Denken und Trinken: Gäste der Münchner Ethik-Konferenz beim anschließenden Umtrunk. (Alle Fotos: Beyond Good)
Philosophie

Wir sind die Guten

Anstand, Tugend, Werte: Auf Ethik-Konferenzen und in philosophischen Praxen suchen viele Bayern sittliche Festigung in einer scheinbar demoralisierten Gesellschaft. Sie erwartet der wohlige Grusel vor dem Weltuntergang - und ein frisches Obstbüffet.

Ein bisschen Apokalypse kann nicht schaden. Düsteren Blicks tigert der Bestsellerautor und Fernsehphilosoph Richard David Precht auf dem Podium hin und her. „All diese digitalen Systeme werden in hundert Jahren nicht existieren, weil unsere Erde Risse bekommt, weil wir uns um die natürliche Lebensgrundlage gebracht haben werden“, ruft er. Die künstliche Intelligenz, die Rechner und Roboter in den kommenden Jahren erlernen sollen, treibe den Menschen in eine „neue Schicksalsgemeinschaft mit den anderen Tieren“, prognostiziert Precht. Raunen im Publikum.

Disput der Denker

An diesem Nachmittag sind 280 Gäste ins oberste Stockwerk des Münchner Literaturhauses zu einer prominent besetzten „Ethik-Konferenz“ gekommen. Aus der Panorama-Fensterfront gleitet der Blick über die Dächer der Altstadt. Im Tagungsraum geht es um das Große und Ganze, um Werte, um Sinn und Verstand. Ein halbes Dutzend Denker und Autoren räsoniert über globale Zusammenhänge. Der Philosophieprofessor und vormalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin erörtert das Für und Wider nationaler Grenzen, der Soziologe Armin Nassehi spricht über die „Ethisierung von Konflikten“. Zeitungskolumnist Axel Hacke liest die Einleitung seines Buches „Über den Anstand in schwierigen Zeiten“ vor.

Zu seinem apokalyptischen Ausbruch hat den Redner Precht sein Vorredner, der Volkswirt und Philosoph Birger Priddat, provoziert. Der Professor hatte den Zuhörern eine „Sittenlehre der digitalen Welt“ serviert und dabei die kultivierende Wirkung intelligenter Computersysteme gepriesen. Sein Beleg: Die Suchassistentin „Alexa“ aus dem Amazon-Kosmos reagiere kühl auf ordinäre Anrede und gar nicht auf Fragen, die im Dialekt gestellt werden. Wer diese Frauenstimme zu Antworten ermuntern will, muss auf Hochdeutsch ohne Schimpfwörter fragen. „Wenn wir so respektlos mit diesen Systemen umgehen, wie mit anderen Menschen, dann schalten sie ab“, hat Priddat beobachtet. Precht bringt diese optimistische Sicht wenig später zur empörten Gegenrede: „Der Palo-Alto-Kapitalismus liefert Antworten auf Fragen, die die Menschheit nie gestellt hat.“

Moralische Festigung für Führungskräfte

Soviel Expertenstreit macht hungrig. In einer Pause knabbern die Zuhörer am Büffet frische Äpfel und Birnen, dazu gibt’s Eistee. Eine junge Dame von der BMW-Stiftung erläutert ihrem Gegenüber, dass der Automobil-Konzern Führungskräfte zu den Vorträgen schicke: Um ihnen „mehr ethische Grundsätze zu vermitteln“.

Mögen in den USA auch ein taktloser Präsident wüten und in Europa populistische Lautsprecher tönen, mag im Internet oft ein unangenehm boshafter Tonfall herrschen und im alltäglichen Miteinander der Umgang verrüpeln – privat sehnen sich im Land der Dichter und Denker viele nach mehr Tiefgang. Philosophie ist in ihrer lebensberatenden Form zu einer nachgefragten Dienstleistung geworden. In „Philosophischen Praxen“ bieten Coaches Sinnsuchern die Möglichkeit, grundlegende Fragen zu erörtern. Allein vier solcher Praxen verzeichnet das Branchenbuch für München, weitere im Fränkischen. Das „Philo-Cafe“ in Starnberg lockt mit Vorträgen über die Vorsokratiker im kleinen Kreis, der „Treffpunkt Philosophie“ in Nürnberg mit Seminaren zu Themen wie „In der Tugend liegt die Kraft“.

Glück, Liebe, Gelassenheit

Ein Millionen-Publikum hingegen erreicht Bestseller-Autor und Philosoph Wilhelm Schmid in knapp geschriebenen Brevieren. „Lebenskunstphilosophie“. Wie sich das Glück finden lasse, Liebe, mehr Gelassenheit. Und der katastrophal gestimmte Redner Precht von der Münchner Ethik-Konferenz leitet im ZDF inzwischen eine Talkshow, in Nachfolge des „Philosophischen Quartetts“ der Kollegen Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski. Am Rande der fünfstündigen Veranstaltung im Literaturhaus lässt sich ablesen, dass die Suche nach Werten den Besuchern auch einiges wert ist: Der Eintrittspreis beträgt 197 Euro, dafür gibt es neben einer Abend-Verköstigung auch optional eine „Master-Class“.