Religiös motivierte Gewalt in Nigeria
Mitten durch Nigeria verläuft jene kulturelle Bruchzone, die entlang dem zehnten Breitengrad ganz Afrika durchschneidet: Der mohammedanische Norden stößt auf den heute christlichen Süden. Die Kluft zwischen den Religionen wächst.
Terror in Nigeria

Religiös motivierte Gewalt in Nigeria

Mitten durch Nigeria verläuft jene kulturelle Bruchzone, die entlang dem zehnten Breitengrad ganz Afrika durchschneidet: Der mohammedanische Norden stößt auf den heute christlichen Süden. Die Kluft zwischen den Religionen wächst.

Grässliche Nachrichten aus Nigeria: Im überwiegend muslimischen Nord-Bundesstaat Borno werden aus einem Internat über 200 christliche Teenager-Schulmädchen entführt. Die islamistische Boko-Haram Terror-Sekte, die sie entführt hat, kündigt an, die Mädchen als Sexsklavinnen verheiraten und verkaufen zu wollen. Ebenfalls in Borno massakrieren die Terroristen zwei Wochen später über 300 Personen, zwölf Stunden lang, und ziehen dann in aller Seelenruhe ab. Zwischendurch explodieren in der Landeshauptstadt Abuja Autobomben – mindestens 70 Tote. Seit Anfang des Jahres sind den muslimischen Terroristen in Nigeria über 1500 Personen zum Opfer gefallen. Und die Regierung tut – nichts. Die nigerianische Armee ist hilflos. Der christliche Staatspräsident Goodluck Jonathan hat sich erst nach zwei Wochen öffentlich zur Entführung der Schülerinnen geäußert.

Schwache Regierung, Misswirtschaft, desolate Infrastruktur und uferlose Korruption

Was für ein Widerspruch: Eben erst wurde Nigeria zu Afrikas neuer Nummer 1 ausgerufen. Eine Neuberechnung hat ergeben, dass Nigerias Wirtschaftskraft mit 510 Milliarden Dollar die von Südafrika (370) weit übersteigt. Seit zehn Jahren wächst in dem öl- und gasreichen Land die Wirtschaft mit durchschnittlich sieben Prozent. Afrikas bevölkerungsreichstes Land zählt angeblich 122 Millionen Mobilfunk- und 56 Millionen Internetnutzer. Nigerianische Unternehmer sehen ihr Land schon als „Technologie Drehkreuz“ Afrikas, schreibt die britische Wochenzeitung The Economist.

Die Wirklichkeit ist düsterer, afrikanischer. Alle Übel, die den schwarzen Kontinent heimsuchen, finden auch in Nigeria zusammen: Schwache Regierung, Misswirtschaft, desolate Infrastruktur, Bevölkerungsexplosion und, natürlich, uferlose Korruption. 80 Prozent der Staatseinnahmen und 95 Prozent der Deviseneinnahmen hängen von der Ölindustrie ab. Aber vom Ölreichtum kommt bei der Bevölkerung wenig an: Auf dem UN-Wohlstandsindex liegt Nigeria unter 187 Ländern auf Rang 153. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf liegt bei kümmerlichen 2700 Dollar. Das Wirtschaftswachstum kommt mit der Bevölkerungsentwicklung nicht mit: 1950 hatte Nigeria knapp 38 Millionen Einwohner. Heute sind es fast 180 Millionen. Im Jahr 2050, das hat die UN errechnet, sollen es unfassliche 440 und im Jahr 2100 sogar 900 Millionen sein. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre, zumeist ohne Ausbildung und ohne Arbeit, weiß die Frank­furter Allgemeine Zeitung.

Zehnter Breitengrad: alte Grenze zwischen Christen und Muslimen

Und dann ist da der zehnte Breitengrad. Im Gebiet zwischen dem zehnten Breitengrad und dem Äquator läuft der dürre, wüstenhafte Norden des Kontinents aus und beginnt der subsaharische Dschungel. Der zehnte Breitengrad teilt Afrika nicht nur geographisch und klimatisch, sondern auch kulturell. Nur bis hierher kamen vor 1000 Jahren arabische Eroberer. Weiter südlich stachen Tsetse-Fliegen ihre Kamele und Pferde zu Tode. Heute prallen in Afrika entlang des zehnten Breitengrades zwei Welten aufeinander: „Der meist muslimische, arabisch beeinflusste Norden stößt auf den von Christen und andersgläubigen Eingeborenen besiedelten schwarz-afrikanischen Süden.“ So beschreibt es die US-Journalistin Eliza Griswold in ihrem glänzenden Buch: „Der Zehnte Breitengrad – Berichte von der Bruchzone zwischen Christentum und Islam“.

