Noch einsamer als Kelvin Efe Okuns aus Lagos kann man eigentlich nicht sein. Seit drei Monaten steht der 26-jährige Nigerianer mehr oder minder täglich vor einem kleinen Supermarkt in Venedigs Castello-Viertel am Rio San Antonin – einem der Kanäle, die direkt in die Lagune münden und zur großen Promenade vor dem Dogenpalast führen – und bettelt. Eine zweieinhalbjährige Wanderschaft hat ihn aus der nigerianischen Hafenstadt und 10-Millionen-Metropole Lagos nach Venedig geführt. Über Lampedusa, natürlich. Jetzt sitzt er in der Juni-Sonne vor einer Trattoria im Stadtviertel Castello zwischen der Ponte dei Greci und der Ponte Del Diavolo. Bei einer Pizza Prosciutto con Fungi und einem Glas roten Vino di Casa erzählt er in passablem Englisch seine Geschichte.
Sein Vater und seine beiden Schwestern sind bei einem fürchterlichen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Kein Einzelschicksal: Mit 37 Todesopfern auf 100.000 Einwohner hat Nigeria die weltweit zweitübelste Verkehrsstatistik. Kelvins Mutter hat das nicht verwunden und ist an „BP, blood pressure“ – Bluthochdruck – gestorben, erzählt der junge Nigerianer. Andere Verwandte, sagt er, hat er nicht mehr. Mit 17 Jahren hat er die Schule verlassen.
20 Monate lang hat er 2009 und 2010 bei einem Freund in Lagos als Tapezierer und Maler gearbeitet, für umgerechnet 20 Euro monatlich. Die Hafenstadt ist ein gefährliches Pflaster. Die radikal-muslimischen Boko-Haram haben auch dort schon Bomben in christliche Kirchen geworfen, erzählt Kelvin. „Die sind so brutal und grausam, und es wird immer schlimmer.“ Er spricht viel von Boko-Haram. Nicht zuletzt wegen der islamischen Terroristen wollte er fort aus Lagos.
Für 50 Euro von Agadez in Niger nach Tripolis
Im November 2010 hat er sich dann anheuern lassen, um im nördlichen Nachbarland Niger auf einer Farm zu arbeiten. Zusammen mit anderen Arbeitern hat er dort gemäht und Tiere gefüttert für umgerechnet 80 bis 90 Euro die Woche, so sein Bericht. Auf die verblüffte Frage, warum er aus Angst vor islamischem Terror gegen Christen ausgerechnet in ein rein islamisches Land ausgewichen sei, hat Kelvin, um dessen Hals eine weiße Kette mit einem weißen Kreuz hängt, eine paradoxe Antwort: „In Niger gibt es keine Christen und deswegen auch keinen Terror gegen Christen.“ Den nigerianischen Boko-Haram-Terroristen hätte die logische Antwort sicher gefallen. Tatsächlich waren die Leute in Niger freundlich zu Kelvin.
Paradoxe Sicht für einen Christen: In Niger gibt es keine Christen und deswegen auch keinen Terror gegen Christen.
Trotzdem ist er nur acht Monate auf der Farm in der Nähe der Hauptstadt Niamey geblieben und dann weitergezogen nach Agadez, im Norden Nigers. Die allermeisten westafrikanischen Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa kommen über Agadez. Kelvin konnte bei „Freunden“ wohnen, und hat jeden Tag um Gelegenheitsarbeit Schlange gestanden. Sechs bis sieben Monate ist er in Agadez geblieben. Es hat ihm dort nicht gefallen, und das Essen hat auch nicht geschmeckt. Aber Agadez ist näher an Libyen. Schon in Nigeria hatte ihm jemand erzählt, dass es in Libyen gute Arbeitsplätze gebe.
Wer von Agadez aus weiterfahren will, muss drei bis vier Tage warten, bis die „Reisegruppe“ komplett ist. Für umgerechnet etwas mehr als fünfzig Euro ist Kelvin dann im Februar 2013 zusammen mit 28 anderen auf Toyota-Vans zwei Nächte und zwei Tage nach Tripolis gefahren. „Es war eine sehr sichere Fahrt“, sagt er.
Für 300 Euro von Tripolis nach Lampedusa: „Das Boot war o.k.“
In Tripolis hat er in „einem großen Heim“ in der Via Mohammed Ali auf Decken auf dem Boden geschlafen und sich wieder täglich als Gelegenheitsarbeiter angeboten. 80 libysche Dinare – umgerechnet etwa 50 Euro – hatte er in der Tasche, 120 Dinare konnte er in einem Monat dazu verdienen. Ein „Freund“, der schon jahrelang in Libyen arbeitete, fragte ihn, ob er Interesse hätte, nach Italien weiterzufahren. Kelvin hatte Interesse. Der „Freund“ hat ihm auch die Hälfte der 500 Dinare oder 300 Euro für die Überfahrt geliehen.
Alle kamen aus Afrika, aus Nigeria, Senegal, Sambia, Mali, Niger, Tschad – sehr viele aus Tschad – und Somalia.
