Die seit Monaten andauernde Flüchtlingskrise fordert immer mehr ihren Tribut. Am Mittwoch zeigte das ZDF in seiner Dokureihe ZDF Zoom wie es derzeit um die Lage der deutschen Polizeibeamten bestellt ist. Dass diese längst an ihrer Belastungsgrenze angekommen sind, ist ein offenes Geheimnis, auch der BAYERNKURIER berichtete mehrmals darüber („Wir kommen auf dem Zahnfleisch daher“, Magazin Ausgabe 5/2015). Zu wenig Sachmittel, zu wenig Personal, zu wenig Zeit zur Regeneration – die andauernden Einsätze an den Grenzen, in Flüchtlingsunterkünften und auf Bahnhöfen sind für die Beamten kaum noch leistbar – und auch ein Familienleben wird immer schwieriger. Die Polizei wird aktuell vor allem im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise eingesetzt. Für andere Dienste bleibt da kaum noch Zeit. Damit wird auch klar, was die Bundeskanzlerin mit ihrer „Wir schaffen das“-Politik gerade den Polizeibeamten zumutet.
Theorie trifft auf Wirklichkeit
Seit 1998 gibt es bei der Polizei bundesweit 16.000 weniger Stellen. Denn die Politik in vielen Bundesländern, aber auch im Bund, wollte diese Kosten sparen, um aus der Schuldenspirale heraus zu kommen. Sagt auch Jörg Radek, Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP).
Man war in den Parlamenten ausgerichtet auf einen ausgeglichenen Haushalt.
Jörg Radek
Mit der Schuldenbremse 2020 vor Augen sei es in den letzten Jahren immer nur um die „Schwarze Null“ gegangen. Es wurde in einigen Bundesländern immer mehr eingespart – eine Politik, die sich nun rächt.
Ein Beamter der Bundespolizei, der anonym bleiben will, sagte dem ZDF, eine lückenlose Kontrolle an den Grenzen (einschließlich der Grünen Grenzen), sei völlig unmöglich. Es fehle an Kollegen und den entsprechenden Sachmitteln. Ohne die Unterstützung durch die Bereitschaftspolizei würde es noch schlechter aussehen.
Deutlich wird die Überbeanspruchung der Polizei auch bei der Registrierung der Flüchtlinge – denn die Zeit reicht nur für die sogannten „Fast ID“. Das bedeutet, dass lediglich der Fingerabdruck genommen und abgeglichen wird. Für eine ordentliche Registrierung mit Foto und persönlichen Angaben fehlt die Zeit und die technische Ausrüstung. Auch der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, kritisierte vor ein paar Tagen, dass von den allermeisten Flüchtlingen nicht mal der Name aufgeschrieben werde. „Derzeit werden nur rund 10 Prozent der Flüchtlinge registriert“, so Wendt in der Huffington Post, der Rest werde aus Zeit- und Personalmangel mehr oder weniger durchgewinkt. Einzig der Fingerabdruck werde überprüft, um zu sehen, ob die Flüchtlinge schon einmal registriert wurden. Die Beamten hätten „längst die Kontrolle verloren“.
Die Last kann nicht verteilt werden
Vor allem der Personalmangel könnte dramatische Folgen haben, wie zwei Beispiele aus Hessen und Schleswig-Holstein zeigen. In einer offiziellen Leitlinie vom Oktober 2015, die der Bild vorliegt, teilte die Polizeidirektion Kiel mit, dass die Verfolgung von Diebstahl und Sachbeschädigung massiv eingeschränkt werde, wenn die mutmaßlichen Täter Flüchtlinge seien und deren Personalien nicht bekannt seien oder nicht innerhalb von zwölf Stunden ermittelt werden können. Die Begründung: Der Aufwand sei zu hoch und die Erfolgsaussichten zu gering.
Ein gefährliche Haltung, findet der CSU-Innenexperte im Landtag, Florian Herrmann. „Das ist eine Kapitulation des Rechtsstaats“, so der Abgeordnete. „Selbstverständlich müssen wir jede Art von Straftat verfolgen.“
In Bayern existiert so eine Regelung nicht. Unsere Gesetze in Deutschland kennen nicht zweierlei Maß.
Florian Herrmann
Die Aufklärung von Straftaten könne in Deutschland aufgrund des enormen Flüchtlingszuzugs nicht einfach massiv eingeschränkt werden. Auch die Fraktion der Grünen im Bayerischen Landtag hatte gefordert, „Bagatelldelikte“, wie zum Beispiel Ladendiebstahl oder Schwarzfahren nicht mehr zu ahnden. Die Landtags-CSU lehnte einen diesbezüglichen Antrag jetzt ab. „Die Bevölkerung hat kein Verständnis dafür, dass wegen der großen Zahl von Flüchtlingen plötzlich Ladendiebstahl oder Schwarzfahren legalisiert werden sollen. Wer solch unsinnige Vorschläge macht, treibt die Menschen in die Arme rechter Gruppierungen.“
Bürokratie frisst Einsatzzeit
In Hessen begleitete das Team von ZDF Zoom zwei Streifenbeamten. Pro Schicht sind dort drei Streifenteams mit je zwei Personen für ein Gebiet mit rund 80 Ortschaften zuständig. Im Schnitt brauchen die Beamten 20 bis 25 Minuten, bis sie am Einsatzort antreffen. Rund ein Drittel ihrer Schicht geht als reine Fahrzeit drauf. Besonders in ländlichen Gebieten dauert es sehr lange, bis die Beamten eintreffen. Aufgrund der Flüchtlingskrise wurde die Zahl der hessischen Beamten im Streifendienst reduziert. Und auch die bürokratischen Aufgaben, die in den letzten Jahren stark zugenommen haben, lastet nun auf den Schultern weniger Beamter. Rund die Hälfte der Schicht der hessischen Polizisten war Verwaltungsarbeit.
