Falsche Hoffnung in Idomeni
Auch wenn Bundeskanzlerin Merkel es anders wollte: Die Balkanroute ist faktisch dicht. Aber der Migrantenstrom über die Ägäis hält an. Die Migranten wollen nicht akzeptieren, dass die Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien unpassierbar geworden ist. Nicht zuletzt darum, weil sie auf ein Wunder hoffen. Denn die Bundeskanzlerin hat ihnen von Brüssel aus ein falsches Signal gesendet.
Migrantenkrise

Falsche Hoffnung in Idomeni

Auch wenn Bundeskanzlerin Merkel es anders wollte: Die Balkanroute ist faktisch dicht. Aber der Migrantenstrom über die Ägäis hält an. Die Migranten wollen nicht akzeptieren, dass die Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien unpassierbar geworden ist. Nicht zuletzt darum, weil sie auf ein Wunder hoffen. Denn die Bundeskanzlerin hat ihnen von Brüssel aus ein falsches Signal gesendet.

Dagegen kann Bundeskanzlerin Angela Merkel wenig machen: Die Balkanroute ist geschlossen, praktisch jedenfalls, und bleibt es auch. „Wir werden keinen Millimeter abweichen von unserer Position“, betonte in Wien Österreichs Innenministerin Johann Mikl-Leitner (ÖVP): „Das heißt, Mazedonien bleibt weiterhin zu.“ Österreich unterstützt Mazedonien in der Grenzfrage massiv.

Wiens entschlossene Führung

Vor dem jüngsten Brüsseler EU-Gipfel hatten Wien und die EU-Länder entlang der Balkanroute sowie offenbar eine ganze Reihe anderer Mitgliedsstaaten sich längst darauf geeinigt, einen sehr klaren Satz über die Schließung der Balkanroute in die Schlusserklärung zu schreiben: „Der irreguläre Strom von Migranten auf der Westbalkanroute kommt zu Ende. Diese Route ist jetzt geschlossen.“ Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) hatte nachdrücklich für die entschiedene Formulierung geworben: „Ich bin sehr dafür, mit klarer Sprache allen zu sagen: Wir werden alle Routen schließen, die Balkanroute auch.“ Sogar EU-Ratspräsident Donald Tusk wurde vor dem Gipfel sehr deutlich: „Wir werden die Westbalkanroute, das Haupteingangstor für Migranten, schließen.“ Das schien weitgehend EU-Konsens zu sein. Die EU-Regierungschefs, vor allem die von der Migrantenflut hauptsächlich Betroffenen, wollten ein weithin sicht- und hörbares Signal geben, um Migranten nah und fern klar zu machen: Die EU ist nicht mehr sperrangelweit offen, bleibt zuhause. Allein, mit einem Machtwort auf dem Gipfel hat Bundeskanzlerin Merkel es verhindert und genau das gegenteilige Signal ausgesandt: „Es kann nicht darum gehen, dass irgendetwas geschlossen wird.“

Wir werden keinen Millimeter abweichen von unserer Position. Das heißt Mazedonien bleibt weiterhin zu.

Österreichs Innenministerin Johann Mikl-Leitner (ÖVP)

Doch Merkel hat das Spiel verloren. Die Balkanroute bleibt zu. Mazedonien hält seine Grenze zu Griechenland geschlossen. Nur kleine dreistellige Zahlen von Syrern und Irakern, die ihre Herkunft zweifelsfrei dokumentieren können und ihr Land vor nicht mehr als drei Wochen verlassen haben, dürfen passieren – Flüchtlinge eben. Alle anderen werden zurückgewiesen. Österreich und seine südlichen Nachbarländer Slowenien und Kroatien sowie auch Serbien sind entschlossen, hart zu bleiben und Schleppern und Migranten auch Alternativrouten zu verwehren. Dies betonte wieder Mikl-Leitner: „Umso mehr ist es wichtig, dass wir hier Schulter an Schulter mit den Balkan-Staaten arbeiten im Kampf gegen die Schlepper.“ Die Balkanländer sind offenbar froh über Wiens klare Haltung und entschlossene Führung. Das kann man aus einer Äußerung des kroatischen Außenminister Miro Kovac heraushören, dessen Land Sicherheitskräfte zum Schutz der mazedonischen Grenze entsandt hat: „Die Koordination Kroatiens mit Österreich, Slowenien, Serbien und Mazedonien funktioniert gut und leistet einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der Flüchtlings- und Migrantenzahlen. Darauf dürfen wir in Kroatien ruhig stolz sein.“

Solange der deutsche Nachbar keine Zahl nennt, die er sich vorstellen kann, die er tatsächlich schaffen kann, bleibt das ein Hin- und Her-Geschiebe von Problemen zwischen nationalen Grenzen und Einzellösungen.

Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ)

Doch aus österreichischer Sicht bleibt das große Problem: Deutschland. Österreichs Bundeskanzler Faymann forderte darum von Berlin endlich die Nennung einer Asyl-Obergrenze, um den Migranten die Illusion zu nehmen und um den Zustrom eindämmen zu können. Faymann: „Solange der deutsche Nachbar keine Zahl nennt, die er sich vorstellen kann, die er tatsächlich schaffen kann, bleibt das ein Hin- und Her-Geschiebe von Problemen zwischen nationalen Grenzen und Einzellösungen.“ Faymann weiter: „Je klarer die Worte sind, umso hilfreicher ist es.“

Rückstau in Griechenland

Wie immer sich Berlin entscheidet, die Balkanroute wird sich für die Migranten nicht mehr öffnen. Das ist offenbar auch Athens Einschätzung. „Wir werden kein Transitland mehr sein“, ahnte Migrationsminister Ioannis Mouzalas schon vor einer Woche. Bei den Migranten allerdings ist die Botschaft noch nicht wirklich angekommen. Der Zustrom über die Ägäis hält an. Zwischen dem 1. Januar und dem 3. März hat die UN-Flüchtlingsagentur 128.735 aus der Türkei nach Griechenland strömende Migranten gezählt – fast so viele wie in der gesamten ersten Hälfte des vergangenen Jahres. Allein in der ersten Märzwoche kamen 9510 Migranten auf den Ägäis-Inseln an, mehr als im gesamten März des Vorjahres (7874). Jeden Tag kommen derzeit etwa 2000 Migranten über die Ägäis. Wenn das Wetter besser und die Ägäis wieder ruhiger wird, können die Zahlen schnell wachsen. Bei geschlossener Balkanroute stauen sich die Migranten nun in Griechenland. Zwischen 30.000 und 35.000 sollen sich schon im Lande aufhalten. In Athen rechnet man damit, dass schon bis zum Monatsende etwa 100.000 Migranten in Griechenland festsitzen könnten.

Das kann jetzt mal ausgehalten werden.

Innenminister Thomas de Maizière

Die Zahlen stellen Athen vor eine Herausforderung, allerdings eine selbst verschuldete. Eigentlich hätte Griechenland bis Ende 2015 mehrere Aufnahmezentren für insgesamt 50.000 Migranten bereitstellen sollen. Athen ist damit dramatisch im Rückstand. Jetzt sollen innerhalb einer Woche in Griechenland ein Dutzend Aufnahmezentren und 37.400 Plätze fertig werden. 20.000 weitere Unterkünfte soll die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR bereitstellen und sucht Berichten zufolge dafür nach billigen Hotels im Lande. Hilfe könnte Griechenland aus Brüssel erhalten. Die EU-Kommission hat für dieses und kommendes Jahr einen Notfonds über 700 Millionen Euro aufgelegt, der von der Migrantenkrise besonders betroffenen Ländern zur Verfügung stehen soll. Aber eben nicht nur Griechenland, notierte schon Österreichs Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP): Österreich habe 90.000 Flüchtlinge aufgenommen – „und wir müssen auch über die Runden kommen“. Unklar ist zudem, woher im schon heute unterfinanzierten EU-Haushalt das Geld überhaupt kommen soll.

In Athen rechnet man damit, dass schon bis zum Monatsende 100.000 Migranten in Griechenland festsitzen könnten.

Schelling hat recht. So hoch sind die griechischen Migrantenzahlen nicht. Ähnlich sieht es Innenminister Thomas de Maizière. Gemessen an der Bevölkerungszahl hätten Deutschland und Österreich im Jahr 2015 weit mehr Menschen aufgenommen als Griechenland, so der Minister: „Das kann jetzt mal ausgehalten werden.“ Griechenland müsse auch dazu gebracht werden, „seine Hausaufgaben zu machen“.

Angela Merkel sendet das falsche Zeichen

Heikel ist allerdings schon jetzt die Situation im und am kleinen 309 Einwohner (2011) großen nordgriechischen Dorf Idomeni an der mazedonischen Grenze. In einem völlig überfüllten wilden Lager campieren dort schon etwa 13.000 Migranten. In Camps weiter südlich sollen sich etwa 5000 Personen befinden. Alle warten auf eine Gelegenheit, nach Mazedonien weiterreisen zu können. Täglich werden es mehr. Zwar lässt Athen keine Migrantenbusse mehr nach Norden fahren. Aber Hunderte und Tausende Migranten, die täglich in Piräus oder Athen ankommen, lassen sich durch keine Nachricht und Belehrung aufhalten und ziehen weiter nach Norden.

Aber die Grenze ist zu und bleibt es auch. Doch die Migranten wollen das nicht begreifen. Vor allem nicht die Afghanen, die schon ein Drittel des Migrantenstroms ausmachen (Washington Post) und überhaupt keine Hoffnung auf ein Weiterkommen haben können. Denn die Mazedonier lassen grundsätzlich nur noch Syrer und Iraker durch und eben nur noch einige wenige.

