Schon um 6 Uhr stehen die ersten Flüchtlinge bei Minustemperaturen zur Registrierung in der Erstaufnahme (LaGeSo) in der Turmstraße an. Foto: imago/ Ulli Winkler
Flüchtlingskrise

„Können nicht ausschließen, dass Menschen sterben“

Seit Wochen herrschen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Berlin unhaltbare Zustände. Vor dem Gebäude in dem sich auch die zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber befindet, warten täglich hunderte Menschen unter freiem Himmel auf ihre Termine. Der nahende Winter macht die Situation nicht besser. Helfer befürchten das Schlimmste.

Wenn schon das wirtschaftsstarke und finanziell gesunde Bayern mit dem Asylansturm über die Belastungsgrenze hinaus ist, wie sieht es dann erst in anderen Bundesländern aus? Ein Blick nach Berlin offenbart üble Zustände.

Jeden Tag spielen sich vor dem Lageso-Gebäude im Berliner Stadtteil Moabit die gleichen Szenen ab: In den frühen Morgenstunden, wenn es noch dunkel ist, versammeln sich hunderte von Menschen auf dem Vorplatz. Manche haben sogar die Nacht dort verbracht. Die Menschen sind Flüchtlinge, die hier auf ihre „Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender“ warten. Denn erst, wenn sie als Flüchtling offiziell registriert sind, erhalten sie Unterstützung. Bis dahin sind sie komplett auf sich alleine gestellt. An machen Tagen warten bis zu 2000 auf ihre Registrierung.

Doch die Mitarbeiter des Landesamtes sind mit der Zahl der Flüchtlinge vollkommen überfordert. An allen Ecken und Enden fehlt es an Personal. Zwar hat der Berliner Senat mehr Personal in Aussicht gestellt, doch erst ein Viertel davon ist einsatzbereit. Auf dem Gelände an der Turmstraße ist nicht nur die Zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber untergebracht, bei der sich alle neu angekommenen Flüchtlinge in Berlin melden müssen, sondern auch die Abteilungen für Gesundheit, Soziales, Versorgung und zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung. Die Mitarbeiter sind dem Ansturm auf das Gebäude schlicht nicht mehr gewachsen. Es ist ein Nadelöhr: Jeder Asylbewerber muss hier durch. Andere Bundesländer haben mehrere solcher stellen geschaffen.

Das Wetter verschärft die Situation vor dem Lageso zusätzlich

Während im Sommer die Hitze auf dem Platz das Warten fast unerträglich machte, haben die Menschen jetzt mit Regen und schneidendem Wind zu kämpfen. Neben dem beinah schon sprichwörtlichen, üblichen Berliner Chaos und Versagen kommt hinzu, dass die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Grenzen für syrische Flüchtlinge zu öffnen, die prekäre Situation in der Turmstraße offenbar weiter verschärft hat.

Neben der Bürgerinitiative „Moabit hilft!“ kümmern sich zumeist ehrenamtliche Helfer von Caritas, Diakonie und den Johannitern um die Wartenden und versorgen sie mit Tee, Keksen und Decken. Von der Politik fühlen sie sich allein gelassen.

Unter den Wartenden sind Kinder, die zitternd und blau angelaufen in der Kälte stehen.

Ulrike Kostka, Direktorin der Caritas

„Wir können nicht mehr ausschließen, dass Menschen sterben.“ Mit dieser drastischen Aussage will Ulrike Kostka, Direktorin der Caritas die Verantwortlichen endlich wachrütteln. Der Caritasverband forderte den Berliner Senat zu Sofortmaßnahmen auf, um die Situation in der Turmstraße zu entschärfen. Kostka will, dass vor dem Gebäude Wartebereiche errichtet werden, die überdacht und geheizt sind. Zudem drängt sie auf die Einrichtung eines Koordinierungsstabes für die medizinische Versorgung.

Die verzweifelten, wartenden Menschen werden Tag für Tag immer verzweifelter und der Winter steht vor der Tür.

Stellungnahme von „Moabit hilft!“

Zumindest in Sachen Wartebereiche scheint sich endlich etwas zu bewegen. Berlins Sozialminister Mario Czaja (CDU) erklärte, dass in den nächsten Tagen „beheizte und überdachte Wartebereiche“ in der Turmstraße entstehen sollen. Den Vorwurf, es werde weiterhin zu wenig Personal eingestellt, wies Czaja zurück. Es würden täglich neue Mitarbeiter eingestellt, die aber auch eingearbeitet werden müssen.

