Algerien steht vor einer schwierigen Machtübergabe. Jetzt gefährdet der tiefe Ölpreis den fragilen Frieden im größten Land Afrikas. Bild: Imago/Richard Wareham
Algerien

Reform oder Explosion

Algeriens Ruhe ist trügerisch: Das Regime steht vor einer Nachfolgekrise. Nur mit Subventionsmilliarden kann Algier den inneren Frieden sichern. Nicht mehr lange: Der abgestürzte Ölpreis treibt das Land dem Bankrott entgegen. Demographischer Druck, hohe Arbeitslosigkeit und voranschreitende Islamisierung destabilisieren den Maghreb-Staat. Eine neue Flüchtlingswelle droht.

Hier kann der der nächste große Knall im Mittelost-Drama drohen, mit schweren Folgen für Europa und die Europäer: in Algerien. Mit 2,38 Millionen Quadratkilometern Fläche ist Algerien nach der Teilung des Sudans das größte Land Afrikas und etwa sieben Mal so groß wie Deutschland. Algerien ist der drittgrößte Erdgas-Exporteur und achtgrößte Erdölproduzent und lebt allein von Erdöl und Erdgas. Mit Öl und Gas bestreitet das Land 97 Prozent seiner Exporteinnahmen und 70 Prozent seines Staatsetats.

Seit 2014 sind Algeriens Verkaufserlöse aus dem Erdölsektor von 58 auf jetzt 22 Milliarden Dollar gefallen.

Mit den zehntgrößten Erdgasreserven ist Algerien ein reiches Land – theoretisch. Aber jetzt bringt der Absturz des Ölpreises Regime und Staat in Gefahr: Seit 2014 sind Algeriens Verkaufserlöse aus dem Erdölsektor von 58 auf jetzt 22 Milliarden Dollar gefallen. Trotzdem muss das Land jedes Jahr für 60 Milliarden Dollar Nahrungsmittel und andere lebenswichtigen Güter einführen. Noch reichen dafür die Währungsreserven, die sich 2014 auf 200 Milliarden Dollar beliefen. Inzwischen sind sie auf 150 Milliarden gesunken. Beim aktuellen Ölpreis schrumpfen sie jedes Jahr um weitere 50 Milliarden. Algeriens Haushaltsdefizit steht schon bei untragbaren 11,2 Prozent.

Regime im Todeskampf

Starkes Bevölkerungswachstum lässt unterdessen den Innendruck gefährlich steigen: Seit 1950 hat sich Algeriens Bevölkerung von 8,9 Millionen auf heute fast 40 Millionen mehr als vervierfacht. Drei Viertel der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 25 und für Jugendliche bei über 50 Prozent. 2011, im Jahr des sogenannten Arabischen Frühlings, hat Algier den sozialen Frieden im Lande nur mit großzügigen Lohnerhöhungen und Subventionen bewahren können: Der Staatsdienst oder staatliche Unternehmen stellen rund 60 Prozent der etwa 11 Millionen regulären Arbeitsplätze. Noch kann sich das Regime eine Scheinstabilität mit Sozialleistungen erkaufen, die schon 26 Prozent des Etats verschlingen, warnt jetzt die Pariser Tageszeitung Le Figaros unter der Überschrift: „Algerien in der Schwebe.“ Die Sozialgelder, so das Blatt, seien die letzte Verbindung zwischen dem Regime und den Bürgern. Aber lange wird die Politik um drastische Kürzungen nicht mehr herum kommen.

Das Regime in Algier ist nicht mehr nur krank, sondern befindet sich im Todeskampf.

Le Figaro

Das Land bräuchte tiefgreifende und befreiende Wirtschaftsreformen, wenn der absehbare Bankrott vermieden werden soll. Doch die Kraft dazu bringt das Regime nicht mehr auf. Denn auch politisch ist in Algerien alles in der Schwebe. Das Regime in Algier, so Le Figaro, „ist nicht mehr nur krank, sondern befindet sich im Todeskampf“. Der 78jährige Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika, seit 1999 starker Mann in Algier, ist todkrank und im Grunde nur noch ein Phantom. Das Regime löst sich auf. Berichten zufolge greift der Präsidenten-Bruder Said – im algerischen Volksmund nur „Monsieur le Frère“ (Herr Bruder) genannt – nach der Macht. Vor einem halben Jahr hat Bouteflika – oder wer immer ihm die Hand führt – den allmächtigen Geheimdienstchef Mohammed Mediène entlassen. Vor drei Wochen wurde dessen Geheimdienst DRS in drei Teile gestückelt und untersteht nun nicht mehr dem Verteidigungsministerium, sondern der Präsidialverwaltung. Le Figaro schreibt schon vom „Kampf bis auf den Tod“ zwischen dem Bouteflika-Clan, dirigiert von „Monsieur le Frère“, und dem Militär.

