Im berüchtigten DDR-Gefängnis: Dr. Hubertus Knabe ist Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen in Berlin, die zentrale Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit von 1951 bis 1989. (Bild: Imago/Ulli Winkler)
Kriegsende

Im Osten Deutschlands gab es 1945 keine Befreiung

Kommentar Die Sowjets wandelten die KZ der Nazis in Ostdeutschland schlicht in „Speziallager“ um, die deutsche Version des GuLAG. So erwuchs aus der einen Diktatur die nächste: Aus dem NS-Staat wurde die SBZ und dann die DDR. Bis heute ist der Umgang mit dem Thema teilweise von Verlogenheit geprägt. Eine historische Analyse von Hubertus Knabe.

Das Ende der einen Diktatur war der Beginn der nächsten: In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 unterzeichneten die Oberkommandierenden der deutschen Truppen ihre bedingungslose Kapitulation – und besiegelten damit das Ende des Zweiten Weltkrieges und des mörderischen Nazi-Regimes. Zur selben Zeit durchkämmten sowjetische Geheimpolizisten bereits systematisch die eroberten Gebiete und installierten einen neuen Terrorapparat. Am Tag, als die NS-Diktatur endete, saßen schon 400000 Deutsche in Haft.

Rote Armee brachte keineswegs die Freiheit

Dass die Diktaturen Hitlers und Stalins östlich der Elbe so nahtlos ineinander übergingen, droht in Deutschland in Vergessenheit zu geraten. Die nachträgliche Erleichterung darüber, dass mit dem Sieg der Alliierten das Morden der Nazis ein Ende fand, lässt viele dar­über hinwegsehen, dass die Rote Armee den Ostdeutschen am 8. Mai 1945 keineswegs die Freiheit brachte. In Wirklichkeit kam mit den sowjetischen Truppen ein neues Terrorregime nach Deutschland, das die Bevölkerung überall in Angst und Schrecken versetzte. Zehntausende Angehörige des Volkskommissariates für innere Angelegenheiten (NKWD) und des militärischen Abwehrdienstes „Tod den Spionen“ (SMERSCH) marschierten seit Januar 1945 über die deutsche Reichsgrenze und begannen, einem Befehl des NKWD-Chefs Lawrentij Berija folgend, „auf dem von gegnerischen Truppen befreiten Territorium unverzüglich die notwendigen tschekistischen Maßnahmen durchzuführen“.

Vor allem in den Gebieten östlich von Oder und Neiße war der Einmarsch der Roten Armee von einer Orgie der Gewalt begleitet. Plünderungen, Vergewaltigungen und die willkürliche Tötung von Zivilisten waren die erste Erfahrung der Deutschen mit den neuen Machthabern. „Unzählige Horden von Russen zogen raubend, plündernd, singend durch die Keller“, beschrieb eine Frau aus Danzig das Verhalten der Soldaten. „Was ihnen gefiel, schleppten sie auf ihre Wagen, alles andere wurde zertreten, zerrissen, verwüstet.“ Anschließend setzten sie oftmals Höfe, Häuser und Stallungen in Brand und vernichteten dadurch die Lebensgrundlage der Bevölkerung.

So wie der materielle Besitz des Feindes wurden auch die Frauen als legitime Beute der Besatzer betrachtet. Augenzeugen haben immer wieder beschrieben, wie ganze Kompanien sich an den Frauen, unabhängig von deren Alter, befriedigen durften. „In Rudeln standen sie vor jedem Haus“, berichtete ein Pfarrer aus dem pommerschen Lauenburg, „bis zu 45 vergewaltigten sie eine deutsche Frau, ohne Rücksicht, ob sie schließlich im Sterben lag.“ Schätzungen zufolge wurden zwei Millionen Frauen und Mädchen vergewaltigt.

Zu den Schrecken der Eroberung gehörte auch die willkürliche Liquidierung von Zivilisten. Allein im Zuge des Einmarsches in die Gebiete östlich von Oder und Neiße starben vermutlich 75.000 bis 100.000 Menschen. In Berlin wurden von Mai bis Dezember 1945 insgesamt 65.000 gewaltsame Todesfälle registriert. Bürgermeister, Gemeindevorsteher oder Ortsgruppenführer wurden in vielen Orten sofort exekutiert; Gutsbesitzer, Unternehmer oder Bauern, bei denen Zwangsarbeiter arbeiteten, kurzerhand erschossen. Männer, die ihren Frauen oder Töchtern zur Hilfe eilten, wurden mit der Waffe erledigt.