Ein zunehmendes Sicherheitsproblem sieht auch die ehemalige Polizistin und Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic (Grüne). Auf ihre Anfrage, wie viele Wachen der Bundespolizei 2015 unbesetzt blieben, antwortete die Bundesregierung: 34 – die Hälfte aller Wachen. Wegen Personalmangels.
Keine Zeit zur Erholung
Ein weiteres Problem: Die immense Zahl an Überstunden, die in den letzten Monaten zusammengekommen ist. Bundesweit haben die Polizeibeamten laut dem ZDF-Bericht rund 18 Millionen Überstunden. „Aus einzelnen Verbänden wissen wir, dass die Überstunden dort mindestens doppelt so hoch sind wie 2014“, so Peter Schall. Das mache in Bayern rund 31 Überstunden pro Polizist. Zusätzlich haben bayerische Polizisten auch noch während des G7-Gipfels Überstunden aufgebaut.
Bayern hat zwar den höchsten Personalstand aller Zeiten bei seiner Landespolizei und baut weitere Stellen auf, ist aber wegen der enormen Aufgabe als Hauptankunftsland der Flüchtlingslawine dennoch überbelastet.
Bei der momentanen Arbeitsbelastung kommt ein Beamter laut dem ZDF-Bericht im Schnitt auf eine 80-Stunden-Woche. Dabei schreibt die Europäische Arbeitszeitverordnung klar vor, dass maximal 48 Stunden in der Woche gearbeitet werden darf. Auf Anfrage des ZDF wiegelte das Bundesinnenministerium ab, denn die Überstunden würden ja abgebaut werden. Meist haben zwar nach der Arbeitswoche die Polizisten tatsächlich eine Woche frei, jedoch nicht immer – erneut wegen Personalmangels.
Eine konkreten Abbauplan gibt es auch nicht. „Konkret gibt es nur die seit Jahren bestehende Vorgabe von durchschnittlich 25 Überstunden pro Beamten, wobei jedem klar ist, dass dieses Ziel für 2015 und 2016 utopisch ist“, erklärt Peter Schall, Landesvorsitzender der GdP in Bayern.
Soweit irgend möglich, werden Mehrarbeitsstunden bei Einverständnis des betroffenen Beamten ausgezahlt, wobei viele Beamte einen Ausgleich in Freizeit bevorzugen. Und es werden soweit irgend möglich Überstunden durch Freizeitausgleich abgebaut. So versucht man auch, bei Einsätzen soweit vertretbar möglichst wenige Beamte einzusetzen.
Peter Schall, Landesvorsitzender der GdP in Bayern
Auch Friedemann Kainer, Arbeitsrechtsexperte an der Uni Mannheim, teilt die Auffassung der Bundesregierung nicht. Denn die Verordnung schreibe weiter vor, dass die Überstunden innerhalb von vier Monaten abgebaut werden müssen – was in der momentanen Situation aber nicht möglich ist. Doch der fehlende Freizeitausgleich geht zu Lasten der Gesundheit der Beamten. Und ein Ende ist nicht in Sicht, denn die Flüchtlingswelle rollt weiter (der Bayernkurier berichtete).
Mehr Personal – nur wie?
Deutschland braucht mehr Polizeibeamte. Dieses Problem muss gelöst werden – was jedoch nicht einfach ist. Denn die Ausbildung dauert drei Jahre. In Sachsen will man sich deshalb beispielsweise mit sogenannten Wachpolizisten behelfen. Diese erhalten einen dreimonatigen Crashkurs und sollen dann vor allem zum Objektschutz von Flüchtlingsunterkünften eingesetzt werden. Im Februar soll ihre Ausbildung beginnen. Andernorts werden Verwaltungsmitarbeiter gefordert, um die Polizisten wenigstens von der Schreibtischarbeit zu entlasten.
Im Nachtragshaushalt des bayerischen Landtages wurden 900 neue Stellen genehmigt – doch auch hier steht man vor dem Problem der langen Ausbildungsdauer. „Selbst wenn man auf die sogenannte Einsatzstufe verzichten würde, dauert die Ausbildung zweieinhalb Jahre. Der Regelfall sind jedoch drei Jahre“, so Peter Schall.
Das Mantra der Kanzlerin „Wir schaffen das“ geht also auf Kosten der inneren Sicherheit in Deutschland – und auf Kosten der Polizeibeamten. So kann es nicht weitergehen.