Voranschreitende Islamisierung

Von 1992 bis 1999 führte das Militärregime einen blutigen Bürgerkrieg gegen die Terror-Armee der islamistischen „Islamischen Heilsfront“, die drauf und dran gewesen war, per Wahl die Macht zu übernehmen: Bis zu 200.000 Algerier kamen ums Leben. Mit einer Amnestie und mit viel Geld erkaufte Bouteflika eine oberflächliche Versöhnung, was seine Popularität begründete. Beobachtern zufolge hat nicht zuletzt die Erinnerung an das „dunkle Jahrzehnt des Terrors“ und die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg die Algerier vor tunesischen oder ägyptischen Experimenten mit der Revolte bewahrt.

Im Fastenmonat Ramadan darf niemand in der Öffentlichkeit essen oder trinken, auch Christen nicht.

Aber wie überall in der islamischen Welt bedeutet auch in Algerien demographischer Druck vor allem eines: religiöse Radikalisierung. Islamisierung und Islamismus sind denn auch in Algerien sichtbar auf dem Vormarsch. In der Verfassung ist der Islam als Staatsreligion festgeschrieben. Im Fastenmonat Ramadan darf niemand in der Öffentlichkeit essen oder trinken, auch Christen nicht. Nicht muslimische Vornamen sind verboten. In den letzten Jahren wurden Tausende Moscheen gebaut.

Wir erleben in Algerien das Erstarken einer neuen Generation, für die religiöse Werte mehr zählen als Bürgerrechte.

Yazid Haddar

Bars mit Alkoholausschank finde man in Algier nur in dunklen Hintergassen, Frauen ohne Kopftuch würden immer seltener, berichtete die Neue Zürcher Zeitung vor zwei Jahren: „Verglichen mit früher hat in Algier keine Modernisierung, sondern eher das Gegenteil stattgefunden.“ Die oberflächliche Ruhe im Lande sei nur dem Geld zu verdanken, mit dem man den Dschihadisten „das Maul gestopft“ habe, gibt das Schweizer Blatt den algerischen Schriftsteller Boualem Sansaal wieder. Ein gefährlicher Fehler, erklärt Sansaal: Denn die Gelder seien so „in die längerfristige Indoktrination der Jungen“ geflossen. Das wirkt sich nun aus: „Wir erleben in Algerien das Erstarken einer neuen Generation, für die religiöse Werte mehr zählen als Bürgerrechte“, bestätigt Sansaals Schriftstellerkollege und Jugendpsychologe Yazid Haddar. Er spricht von der Islamisierung in den Köpfen, die schon stattgefunden haben. Das Land sei vom Islamismus untergraben, und der Terror sei endemisch, sieht auch Le Figaro: „Algeriens Gesellschaft ist von neuem am Rand des Bürgerkrieges.“

Trügerische Ruhe

Die Ruhe im Lande sei trügerisch, warnte eindringlich wieder Boualem Sansaal. Der ehemalige hohe algerische Staatsbeamte und als Schriftsteller Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (2011) kennt sein Land gut. Im vergangenen September richtete er im Figaro einen düsteren „Brief an einen Franzosen über die Welt, die kommt“. Die islamistischen „Barbaren-Horden“, so Sansaal, bereiteten in Algerien schon die Rückkehr vor: „Ich bin sicher nicht der einzige, der sieht, wie sie die Straßen besetzen, die Moscheen füllen, Tag und Nacht im Land herumfahren, die Horden neu ordnen, die Netzwerke organisieren, Widerstandsgruppen eröffnen, schwer beladen wieder und wieder die Grenzen überqueren. Warum würden sie das tun, wenn nicht, um den neuen Heiligen Krieg vorzubereiten, den großen Dschihad des Endes aller Zeiten?“

Machen Sie sich klar, dass dieses riesige Land, wenn es zusammenbricht, den ganzen Maghreb und die ganze Sahelzone mit sich in die Tiefe des Abgrunds reißen wird – und dass der Tsunami, der dann folgt, noch den Ärmelkanal erreichen wird.

Boualem Sansaal

Sansal sieht schon „das Ende meines Landes“ kommen und richtet eine Warnung an die Europäer: „Machen Sie sich klar, dass dieses riesige Land, wenn es zusammenbricht, den ganzen Maghreb und die ganze Sahelzone mit sich in die Tiefe des Abgrunds reißen wird – und dass der Tsunami, der dann folgt, noch den Ärmelkanal erreichen wird.“ Sansaal weiter: „Meine Freunde, werdet Ihr dann auch nur die Zeit haben, auf den Bergen Schutz zu suchen? Ich sage Euch das ganz offen: Ich habe Angst um Euch. Ihr kommt mir so wenig vorbereitet vor.“

Wenn Algerien ins Chaos kippte, würde das den gesamten Maghreb destabilisieren und eine Fluchtwelle nach Europa provozieren.

Le Figaro

Algerien befindet sich „an einem Wendepunkt zwischen radikaler Reform oder Explosion“, kommentiert dieser Tage auch Le Figaro. Problem: Algeriens Drama würde sofort auch Europa erreichen, warnt das Blatt: „Wenn Algerien ins Chaos kippte, würde das den gesamten Maghreb destabilisieren und eine Fluchtwelle nach Europa provozieren, die jene, die der Krieg in Syrien ausgelöst hat, weit überträfe.“ Das Blatt weiter: „Weder Frankreich noch Europa können Algerien und die Schockstöße, die sich dort vorbereiten, gleichgültig sein.“