Deutsch-deutsche Teilung: Grenztruppen der DDR im Jahr 1984 bei einer Übung in der Nähe von Suhl. (Foto: Picture Alliance/Eberhard Klöppel)
Zeitgeschichte

Hat es die DDR nie gegeben?

Gastbeitrag Dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution in Ostdeutschland droht die Erinnerung an die Verbrechen der sozialistischen Diktatur aus der Erinnerung zu verschwinden. Eine Mahnung gegen das Vergessen von Hubertus Knabe.

Geschichte wiederholt sich nicht – heißt es. Und doch hat man den Eindruck, manches schon einmal erlebt zu haben. 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland erinnert der Umgang mit der DDR immer mehr an Zeiten, als es in Westdeutschland Mode war, den sozialistischen Staat als Alternative zur Bundesrepublik zu betrachten. Entgegen ihrem Selbstbild, die finsteren historischen Epochen gründlich aufgearbeitet zu haben, haben die Deutschen offenbar nur wenig aus ihrer Geschichte gelernt.

Vor dem Sturz der SED-Diktatur war es in der Bundesrepublik vielfach en vogue, für den Sozialismus zu sein – was es, vor allem bei SPD und Linken, auch heute wieder ist. Deutliche Kritik an den Zuständen in der DDR wurde damals hingegen gern als „rechts“ abgestempelt – was heutzutage unter anderem die staatlich alimentierte Amadeu Antonio Stiftung wieder tut. In vielen Bundesländern wurden die Lehrer überdies dazu angehalten, „vorurteilsfrei“ über den zweiten deutschen Staat zu unterrichten. Heute meinen viele Schüler, in der DDR hätte es freie Wahlen gegeben und die Stasi sei ein ganz normaler Geheimdienst gewesen – wenn sie denn überhaupt noch wissen, was die drei Buchstaben D-D-R bedeuten.

Eine der folgenschwersten Weichenstellungen war es, dass die ehemalige Staatspartei der DDR weder aufgelöst noch verboten wurde.

Hubertus Knabe

Und was in den 1970er- und 1980er-Jahren das nur noch formelhafte Gedenken an den Volksaufstand am 17. Juni war, das könnte in diesem Jahr die Erinnerung an 30 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall werden. Dass das Jubiläum von den Spitzen des Staates mehr als Pflichtübung wahrgenommen wird, konnte man unter anderem daran erkennen, dass das Bundeskabinett erst im April eine Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ einberief. Um zu verstehen, warum die Erfahrung der 40-jährigen SED-Diktatur nicht zu einem ähnlichen Bruch wie beim Nationalsozialismus geführt hat, muss man vermutlich weiter ausholen. Denn die Ursachen dafür liegen auf verschiedenen Ebenen, zum Teil reichen sie weit in die Geschichte zurück.

Schönfärber im Westen

Da ist zum einen, dass die „Deutschen Irrtümer“, wie der Politologe Jens Hacker sein Buch über die Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen genannt hat, nie aufgearbeitet wurden. Weder Politiker noch Journalisten, weder Gewerkschaftsbosse noch Hochschullehrer wollten nach 1989 an ihre peinliche Anbiederung an die DDR erinnert werden. Die SPD brachte es sogar fertig, diese als Wurzel der Friedlichen Revolution zu verkaufen.

Auch die Eliten im Osten scheuten vor einer fundamentalen Abrechnung mit der SED- Diktatur zurück. Die meist kirchlich geprägten Bürgerrechtler wollten lieber Versöhnung und hielten den Sozialismus lange Zeit für das bessere System. Die Blockparteien, die mit den West- Parteien fusionierten, passten sich zwar in Windeseile an, fürchteten aber, bei einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit mit auf der Anklagebank zu landen. Die Funktionäre und die von ihnen gehätschelte Führungsschicht hatten naturgemäß erst recht kein Interesse, den Sozialismus zu verdammen. So kam es, dass der früh einsetzenden Verklärung der DDR nur wenig Widerstand entgegengesetzt wurde.