Von „Bruchlinienkonflikten“ und den „blutigen Grenzen des Islam“ schrieb 1993 der US-Politikwissenschaftler Samuel Huntington. Eine dieser Grenzen verläuft quer durch Nigeria. Denn so wie ganz Afrika teilt der zehnte Breitengrad auch Nigeria in christlichen Süden und mohammedanischen Norden. Er verläuft mitten durch Jos, die Hauptstadt des zwischen Muslimen und Christen immer wieder umkämpften zentralnigerianischen Bundesstaates Plateau.

Der Anteil der Christen ist seit 1900 von 1,1 auf heute 50,8 Prozent gewachsen

Zwischen Christen und Muslimen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in Nigeria viel verändert. Nordnigeria hat eine der ältesten und frömmsten muslimischen Gemeinden Afrikas. In den 80er Jahren geriet auch sie im Gefolge der iranischen Revolution und des globalen islamischen Erwachens in Bewegung, schreibt Griswold. Ab 1999 wurde in zwölf von Nigerias 36 Bundesstaaten das finstere islamische Scharia-Recht eingeführt. Die in Frankfurt/M. ansässige Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) berichtete 2003 von Hunderten von Steinigungen, noch häufigerem Abhacken von Armen und Beinen und Auspeitschungen. Muslime aus ganz Afrika besuchen in Nordnigeria Koranschulen, die doch nur Analphabeten entlassen, die den Koran auswendig können.

Aber auch auf der heute christlichen Seite des 10. Breitengrades hat es eine Revolution gegeben. Vor 100 Jahren stellten die Muslime in Nigeria die mit Abstand größte und darum auch politisch bestimmende Religionsgemeinschaft. Das ist vorbei: Hohe Geburtenraten und die erfolgreiche Tätigkeit evangelikaler Missionare hat die Zahl der Christen seit Beginn des 20. Jahrhunderts von 176000 und 1,1 Prozent (!) auf heute 50,8 Prozent der Bevölkerung anwachsen lassen. Auch im Norden wächst ihre Zahl. Das einst islamisch dominierte Nigeria ist zum hälftig zwischen Christen und Muslimen geteilten Land gekippt. Der Trend geht weiter, und die Muslime im Norden ertragen ihn nur schwer.

1960 wurde die britische Kolonie unabhängig. Militärregi­me folgten aufeinander. Erst 1998 begann eine „Demokratisierung – was immer das auch heißen mochte in Nigeria. Zur ungeschriebenen Verfassungsregel wurde, dass muslimische und christliche Präsidenten einander abwechselten. Doch jetzt hält der Kompromiss nicht mehr. Als 2010 der letzte muslimische Präsident starb, folgte ihm Vizepräsident Goodluck Jonathan verfassungsgemäß im Amt – zur Wut der Muslime im Norden, die eine Neuwahl wollten nur mit islamischen Kandidaten. 2011 wurde Jonathan für vier weitere Jahre gewählt. 2015 will er wieder antreten.

Erstmals aufgebrochen ist der Konflikt zwischen Nigerias Christen und Muslimen 1967 im Biafra-Krieg. Im damals noch viel islamischeren Nigeria wollten Putsch-Offiziere den christlichen Südosten – samt seinem Öl – als Republik Biafra vom Rest Nigerias abtrennen. Das Unternehmen scheiterte nach drei Jahren Krieg in Blut und Hungersnot. Wohl zwei Millionen Nigerianer kamen ums Leben.

Dramatisch wurden die religiösen Gegensätze erst wieder nach dem Ende der Militärherrschaft, schreibt Griswold: „Paradoxerweise hat die Demokratie die religiösen Friktionen zwischen Nigerias Muslimen und Christen erst entfacht. Wahlen verlaufen häufig gewalttätig, und seit die Demokratie begann, haben die Menschen stets entsprechend ihrer Religionszugehörigkeit gewählt.“ Tatsächlich häufen sich seit der Jahrtausendwende von muslimischer Seite blutige Gewalttaten. 2002 etwa gab es im Norden Aufruhr mit Hunderten Toten wegen einer Miss-Welt-Wahl im Lande. 2006 forderte mohammedanische Wut über dänische Mohammed-Karikaturen in Nigeria die meisten Todesopfer.

Die Last der Erinnerung an 600 Jahre muslimische Sklavenjagd

Dazu kommt die Last schauerlicher Geschichte. Mit ihrer vorkolonialen Vergangenheit verbinden die Muslime im Norden das Reich Bornu und ein goldenes Zeitalter. Für die Nigerianer südlich jenes 10. Breitengrades ist das die Erinnerung an jahrhundertelange viehische mohammedanische Unterdrückung, Herdensklaverei und genozidale Sklavenjagd.