Lager nach GULag-Vorbild

Wenn heute der Befreiung der Konzentrationslager gedacht wird, wird oft vergessen, dass diese vielfach bald mit neuen Häftlingen belegt wurden. Aus den KZ in Buchenwald oder Sachsenhausen wurden sowjetische „Speziallager“. Laut offiziellem „Schlussbericht“ der Lagerverwaltung sind zwischen dem 15. Mai 1945 und dem 1. März 1950 in der sowjetischen Besatzungszone knapp 123.000 Deutsche in Lagerhaft gekommen. Andere Unterlagen belegen, dass sogar fast 150.000 Deutsche die Lager durchliefen. Hinzu kamen 236.000 Deutsche, die in den Ostgebieten verhaftet wurden. Die Gesamtzahl beträgt damit 384.000. Zählt man jene Deutschstämmigen hinzu, die beim Vormarsch der Roten Armee in Südosteuropa verhaftet und verschleppt wurden, kommt man sogar auf eine knappe halbe Million.

In ihrem Aufbau entsprachen die Lager haargenau denen des GULag. In einer Anordnung vom Juli 1945 hieß es: „Alle Gebäude des Lagers mit Ausnahme der Diensträume müssen sich hinter einer festen Umzäunung oder einem Stacheldrahtverhau von mindestens 3 Meter Höhe befinden.“ Vor und hinter der Umzäunung war jeweils eine „verbotene Zone“ einzurichten, die durch zusätzliche Stacheldrahtreihen begrenzt wurde. An den Ecken hatten sich Wachtürme mit schwenkbaren Scheinwerfern zu befinden. Insgesamt entstanden in der sowjetischen Besatzungszone ein Dutzend derartiger Lagerstandorte.

Funktionshäftlinge wie in der NS-Zeit

Im öffentlichen Gedächtnis spielen diese Fakten kaum eine Rolle. Selbst in der Geschichtsschreibung gibt es einen merkwürdigen Hang zur Bagatellisierung.

Um die großen Häftlingsmassen mit möglichst geringem Aufwand zu verwalten, stützten sich die Sowjets – wie die Nationalsozialisten – auf Funktionshäftlinge. Die Kommandanten setzten einen deutschen Lagerleiter ein, der auf ein komplexes System von Untergebenen zurückgreifen konnte: Barackenälteste, Barackensanitäter, Kommandoleiter, Spieß, Melder oder Lagerpolizisten.

Von Anfang an litten die Häftlinge unter Hunger. Offiziell sollten sie dieselben Rationen wie Kriegsgefangene erhalten. Das waren 600 Gramm stark wasserhaltiges Brot pro Tag, dazu ein Schlag Suppe mit Kartoffeln, Gemüse, Fisch, Fleisch und Fett, schließlich etwas Zucker. In der Praxis wurde diese Verpflegungsnorm jedoch nie eingehalten. „Die Tageszuteilung besteht aus 300 Gramm glitschigem Brot, einem gestrichenen Esslöffel braunem Zucker und einem halben Liter Blümchenkaffee zum Frühstück“, berichtete zum Beispiel Alfred Jank über die Ernährung im Lager Ketschendorf.

Eine weitere Verschlechterung der Ernährungslage trat im November 1946 ein, als auch noch die Brotrationen halbiert wurden. Die Normen für Kartoffeln und Fleisch beziehungsweise Fisch senkte man ebenfalls ab. Zahlreiche Betroffene berichteten von den fatalen Auswirkungen. In einem Kassiber vom 5. November 1946 aus dem Lager Sachsenhausen heißt es: „Wir erhalten morgens ¾ u. mittags ¾ Liter Suppe und 300 gr. Brot. Keine zusätzlichen Gaben mehr. Hunger, Hunger.“

Das bedeutete für Tausende Gefangene den Tod. In dem kalten Winter 1946/47 kam es zu einem Massensterben. „An manchen Tagen reicht das Leichenhaus zur Aufnahme der Verstorbenen kaum aus“, heißt es in einem Augenzeugenbericht über die Zustände im Lager Mühlberg. „Bei starkem Frost werden größere Gruben ausgehoben, die an mehreren Tagen nach und nach als Massengrab gefüllt werden.“ Allein am Heiligen Abend 1946 wurden 48 Tote beigesetzt, von Mitte Dezember bis Mitte April starben fast 2000 Menschen.

Im öffentlichen Gedächtnis spielen diese Fakten kaum eine Rolle. Selbst in der Geschichtsschreibung gibt es einen merkwürdigen Hang zur Bagatellisierung.

Hubertus Knabe

Wie eine Fieberkurve zeigen die damals erstellten Lagerstatistiken die Folgen des organisierten Hungers: Kamen im November 1946 in den Lagern 329 Menschen ums Leben, waren es im Dezember bereits 1129. Im Januar 1947 stieg die Zahl der Toten auf 2434, im Februar sogar auf 4280. Von November bis März starben insgesamt mehr als 10.000 Häftlinge. Insgesamt wurden von 1945 bis 1947 annähernd 36.000 Tote registriert.