Noch keine Spur von Mohamed

Wie unübersichtlich die Lage vor dem Lageso-Gebäude ist, zeigt auch die Geschichte des kleinen Jungen Mohamed. Der Vierjährige verschwand am 01.Oktober. Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, wie der Junge an der Hand eines fremden Mannes das Gelände verlässt. Der Mann hatte sich schon in den Tagen zuvor immer wieder vor dem Landesamt aufgehalten. Trotz intensiver Ermittlungen fehlt von Mohamed weiter jede Spur.

Flüchtlinge klagen gegen Lageso

Beim Berliner Sozialgericht sind mittlerweile gut 50 Eilanträge gegen das Landesamt eingegangen. Die Betroffenen warten seit mehreren Wochen und möchten endlich Geld für ihren Lebensunterhalt oder eine Wohnung. Manche wollen aber auch ihre Zuweisung in ein anderes Bundesland nicht akzeptieren.

„Wir arbeiten mit Hochdruck an den Fällen, wo die Notlage mit Händen zu greifen ist“, sagt Marcus Howe, Sprecher des Sozialgerichts am Dienstag. Jedoch müsse das Landesamt zu jedem Verfahren schriftlich Stellung nehmen, was nicht gerade zu einer Entlastung der Mitarbeiter dort führe. Die Flüchtlinge hätten zwar selbst keine Anwälte, jedoch ein Netzwerk an Unterstützern, so Howe.

Das Sozialgericht wirkt wie ein Notanker. Aber wir können kein warmes Essen verteilen.

Marcus Howe, Sprecher des Berliner Sozialgerichts

Ein besondere Herausforderung sieht Marcus Howe zudem in der Zustellung der Entscheidungen. Denn die meisten Flüchtlinge haben noch keine feste Adresse. Den Richtern bliebe daher meist nichts anderes übrig, als sie telefonisch zu kontaktieren. Doch dafür braucht es oft einen Dolmetscher. Nun sei man dazu übergegangen, die Entscheidung in einem großen Schaukasten auszuhängen.

Neue Außenstelle soll für Entspannung sorgen

Im Stadtteil Wilmersdorf ist am Donnerstag eine Außenstelle des Lageso eröffnet worden, die die Mitarbeiter entlasten soll. In der ehemaligen Zentrale der Landesbank in der Bundesallee wurde eine weitere Erstregistrierungsstelle eingerichtet. Der große Vorteil: Dank eines großen Wartesaals müssen die Flüchtlinge nicht in der Kälte ausharren.

Grundsätzlich begrüßt die Caritas die neue Erstaufnahmestelle, äußert jedoch auch Bedenken. „Da die Flüchtlinge weiterhin vom Lageso aus in die Bundesallee gebracht werden sollen, wird die Neueröffnung die Wartesituation am Lageso nicht entschärfen“, glaubt Ulrike Kostka. Denn in der Turmstraße wird auch weiterhin die erste „Kurzregistrierung“ durchgeführt und ein Termin für die eigentliche Registrierung in der Außenstelle in der Bundesallee gemacht. Und auch die Flüchtlinge, die in Berlin schon seit Wochen oder Monaten auf ihre Sozialleistungen warten, müssen weiterhin dorthin.

„Die Wartezeit bis zur Registrierung kann anfangs bis zu drei Wochen betragen“, so Reinhard Naumann (SPD), Bürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf. Niemand werde also direkt von der Turmstraße in die Bundesallee gefahren. Stattdessen soll es ein völlig neues Verfahren geben.

Per Bus sollen die Flüchtlinge von Moabit in eine Notunterkunft auf dem ehemaligen Tetrapak-Gelände an der Hennigsdorfer Straße gebracht werden. Und erst später dann von dort aus zu ihren Terminen in der Bundesallee. Eingelassen werde nur, wer ein Bändchen trägt, auf dem der Registrierungstermin steht.

Seit Anfang September, mit Beginn des Zustroms über die Balkanroute, sind rund 18.500 Flüchtlinge in Berlin angekommen.

Aufgrund der engen Personallage können im Landesamt in der Turmstraße pro Tag nur rund 200 Fälle bearbeitet werden. In der neueröffneten Außenstelle in der Bundesallee sollen es rund 300 Fälle pro Tag werden, so die Zielsetzung.