Bornu reichte seit dem 13. Jahrhundert vom heutigen Darfur über Tschad und Niger bis Nigeria – bis zum zehnten Breitengrad. Seine Hauptstadt Kuka – heute in Nigeria an der Grenze zum Tschad gelegen – war seinerzeit der größte Sklavenmarkt Westafrikas. Bis ins 19. Jahrhundert lebte Bornu von nichts anderem als Sklavenjagd und Sklavenhandel, berichtet der französisch-senegalesische Historiker Tidiane N’Diaye in seinem aufwühlenden Buch: „Der verschleierte Völkermord – Die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels in Afrika“. Und die Sklaven kamen hauptsächlich von der anderen Seite des 10. Breitengrades.

Vom Reich Bornu geblieben ist heute nur die Erinnerung an sechs entsetzliche Jahrhunderte – und der nigerianische Bundesstaat Borno, nicht zufällig die Basis jener muslimischen Boko-Haram-Terroristen. Die Islamisten vollen ganz Nigeria eine steinzeitliche Scharia-Dik­tatur aufzwingen und predigen den Heiligen Krieg. Per Internet-Video hat ihr Anführer Abubakar Shekau jetzt zu allen Nigerianern über die entführten Schülerinnen gesprochen, grinsend, höhnend, in der Hausa-Sprache der Sklavenjäger von einst: „Sie sind Sklavinnen. Bei Allah, ich werde sie auf dem Markt verkaufen.“ Mit dem Auftritt hat Shekau im Gedächtnis aller nichtmuslimischen Nigerianer die Erinnerung an die „abscheuliche Wunde des arabomuslimischen Sklavenhandels“ (Tidiane N’Diaye) aufgerissen. Das wird Folgen haben. Der Hass auf Nigerias Mohammedaner wird wachsen.

Für Religionsstifter Mohammed und seinen Koran war Sklaverei normal

Heikel ist, dass sich Shekau auf Koran-Verse berufen kann, die Sklaverei und sexuelle Ausbeutung von Sklavinnen explizit erlauben. „Oh Prophet, Wir erlauben dir deine Gattinnen … und die deine Rechte besitzt [i.e. Sklavinnen, A.d.V.] von dem, was dir Allah an Beute gab“, heißt es etwa in Sure 33 Vers 49. In einem halben Dutzend anderer Verse steht es ähnlich. Die Erklärung ist einfach: Für Religionsstifter Mohammed und seinen Koran war Sklaverei normal. Doch das heute zu kritisieren ist haram – verboten –, nicht nur für die Boko-Haram, sondern auch für sogenannte moderate Muslime. Weswegen sie größtenteils schweigen zu den Vorgängen in Nigeria.

Schon jetzt zerfällt Nigeria de facto in zwei L andeshälften. Im christlichen Süden befeuert Öl-Wirtschaft leidliches Wachstum. Der muslimische Norden verfällt. In der Hafenstadt Lagos können 92 Prozent der Nigerianer lesen und schreiben, in Borno nur 15. Im Lande boomt die Bauindustrie, aber den Norden meiden die Investoren. Die Nigerianer im Norden fühlen sich vernachlässigt. Zu recht. „Der Norden ist heute wahrscheinlich ärmer denn je in den vergangenen 30 bis 40 Jahren“, zitiert die Londoner Tageszeitung The Guardian einen Nigeria-Experten. Man darf die Frage stellen, ob es in Nigeria tatsächlich noch eine Nation gibt – oder schon zwei.

Südlich der Sahara tun sich riesige fast herrschaftsfreie Räume auf

Seit 2010 hat sich Präsident Jonathan im Norden kaum sehen lassen. Abuja überlässt den Norden sich selbst – und den Boko-Haram-Terroristen. Das kann Folgen haben weit über Nigeria hinaus. Ein Blick auf die Afrika-Karte macht es deutlich: Borno grenzt an Tschad. Von dort nahm die islamistische Destabilisierung der Republik Zentralafrika ihren Ausgang. Es grenzt auch an Niger, wo Islamisten schon freie Bahn haben bis Libyen im Norden oder Mali im Westen. Südlich der Sahara tun sich riesige fast herrschaftsfreie Räume auf – Rückzugs- und Sammelgebiete für Islamisten aller Art. Die Gewalt in der ganzen großen Region wird zunehmen. Die Europäer bekommen schon die Folgen zu spüren: Wer in Italien einen Lampedusa-Flüchtling fragt, wo er denn herkomme, erhält oft die gleiche Antwort: „aus Nigeria“. London macht sich Sorgen um seine große nigerianische Zuwanderungsbevölkerung.

Und die entführten Mädchen? Denen droht Schreckliches, wenn es ihnen nicht schon widerfahren ist. Ein Mädchen, das entkam, hat von Massenvergewaltigung, Zwangsislamisierung und durchgeschnittenen Hälsen berichtet (Daily Mirror). Selbst im Fall einer Befreiung wären die Mädchen für den Rest ihres Lebens gebrandmarkt, ahnt die Neue Zürcher Zeitung: „Als ehemals Zwangsverheiratete sehen sie einer Zukunft als Ausgestoßene entgegen.“