur Trauer über das Wahlergebnis in Schottland.

Was das den schottischen Wählern nutzt, muss sich zeigen. Denn mit 56 SNP-Abgeordneten haben sie in Westminster weniger Einfluss als mit Labour-Abgeordneten und keine Chance auf Beteiligung an der Regierungsmacht. SNP-Chefin Nicola Sturgeon ist dies und Camerons Triumph vielleicht ganz recht, überlegt die US-Nachrichtenagentur Bloomberg: „Die SNP kann in Westminster Protestpartei bleiben und zuhause Regierungspartei – für eine separatistische Partei ideal.“

Ihr braucht nicht Ukip zu wählen – wir sind selber Ukip

Die Briten sind am Morgen nach der Wahl nicht in einem, sondern in zwei neuen Ländern aufgewacht. Und wenig verbindet sie noch, meint die Londoner Tageszeitung The Independent. Denn auch Cameron führt inzwischen eine fast rein englische Partei (The Economist). Auch in den englischen Wahlkreisen hat nationale Stimmung gewonnen – gegen die EU und gegen die Schotten, die für englischen Geschmack zu viele Sonderrechte erhalten. Als einzige der vier Nationen im Vereinigten Königreich hat ausgerechnet die größte, England, kein eigenes Parlament.

In England wächst der Unmut gegenüber Schottland, beobachtet die Wochenzeitung The Economist. Das lässt sich auch am Erfolg der United Kingdom Independence Party (Ukip) ablesen. Ukip hat zwar nur ein einziges Mandat gewonnen, ist aber mit 12,6 Prozent der Stimmen zur drittstärksten politischen Kraft in Großbritannien aufgestiegen. Vielsagend für die Stimmung in England – und unter vielen Tories – ist der Kniff, mit dem die Konservativen Ukip-Chef Nigel Farage den Sieg in seinem Wahlkreis Thanet South in Kent verbauten: Sie ließen eine ehemalige Ukip-Kandidatin gegen ihn antreten, die auch knapp gewann. „Ihr braucht nicht Ukip zu wählen, wir sind selber Ukip“, so die deutliche Botschaft an die Tory-Wähler. Sie ist angekommen. Labour, heißt das auch, ist sozusagen zwischen schottischem und englischem Nationalismus zerrieben worden.

David Cameron: „Englische Parlamentsvoten für englische Gesetze“

Jetzt muss Cameron den Nationalismus im Norden und im Süden bedienen. Das SNP-Ergebnis ist kein Mandat für die Trennung oder auch nur für ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Aber die Spannung zwischen Edinburgh und Westminster kann leicht weiter wachsen. Etwa wenn Cameron den Briten weitere Konsolidierungs- und Sparpolitik verschreibt, was er muss, wenn Großbritannien zu soliden Finanzen zurückkehren will. Nur: SNP-Chefin Nicola Sturgeon hat ihren schottischen Wählern das genaue Gegenteil versprochen.

Ihr SNP-Triumph enthält aber gewiss ein klares Mandat für mehr Dezentralisierung und noch mehr Autonomie. Genau das hat sich David Cameron auch vorgenommen. Schottland, sagte er nach seinem Gespräch mit der Queen, soll so schnell wie möglich „die stärkste delegierte Regierung in der Welt erhalten mit wichtigen Steuerbefugnissen“. Auch Wales und Nordirland sollen von Dezentralisierung profitieren. Und eben England: „Keine Verfassungsordnung wird vollständig sein, wenn sie nicht auch England mehr Fairness bietet“, so Cameron. „Englische Parlamentsvoten für englische Gesetze“, hatte er den Engländern nach dem schottischen Referendum im vergangenen September versprochen. In Großbritannien ist ein Verfassungsprozess in Gang gekommen, an dessen Ende „eine Art von Englischem Parlament“ stehen könnte und der Übergang zu einem „gänzlich föderalen System“, ahnt die Londoner Tageszeitung The Daily Telegraph. Ein neues Land, ein ganz anderes United Kingdom.

Wenn die Schotten gegen die Trennung von Europa stimmen und die Engländer dafür, dann ist der Riss im United Kingdom perfekt

Vor allem den englischen Wählern hat Cameron außerdem bis Ende 2017 ein „Rein-Raus-Referendum“ über die britische EU-Mitgliedschaft versprochen. Das soll jetzt um ein Jahr vorgezogen werden. Vorher will Cameron mit Brüssel einen neuen „deal“ für Großbritannien aushandeln und ihn dann den britischen Wählern vorlegen. Worum es dabei gehen soll, bleibt bislang vage. Genannt werden in London vor allem die strittigen Themen Zuwanderung, Sozialtourismus und Rückverlagerung von Zuständigkeiten an die nationalen Parlamente.

Wie das alles ausgeht – die Verhandlungen mit Brüssel und das EU-Referendum – ist offen. Aber für London hängen die europäische und die schottische Frage eng zusammen: Wenn beim EU-Referendum Schottland geschlossen gegen die Trennung von Europa stimmte und England mehrheitlich dafür, wäre der Riss im United Kingdom perfekt. Ein Votum gegen die EU „könnte darum nicht nur zum folgenschweren Bruch mit Europa führen, sondern zur Auflösung des United Kingdom“, warnt The Guardian. Das werden wahrscheinlich sogar die meisten englischen Wähler bedenken. Cameron selbst hat nach der Wahl wieder versprochen, „die verschiedenen Nationen unseres Vereinigten Königreiches zusammenbringen“. Er zumindest will sein Land in der Europäischen Union halten. Die Europäer sollten darauf vertrauen, dass er das ernst meint und darauf hoffen, dass ihm auch mit seinem „Rein-Raus-Referendum“ wieder das Wahlwunder gelingt.

Kaputtes Wahlsystem – aber es hat wieder seinen Zweck erfüllt

Wohl nicht lange anhalten wird dagegen die wieder aufgeflammte Debatte über das ungerechte britische Mehrheitswahlrecht – vom „kaputten Wahlsystem“ schreibt gar The Economist. Da ist etwas dran: Mit nur knapp 37 Prozent gewann Cameron jetzt eine absolute Mehrheit. Die SNP schickt mit 4,8 Prozent der britischen Wahlstimmen 56 Abgeordnete nach London, die Liberaldemokraten mit fast neun Prozent acht – Ukip mit fast 13 Prozent nur einen einzigen. Wer im Wahlkreis die meisten Stimmen erzielt, erhält das Mandat. Stichwahlen wie in Frankreich gibt es nicht. Das Verhältnis zwischen Stimmen und Mandaten im Unterhaus sei „jetzt fast Zufall“, argumentiert The Economist und plädiert dafür, diesem „krachenden Wahlsystem“ Elemente des Verhältniswahlrechts hinzuzufügen.

Ukip und die Liberaldemokraten sehen das schon lange genauso. Es wird ihnen nichts nutzen. Denn nicht nur die Tories, sondern eben auch Labour und die SNP profitieren vom reinen Mehrheitswahlrecht. Und trotz aller Ungerechtigkeit hat es sich jetzt wieder bewährt und just seinen Zweck erfüllt: Dem Land blieb erspart, was alle Auguren erwarteten – ein „hängendes Parlament“ und wochenlange Ungewissheit über Mehrheitsverhältnisse und Regierungsbildung.