Ob Schulen, Polizeistationen, Behörden: Die Opfer trafen überall auf altbekannte Gesichter.

Hubertus Knabe

Eine der folgenschwersten Weichenstellungen für diesen Prozess der geistigen Restauration war es, dass die ehemalige Staatspartei der DDR weder aufgelöst noch verboten wurde. Der ehemalige SPD-Fraktionschef in der ostdeutschen Volkskammer, Richard Schröder, behauptete später, dies sei unterblieben, weil es die Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung gefährdet hätte. Belege dafür nannte er nicht. Der Oberste Sowjet hatte selber am 29. August 1991 die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) mit ihren über 19 Millionen Mitgliedern verboten und aufgelöst. Mindestens ebenso wichtig wie die Nachsicht der SED-Gegner war freilich die Entschlossenheit der DDR-Funktionäre, die Partei, die ihnen bis dahin den Lebensunterhalt gesichert hatte, vor dem Untergang zu bewahren. Vor allem der heutige Linken-Abgeordnete Gregor Gysi, der sich im Dezember 1989 zum Vorsitzenden der SED wählen ließ, sorgte damals dafür, dass die Partei nicht auseinanderfiel, sondern sich bloß umbenannte. So kam es, dass die gestürzte Diktaturpartei von Anfang an das politische Klima im wiedervereinigten Deutschland vergiftete.

Zu den Folgen dieser Entscheidung zählte nicht nur, dass die SED mit hoher krimineller Energie ihr Milliardenvermögen beiseiteschaffte, auch die Mitgliederkartei und die Akten ihrer 55.000 Nomenklaturkader wurden komplett vernichtet. Vor allem aber nutzten die Funktionäre ihre überlegene Ausgangsstellung im Osten dazu, um sich einen Platz im neuen politischen System der Bundesrepublik zu sichern. Mit ihrem Geld, ihrem Apparat und ihrem Personal schürten sie hemmungslos die Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher über die sozialen Folgen der Friedlichen Revolution. Mit wachsendem Erfolg stilisierten sie sich dabei zum Sprachrohr des Ostens und agitierten gegen das wirtschaftliche und politische System der Bundesrepu­blik – obwohl sie selbst die DDR in den Untergang geführt hatten.

Aufstieg der PDS

Anders als Helmut Kohl und viele andere Politiker dieser Zeit annahmen, erledigte sich die PDS, wie die SED seit 1990 hieß, nicht von allein. Im Gegenteil: Hatte die Partei bei der letzten Volkskammerwahl noch 16,4 Prozent erzielt, konnte sie ihre Wahlergebnisse in der Folgezeit kontinuierlich steigern. Innerhalb eines Jahrzehnts wuchs ihr Anteil in Brandenburg von 18,7 (1994) auf fast 28 Prozent (2004). In Sachsen nahm sie im selben Zeitraum von 16,5 auf 23,6 Prozent zu, in Thüringen und Sachsen-Anhalt sah es ähnlich aus. Die Wahlerfolge spülten nicht nur frisches Geld in die Kassen der Partei, sondern gaben ihr auch wieder größere Möglichkeiten, Seilschaften und Vorfeldorganisationen zu unterstützen. Zu den Folgen zählte, dass zahlreiche ehemalige SED-Funktionäre und Stasi-Mitarbeiter in die Parlamente einzogen – wo sie oftmals bis heute sitzen und zum Teil sogar über die Regierungspolitik mitentscheiden.

In Deutschland sind weder das Zeigen der Symbole des SED-Staates noch dessen Verherrlichung verboten.

Hubertus Knabe

Damals, um die Jahrtausendwende, erlebte Deutschland eine geradezu bizarre Welle der DDR-Nostalgie. Ehemalige Systemträger wie Gregor Gysi oder der Chef der DDR-Spionage, Markus Wolf, bevölkerten jetzt wie selbstverständlich die Talkshows. Auch DDR-Museen und Ostalgie-Shops schossen wie Pilze aus dem Boden. Politiker und Journalisten begannen plötzlich, die „Vorteile“ der SED-Diktatur herauszustellen, von der die Bundesrepublik angeblich noch lernen könnte.