Im öffentlichen Gedächtnis spielen diese Fakten kaum eine Rolle. Selbst in der Geschichtsschreibung gibt es einen merkwürdigen Hang zur Bagatellisierung. Manche Veröffentlichungen behaupten, dass es in Deutschland zehn sowjetische Lager mit 120.000 Häftlingen gegeben habe. In Wahrheit waren es mindestens 36 Lager, von denen sich die meisten östlich von Oder und Neiße befanden. Die furchtbaren Lager in Schneidemühl, Schwiebus, Landsberg und weiteren Orten, in denen allein fast 240.000 Deutsche einsaßen, werden aus Unbedachtheit oder Geschichtslosigkeit kurzerhand ausgeblendet. Völlig vergessen sind jene Häftlinge, die aus Deutschland in die Sowjetunion verschleppt wurden. Nach sowjetischen Zählungen waren dies mindestens 175.000 Menschen, von denen ein Viertel starb.

Scheinbare Präzision, tatsächlich fehlende Buchführung

Teilweise wird heute nicht nur die Zahl der Lager und der Gefangenen, sondern auch die der Toten deutlich zu niedrig angegeben. Manche Autoren setzen die mittlerweile zugänglichen sowjetischen Gefangenenstatistiken kurzerhand an die Stelle früherer Schätzungen von Zeitzeugen, die weit höher lagen. Doch jeder, der die Arbeitsweise der sowjetischen Geheimpolizei kennt, weiß, dass die scheinbare Präzision ihrer Zahlenkolonnen reine Fiktion war. Bis Mitte Mai 1945 gab es überhaupt keine Buchführung. Erschöpfte oder flüchtende Gefangene wurden bei den Transporten häufig erschossen und durch Passanten ersetzt, damit die Zahl am Ende stimmte. Über 400.000 Deutsche gelten nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes bis heute als verschollen.

In manchen Veröffentlichungen werden die Lager als eine Form der Entnazifizierung dargestellt. Mit dieser Behauptung hatten bereits die SED und die Sowjet­union die Lager zu rechtfertigen versucht. Wenn man in die entsprechenden Befehle schaut, stellt man jedoch fest, dass die Massenverhaftungen einem ganz anderen Zweck dienten, nämlich der „Säuberung des Hinterlandes“ der Roten Armee. Dazu wurden – wie in allen sow­jetisch besetzten Staaten – bestimmte Personengruppen pauschal in Haft genommen. Die Liste reichte von angeblichen Spionen bis hin zu allen örtlichen Verwaltungschefs und Zeitungsredakteuren.

Euphemistischer Umgang mit sowjetischen Lagern

Auch sprachlich werden die sowjetischen Lager in Deutschland weichgezeichnet. Teilweise werden sie als „Internierungslager“ bezeichnet, die es bekanntlich auch in den Westzonen gab. Doch dort dienten diese Lager dazu, SS-Leute und hohe NS-Funktionäre vorübergehend festzusetzen, um ihr Verhalten während des Nationalsozialismus zu untersuchen. Sie wurden dabei so gut versorgt, dass die Sterblichkeit im Lager niedriger war als außerhalb. In der sowjetischen Besatzungszone dagegen sollten die Gefangenen ausdrücklich nicht wegen irgendwelcher Taten angeklagt, sondern nur auf unbestimmte Zeit „von der Gesellschaft isoliert“ werden. Die Sowjetunion unternahm keinerlei Anstrengungen, um NS-Verbrecher unter den Inhaftierten herauszufiltern.

Von einer Befreiung kann deshalb für den Osten Deutschlands 1945 nicht die Rede sein. Selbst die aus deutscher Knechtschaft befreiten sowjetischen Soldaten und Zivilisten landeten damals als angebliche Verräter zu Hunderttausenden im Gulag. Und die sowjetische Besatzungsmacht installierte mit Hilfe deutscher Kommunisten eine neue Diktatur, die fast viermal so lange währte wie die der Nationalsozialisten. Nicht der 8. Mai 1945 brachte den Ostdeutschen die Freiheit, sondern der 9. November 1989, als in Berlin die Mauer fiel und das Regime der SED zusammenbrach.

Umso mehr erstaunt es, dass ausgerechnet Brandenburg, das unter der sowjetischen Besatzung und der kommunistischen Herrschaft besonders gelitten hat, vor wenigen Tagen den 8. Mai per Gesetz zum „Tag der Befreiung“ erklärt hat. Die gleiche Bezeichnung trug er auch in der DDR, die mit dem Mythos der „Befreiung vom Faschismus“ ihr diktatorisches Regime zu rechtfertigen suchte. Man braucht nicht lange zu rätseln, wie ein solcher Beschluss zustande gekommen sein mag. In Brandenburg sitzen viele ehemalige SED- und Stasi-Funktionäre im Landtag und bestimmen dank der rot-roten Koalition die Regierungspolitik.