Letztmals Schauplatz einer großen Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung: Wildbad Kreuth. Ende März 2016 zieht die Stiftung aus dem traditionsreichen Gebäude aus. (Foto: Philipp Hildmann/fkn)
Hanns-Seidel-Stiftung

Demokratie und Abendland

Zur vermutlich letzten großen Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad Kreuth haben sich hochrangige Theologen, Philosophen und Politikwissenschaftler ein Stelldichein gegeben. Das Spannungsfeld zwischen christlichem Abendland und Demokratie wurde dabei von allen Seiten beleuchtet.

Noch immer marschieren die selbsternannten Abendland-Retter. Ihren größten Zulauf erfahren sie im atheistisch geprägten Osten Deutschlands. Immer wieder selbst im Konflikt mit dem Rechtsstaat, berufen sie sich auf dessen Verteidigung. Kulturlos demonstrieren sie für den Erhalt deutscher Kultur. Gottlose schwingen schwarz-rot-golden geschmückte Kreuze und singen Adventslieder.

Ihre Angst gilt allem Fremden. Ihr Kampfruf ist das Abendland. Vieles passt hier nicht zusammen. Schon gar nicht ihre Berufung auf das christliche Abendland. Deutlich wurde dies bei einer Konferenz der Hanns-Seidel-Stiftung, die kurz vor Torschluss noch einmal viel internationalen Geist in Wildbad Kreuth versammelt hat. Im Mittelpunkt stand die Frage, welchen Beitrag das Christentum für die säkularen Demokratien und die politische Liberalität Europas leistet.

Abendland oder europäische Identität?

Europäische Identität war immer eine Identität im Kontrast. Schon die alten Griechen hatten ihre eigene Kultur von den Barbaren anderer Zunge scharf unterschieden. Später war es die Abgrenzung des Westens gegen den Osten oder die des christlichen Europa gegen die Türken. Seine Identität fand Europa stets durch immer neue Abgrenzungserzählungen gegenüber den kulturellen Prägungen an seinen Grenzen. Es überrascht nicht, dass auch die Herausforderungen der Gegenwart zu solchen führen.

War es in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Abgrenzung zum Nationalismus und Totalitarismus, zu sozialistischen Herrschaftsformen oder zur angelsächsischen Tradition des Kapitalismus, so dominiert jetzt erneut die Abgrenzung zu den Traditionen des Islam, die ihr historisches Vorbild in der Türkenpolemik des 16. Jahrhunderts hat. Dabei kam es jeweils zu unterschiedlichsten Zusammenstellungen dessen, was das verbindende Element oder das leitende Konstruktionsprinzip einer eigenen Identität darstellen könnte. Dies gilt für die Zusammensetzung eines europäischen Wertekanons. Dies gilt für das Abendland-Paradigma, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei der Suche nach einer neuen Architektur Europas größere konzeptionelle Bedeutung erlangte und sich heute erneut großer Beliebtheit erfreut.

Abgrenzung zu Protestanten, Orthodoxie und den Arabern

Es war der Romantiker Friedrich Schlegel, der den Kern des Abendlandes zu seiner Zeit durch eine dreifache Abgrenzung bestimmte: zum Protestantismus, zur Eroberungswut der arabischen Weltherrscher und zum oströmischen Reich. Im Unterschied dazu waren es für ihn die Karolinger gewesen, die das christliche Kaisertum im abendländischen Reich als glanzvolle Fortsetzung des weströmischen Reiches wiederhergestellt hätten.

Fortan blieb das christliche Abendland der Sehnsuchtsort für eine Einheit von Politik und Religion. Eine Einheit, die unter den Bedingungen der Moderne allerdings kaum wünschenswert wäre. Der Preis dafür wäre ein staatlich gelenkter Sittlichkeitsterror, der die bestehende Orientierungsvielfalt unterdrücken würde.

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ So hat es der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde einst in seinem vielzitierten Diktum formuliert. Dessen Pointe er einige Zeilen darauf noch einmal mit dem deutlich seltener zitierten Zusatz unterstrichen hat, dass ein solcher Staat diese inneren Regulierungskräfte gerade nicht von sich aus mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots garantieren könne, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und in einen Totalitätsanspruch zurückzufallen. Bei näherer Betrachtung kann der Bezug auf das christliche Abendland folglich wenig zu einem freiheitlichen Europa der Zukunft beitragen, dessen Einheit zudem gerade in der Vielfalt besteht.

Säkularer Saat ist auf christliches Wertegerüst angewiesen

Der Beitrag des Christentums für die säkularen Demokratien Europas ist ein anderer. Blieb es doch dieser Religion vorbehalten, gerade die Trennung von Politik und Religion als Neuheit in die Geschichte einzubringen. Zentraler Bezugspunkt ist hier das Wort Jesu aus dem Lukasevangelium: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ (Lk 20, 25) Damit hat das Christentum maßgeblich zur Formung der europäischen politischen Kultur und durch sie der modernen westlichen Welt beigetragen. Auch wenn es selbst diese Unterscheidung erst in mühsamen Prozessen lernen musste. Für ein gedeihliches Zusammenleben in einem Europa, das sich auch auf dem religiösen Feld zunehmend ausdifferenziert, ist sie unverzichtbar.

Dies bedeutet nun nicht ein Verbannen von Religion in den ausschließlich privaten Bereich. Es kommt vielmehr darauf an, die gegenseitigen Abhängigkeiten, aber auch die wechselseitigen Beziehungen von Politik und Religion ernst zu nehmen. Beide sind aufeinander zu beziehen. Aber so, dass die Distanz zwischen beiden gewahrt bleibt. Die genaue Grenzziehung zwischen beiden kann dabei nur als das Ergebnis stetiger Aushandlungsprozesse begriffen werden. Die hierbei von beiden Seiten geforderte Flexibilität mag anstrengend sein. Sie ist zugleich aber ein wirksames Gegenmittel gegen extremistische Vereinnahmungen.

Im Spannungsfeld zwischen Transzendenz und Immanenz

Den gemeinsamen Fluchtpunkt bildet dabei die Vorstellung von der strikten Jenseitigkeit des Gottesglaubens. Dieser kann in seiner Jenseitigkeit ebenso wenig direkten Zugriff auf die Sphäre der Gesellschaftsgestaltung beanspruchen, wie umgekehrt Politik und Gesellschaft sich nicht anmaßen dürfen, den Gottesglauben zu regulieren. Beides zusammengenommen heißt aber auch, dass der unvermeidliche Anspruch der Religion, auch das Leben ihrer Anhänger zu gestalten, eben immer nur über die Transformation religiöser Gedanken in politische Gedanken erfolgen kann – die dann auch über die Prozesse des Politischen regulierbar sind.

Die Unterstellung aller religiös motivierten Lebensführung unter ein für alle geltendes Recht ist die unvermeidliche Folge. Dass die Religion etwas zur Legitimation dieses Rechts beitragen kann, hebt ihre Bindung an das Recht nicht auf. Sie verstärkt sie nur noch. Denn diese Legitimation besteht gerade darin, den Unterschied zwischen Jenseitigem und Diesseitigem, zwischen Transzendenz und Immanenz wach zu halten. Alle religiösen, gesellschaftlichen oder staatlichen Positionen, die diese Differenz aufheben wollen – sei es unter Berufung auf den Koran oder auf ein christliches Abendland –, dürfen im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens in den säkularen Demokratien Europas auch künftig keine Geltungskraft erlangen.