Ostalgie im Fernsehen

Höhepunkt waren die sogenannten Ostalgie-Shows im Sommer 2003. Die frühere DDR- Eiskunstläuferin Katarina Witt erlangte dabei nachhaltige Berühmtheit, weil sie vor laufenden Kameras in der Uniform der Jungen Pioniere auftrat. ZDF-Moderatorin Andrea Kiewel ging noch weiter und rief mit erhobener Faust vor fast fünf Millionen Zuschauern aus: „Für Frieden und Sozialismus – seid bereit!“, woraufhin die Zuschauer im Chor erwiderten: „Immer bereit!“.

Dieser – zurückhaltend formuliert – nachsichtige Umgang mit der zweiten Diktatur auf deutschem Boden hatte vielfältige Folgen. Zu den Konsequenzen gehört unter anderem, dass in Deutschland weder das Zeigen der Symbole des SED-Staates noch dessen Verherrlichung verboten sind. Im Unterschied zu den meisten anderen post-sozialistischen Staaten darf in der Bundesrepublik jeder mit den Hoheitszeichen der DDR auf dem T-Shirt herumlaufen. Man kann sogar mit Hammer und Sichel und rotem Stern für die Wiedereinführung des Kommunismus demonstrieren und Massenmörder wie Josef Stalin oder Mao Tse-tung hochleben lassen. Dabei war die DDR-Fahne in Westdeutschland schon einmal verboten und die Symbole von KPD und FDJ sind es bis heute – nur bestraft wird dafür keiner.

Straffreiheit für die Stasi

Straffrei gingen auch die meisten Verantwortlichen für das SED-Regime aus. Obwohl es in der DDR über 200.000 politische Gefangene gab, Zehntausende Häftlinge misshandelt und über 1.000 Flüchtlinge an den Grenzen erschossen oder schwer verletzt wurden, kamen lediglich 40 Täter in Haft – die meisten für kurze Zeit. So mussten von den 22 Politbüromitgliedern nur fünf eine Gefängnisstrafe absitzen, keiner länger als vier Jahre. Von den 92.000 Mitarbeitern des gefürchteten Staatssicherheitsdienstes wurde praktisch überhaupt keiner verurteilt, sodass dessen letzter Chef, Wolfgang Schwanitz, schon vor Jahren verkündete, sie seien „juristisch rehabilitiert“. Schuld daran waren nicht nur mild gestimmte Richter, sondern auch die Unterhändler des Einigungsvertrages, die festlegten, dass das SED-Unrecht nur nach SED-Recht bestraft werden durfte.

Viele Opfer stehen heute schlechter da als ihre Peiniger.

Hubertus Knabe

Mit dem Einigungsvertrag wurde auch ein Großteil des DDR-Staatsapparates in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik übernommen. Ob Schulen, Polizeistationen, Behörden: Die Opfer trafen überall auf altbekannte Gesichter. Selbst von den 28.000 Stasi-Mitarbeitern, die bei Überprüfungen in den ostdeutschen Landesverwaltungen entdeckt wurden, durfte mehr als die Hälfte weiterarbeiten. Lange Zeit kontrollierten sogar in der Stasi-Unterlagen-Behörde ehemalige Geheimdienstmitarbeiter die Ausweise der Opfer, bevor diese ihre Akten sehen durften.

Weil die Überprüfungen nicht obligatorisch waren, blieben sie zumeist lückenhaft. Parteifunktionen wurden überhaupt nicht gecheckt und welche Konsequenzen bei einer Enttarnung zu ergreifen waren, war nirgendwo vorgeschrieben. Nicht einmal die Mitglieder des Bundestags oder der Bundesregierung wurden – anders als in Rumänien – verpflichtet, sich einer Überprüfung zu unterziehen. Auch eine Unvereinbarkeit von einem hohen Amt mit einer früheren Stasi- oder SED-Tätigkeit – wie in Tschechien – gibt es nicht.