Im Lager von Idomeni verbreitet sich die Nachricht, dass sich Merkel in  Brüssel dagegen gewehrt hat, die Balkanroute für geschlossen zu erklären.

Gegen alle Vernunft hoffen die Migranten in Idomeni auf ein Wunder – und auf Merkel. Die Bundeskanzlerin ist für sie zum Symbol und Garanten der offenen Grenzen geworden und der Einladung nach Deutschland und Europa. Viele haben sich nicht zuletzt mit der Hoffnung auf sie auf den Weg gemacht. „Ich liebe Angela Merkel“, sagt der 16 Jahre alte Afghane Ziaolhag Qamarzadah der Washington Post: „Sie hat uns Hoffnung gegeben.“ Und: „Ich weiß, dass Deutschland mir helfen wird.“ „Merkels berühmtes Versprechen, letztes Jahr, Deutschlands Grenzen offen zu halten, wurde von Leuten wie ihm als goldene Gelegenheit betrachtet“, gibt das US-Blatt einen 28-jährigen Bauarbeiter aus dem Iran wieder. Unter „Mama-Merkel“-Rufen schwenkten am Tag des Brüsseler Gipfels hunderte Migranten in Idomeni eine deutsche Fahne, berichtet die Presseagentur dpa. Der Gipfel hat den Migranten in Idomeni womöglich neue Hoffnung gemacht. Denn im Lager verbreitete sich die Nachricht, dass sich Merkel in  Brüssel dagegen gewehrt hat, die Balkanroute für geschlossen zu erklären. Die Menschen glauben das, was sie glauben wollen – und die Migranten in Idomeni erst recht. Bundeskanzlerin Merkel hat ihnen in Brüssel mal wieder das falsche Zeichen gegeben.

Ich liebe Angela Merkel. Sie hat uns Hoffnung gegeben. Ich weiß, dass Deutschland mir helfen wird.

16-jähriger Afghane in Idomeni

Unterdessen spitzt sich die Lage in Idomeni zu. Die Versorgung der Migranten ist schwierig, die sanitäre Situation im Camp prekär. Vergeblich fordern Helfer die Migranten auf, in frische, organisierte Lager umzuziehen, die die griechische Regierung weiter südlich eingerichtet hat. Die Migranten weigern sich, wollen nicht von der Grenze weg, warten auf ihr Wunder. Schon dringt Griechenlands stellvertretender Verteidigungsminister Dimitris Vitsas auf eine Entlastung des Lagers in Idomeni – was Beobachter als Ankündigung einer bevorstehenden Evakuierungsaktion verstehen.

Neue Migrationsrouten

Die Balkanroute bleibt dicht. Vorläufig. Österreich und die Westbalkanländer bereiten sich aber schon darauf vor, dass sich dann der Migrantenstrom andere Routen suchen wird: über Bulgarien, Rumänien und Ungarn, über Albanien, Montenegro und Bosnien oder über Albanien und die Adria nach Italien. Albaniens Regierungschef Edi Rama hat schon angekündigt, dass sich sein Land mit allen Mitteln dagegen wehren werde, zum neuen Transitland zu werden. In Bulgarien übten Armee und Polizei kürzlich an der Grenze zu Griechenland einen Einsatz gegen einen größeren Migrantenstrom. An der tschechisch-österreichischen Grenze führten an diesem Dienstag tschechische Polizisten und Zollbeamte eine Grenzschutzübung durch. Dabei wurde die Registrierung einer großen Zahl von Migranten geübt. „Wir stellen fest, ob jemand Asyl in Tschechien beantragen will, und wenn nicht, wird ihm der Zutritt auf das Staatsgebiet verweigert“, so ein Polizeiführer.

Ungarn kann Migranten verhaften und verurteilen – aber nicht ausweisen.

Die Lage bleibt schwierig. Das zeigt auch der Blick auf Ungarn. Jeden Tag versuchen wieder etwa 100 Migranten den ungarischen Grenzzaun zu überwinden. Die Ungarn, die ihre Grenzsicherung mit Hubschraubern, Drohnen und Wärmebildkameras massiv aufgerüstet haben, sind sicher, dass sie jeden Grenzverletzer doch erwischen. Weil illegaler Grenzübertritt in Ungarn inzwischen strafbar ist, werden aufgegriffene Migranten vor Gericht gestellt und in Schnellverfahren abgeurteilt – zu Landesverweis und Abschiebehaft. Problem: Weder das Nachbarland Serbien noch die Herkunftsländer nehmen die Migranten zurück. Nach etwa acht Monaten werden sie meistens schlicht freigelassen – und ziehen dann doch irgendwie nach Deutschland. Nicht zuletzt, weil von dort das starke Signal der Ablehnung noch immer nicht gekommen ist.