Drei Tage dauerte es, bis das Boot nach Italien bereit war. Zwischen drei und vier Uhr in der Frühe hat es dann im März vor einem Jahr von einem Strand direkt in Tripolis abgelegt. 750 Leute seien an Bord gewesen, erzählt Kelvin. Alle kamen aus Afrika, aus Nigeria, Senegal, Sambia, Mali, Niger, Tschad – „sehr viele aus Tschad“ – und Somalia. „Zwei Decks hatte das Boot, es war o.k.“ Ein Tunesier habe es gesteuert, Probleme habe es keine gegeben. Nach etwa 30 Stunden Fahrt kam ein Rettungsschiff. Ein Lotse stieg um zu den Flüchtlingen und hat sie nach Lampedusa gefahren.
In Lampedusa wurden die Flüchtlinge gründlich durchsucht. Sie mussten abgeben, was sie am Leibe trugen und erhielten dafür neue Kleidung und Schuhe. Im Flüchtlingslager wurden die afrikanischen Neuankömmlinge auf „Zimmer mit Nummern“ verteilt, so Kelvin. Sie erhielten Lebensmittel und Telefonkarten, „damit wir unsere Familien anrufen konnten“.
Von der Caritas betreut: kein Schulbesuch, keine Fortbildung, nichts
Vier Tage blieb Kelvin auf Lampedusa. Dann wurden die Flüchtlinge auf Unterkünfte in ganz Italien verstreut. Kelvin kam mit 60 anderen Afrikanern nach Venedig, in ein Flüchtlingscamp nahe dem alten Arsenale. Dort nahm ihn die Caritas in Empfang. Ein Jahr lang erhielt er Unterkunft und jede Woche 60 Euro für Lebensmittel sowie 25 Euro Taschengeld. Wenn ihm etwas fehlte, brachte man ihn ins Krankenhaus. Über die Caritas erhielt er auch Aufenthaltspapiere. Aber sonst unternahm die Caritas nichts mit den Flüchtlingen, berichtet Kelvin – kein Schulbesuch, keine Fortbildung, nichts. „Wir wurden ruhig gestellt.“ Immerhin kann er jetzt etwa Italienisch sprechen.
Für gutes Regierungsgeld hat die Caritas die Flüchtlinge ein Jahr lang übernommen. Danach mussten sich die Flüchtlinge um sich selber kümmern.
Die Caritas, sagt Kelvin, hatte einen Vertrag mit der Regierung. Für gutes Regierungsgeld hat sie die Flüchtlinge ein Jahr lang übernommen. Danach mussten sich die Flüchtlinge um sich selber kümmern. Kelvin erhielt 1000 Euro auf die Hand und musste das Camp am Arsenale in Venedig verlassen. Für 260 Euro im Monat hat er zusammen mit zwei Kollegen eine Bleibe in Treviso gefunden, 20 Kilometer nördlich von Venedig.
Als Umzugshelfer in Venedig in nur zwei Tagen die Fahrt nach Lampedusa verdient
Seither bettelt er an jenem Supermarkt am Rio San Antonin. Man kennt ihn. Während er mit uns seine Pizza isst, grüßt ihn eine Passantin. Ein Priester verschafft ihm gelegentlich einen Job als Umzugshelfer. In Venedig, wo alles praktisch mit der Hand durch enge Gassen und über Dutzende Brücken geschleppt werden muss, ist an Umzugshelfern Bedarf. 100 bis 150 Euro kann Kelvin so an einem Tage verdienen. Wenn er jemanden findet, der einen Umzugshelfer braucht. Die Leute in Venedig sind „very nice“, sagt er. „Ohne sie würde ich nicht mehr leben.“
Keinen Schulabschluss, keine Ausbildung, keine Zeugnisse
Trotzdem will er weiter, in ein anderes Land. Ende des Jahres will er Venedig verlassen. „Italien ist wirklich schwierig für uns“. Die Sprache ist schwer, die Arbeitslosigkeit hoch. In Treviso könnte er einen sechsmonatigen Maler-Kurs besuchen. Aber die Anmeldung dafür kostet 280 Euro.
Die Leute in Venedig sind very nice, ohne sie würde ich nicht mehr leben.
Kelvin hat keinen Schulabschluss, keine Ausbildung und keine Zeugnisse, die ihn für einen Arbeitsplatz qualifizieren. Er hätte es überall in Europa schwer. Wäre es dann nicht besser für ihn, nach Nigeria zurückzukehren, vielleicht mit einer kleinen Starthilfe von ein paar Tausend Euro? Auf keinen Fall, entgegnet Kelvin. Er will unbedingt hier bleiben, und „ein Leben anfangen“. Er fragt uns nach Familie und Kindern. Gerne würde er wieder zur Schule gehen und noch etwas lernen. „Ich werde es weiter versuchen.“ In Nigeria will er nicht mehr leben. „Ich würde mich in Gefahr bringen.“ Und dann ist da noch etwas, das Kelvin in Venedig schätzen gelernt hat und das es in Nigeria eben nicht gibt: „Sicherheit, immer Licht und Strom und gutes Wasser.“