Wenig Hilfe für die Opfer

Ehemalige SED-Gegner hatten nach der Wiedervereinigung dagegen wenig Chancen, Einfluss zu gewinnen. Weil sie in der DDR in der Regel nicht studieren durften, kamen sie für Führungspositionen zumeist nicht in Frage. Niemand kümmerte sich darum, ihnen mit gezielten Programmen nachträglich zu den notwendigen Berufsabschlüssen zu verhelfen. In der Stasi-Unterlagen-Behörde wurde ihnen zunächst sogar bei Stellenbesetzungen bewusst der Zugang versperrt.

Dass die Opfer der SED-Diktatur kaum Gewicht haben, zeigte sich auch bei ihrer Entschädigung. Statt das Bundesentschädigungsgesetz von 1956 auf die in der DDR Verfolgten auszuweiten, beschlossen die Politiker ein neues, billigeres System. Die sogenannten SED-Unrechtsbereinigungsgesetze sahen dabei keinen Ausgleich mehr für erlittene Schäden vor, sondern nur noch eine Milderung fortdauernder Beschwernisse. Im Klartext: Außer einer Kapitalentschädigung von 307 Euro pro Monat Haft erhalten die Opfer nur dann eine monatliche Unterstützung von derzeit 300 Euro, wenn sie weniger als 1.272 Euro verdienen. Viele Opfer stehen dadurch heute schlechter da als ihre Peiniger, da die hohen Rentenansprüche für die staatsnahen DDR-Eliten 1:1 in das bundesdeutsche Rentensystem überführt wurden.

Wie wenig Deutschland aus der Erfahrung des real existierenden Sozialismus gelernt hat, zeigte sich schlaglichtartig, als im vergangenen Jahr der 200. Geburtstag von Karl Marx begangen wurde.

Hubertus Knabe

Für die Zukunft noch relevanter ist freilich, dass die Gründe für die Unterdrückung in der DDR den meisten Deutschen nicht bewusst sind. Umfragen bringen immer wieder ein erschreckendes Unwissen und bizarre Fehlurteile zutage. Selbst ausgebildete Historiker können oft nicht sagen, warum die Mauer und die Stasi existierten. Viele glauben, es hätte am Unvermögen der Machthaber – oder am Kalten Krieg – gelegen, dass sie an den Grenzen auf ihre Bürger schießen und ihre Kritiker ins Gefängnis werfen ließen. Die wenigsten sind sich im Klaren darüber, dass die SED-Diktatur auf einer Ideologie basierte, die gewaltsame Unterdrückung für legitim und notwendig hielt, um eine vermeintlich bessere Gesellschaft zu schaffen – ein Politikkonzept, das auch heute wieder auf Sympathien stößt: der Sozialismus.

Marx wird gefeiert

Wie wenig Deutschland aus der Erfahrung des real existierenden Sozialismus gelernt hat, zeigte sich schlaglichtartig, als im vergangenen Jahr der 200. Geburtstag von Karl Marx begangen wurde. Statt kritisch über seine Theorien nachzudenken, deren Verwirklichung rund 100 Millionen Menschen mit dem Tod bezahlen mussten, überschlugen sich die Feuilletonisten geradezu vor Begeisterung über den deutschen Denker, der die Diktatur des Proletariats zum Programm erhoben hatte. Die Stadt Trier ließ sich sogar eine fünf Meter hohe Marx-Statue von Chinas Kommunisten schenken und selbst Kardinal Reinhard Marx schwärmte öffentlich von seinem Namensvetter.

Ende Juni beschloss der Kulturausschuss im Bundestag, dass die Stasi-Unterlagen in das Bundesarchiv überführt werden sollen. Die größte Institution zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit wird damit wohl in Kürze abgewickelt. Das vergrößert die Gefahr, dass die sozialistische Diktatur noch mehr aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwindet. Es fehlt nicht mehr viel und die DDR hat es nie gegeben.

Hubertus Knabe ist Historiker. Er leitete 18 Jahre lang die Gedenkstätte im früheren Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen.