Das ist eine gute Nachricht für das ganze Land, im Wortsinne: Die verbreitete Vorstellung, beim Thema Bildung gebe es einen Stadt-Land-Gegensatz, ist falsch. Die These vom Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land ist ein Mythos. Deutschlandweit. Nichts daran ist wahr. Oder jedenfalls schon lange nicht mehr.
Bayern vorne
Das hat jetzt der von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) initiierte Aktionsrat Bildung in einer 278 Seiten dicken und engbedruckten Studie herausgearbeitet: „Region und Bildung. Mythos Stadt−Land.“
Der deutsche Süden hat in der Bildung die Nase weit vorne.
Dieter Lenze, Präsident der Universität Hamburg und Vorsitzender des Aktionsrats Bildung
Bildungsferne auf dem Land, gar Bildungsnotstand, gibt es nicht. Das sagt denn auch Professor Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg und Vorsitzender des Aktionsrats Bildung, bei der Vorstellung der Studie. Für den Freistaat Bayern hält der Hanseat ein besonderes Lob bereit. Denn erst recht falsch sei die Vorstellung, Bildungsferne auf dem Land sei etwa ein Problem im ländlichen Bayern. Lenze: „Wenn überhaupt, dann ist es umgekehrt. Der deutsche Süden hat in der Bildung die Nase weit vorne.“
Zahl der Schüler nimmt nicht ab …
Lenze räumt gleich mit einem guten halben Dutzend Vorurteilen und Mythen auf. Da ist einmal die Vorstellung von der Landflucht mit immer weniger Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigem Alter und darum immer weniger Schulen auf dem Land.
Die Welt ist voller Mythen. Das ‚Bildungsgefälle Stadt-Land’ ist einer davon.
Dieter Lenze
Die Zahlen sagen etwas anderes. Tatsächlich sind bei den Schülerzahlen die Schwankungen zwischen Stadt und Land eher gering. In kreisfreien Großstädten machen Kinder unter 6 Jahren 5,6 Prozent der Bevölkerung aus. In städtischen Kreisen sind es 5,2, in dichter besiedelten ländlichen Kreisen 5,1 und in dünn besiedelten ländlichen Kreisen 4,9 Prozent. Die Schüler sind also da. Die Schulen können offen bleiben und sollen es auch.
… sondern wächst
Die nächste falsche Behauptung ist, dass die Zahl der Geburten zurückgehe. Das hat die Kultusministerkonferenz noch 2011 angenommen. Ein Irrtum. Tatsächlich wurden im Jahr 2016 über 792.000 Kinder geboren – fast 20 Prozent mehr als im Jahr 2011.
Eine Ursache ist die überproportionale starke Zunahme der Geburten von Kindern mit fremder Staatsangehörigkeit. 2016 betrug ihr Anteil 23 Prozent. Der Trend geht weiter. Seit 2009 ist die Geburtenziffer ausländischer Frauen von 1,6 auf 2,3 Kinder pro Frau gestiegen. Bei deutschen Frauen lag sie 2016 bei 1,3 Kindern pro Frau.
Unter den Bedingungen wird der Anteil der Geburten ausländischer Frauen weiter steigen. Umso mehr als in der Gesamtbevölkerung gleichzeitig die Zahl der Frauen im Alter zwischen 28 und 35 Jahren, also dem Alter mit der höchsten altersspezifischen Geburtenziffer, in den kommenden Jahren um etwa 7 Prozent zurückgeht: von heute rund 4,1 Millionen auf 3,8 Millionen im Jahr 2026.
Besonders intensiviert hat sich in jüngster Zeit die Zuwanderung von jungen Menschen im Schul- und Vorschulalter, die als Asylbewerberinnen und -bewerber nach Deutschland kamen.
Studie Region und Bildung
Dazu kommt die starke Zuwanderung schulpflichtiger Kinder: Allein 2015 waren es 110.000 unter 6-jährige und 65.000 Kinder im Alter von 6 bis 9 Jahren. Insgesamt lebten im Jahr 2016 etwa 716.000 Drittstaatsangehörige (weder deutsche noch eine andere EU-Staatsangehörigkeit) unter 15 Jahren in Deutschland. Drei Jahre zuvor waren es nur 379.000.
Genau so viele Kita-Kinder
In den Großstädten besuchen Kinder im Vorschulalter Kitas und andere Betreuungseinrichtungen. Während Kinder auf dem Land zuhause „bei Muttern“ bleiben. So ein weiteres Vorurteil, das auch falsch ist. Tatsächlich gibt es bei den Anteilen der Kinder unter drei Jahren, die eine Kita besuchen, „keine plakativen Stadt-Land-Unterschiede“, so der Bericht.
Was nicht heißt, dass es bei den Kitas keine Stadt-Land-Unterschiede gibt: „Hohe Anteile von Kindern mit Migrationshintergrund sind eine Besonderheit von westdeutschen kreisfreien Großstädten und städtischen Kreisen.“ Ein Problem aller Kitas, ob in der Stadt oder auf dem Land, ist der Mangel an qualifiziertem Fachpersonal.
Bessere Leseleistung
Mythos Nummer vier ist für Lenze das alte Klischee von der ungebildeten Landbevölkerung. Das Gegenteil ist richtig, sagt Lenze: „Schüler auf dem Land zeigen bessere Leistungen.“ Etwa bei der Leseleistung am Ende der Grundschulzeit in Klasse 4. Da haben die Schüler auf dem Land einen durchschnittlichen Lernvorsprung von bis zu einem halben Jahr. Urteil der Studie: „Der Leistungsvorsprung von Kindern an ländlichen Grundschulen kann somit als substantiell eingestuft werden.“
Keinen Unterschied gibt es denn auch bei den Übergangsempfehlungen: Der Anteil der für das Gymnasium empfohlenen Schüler ist auf dem Land ähnlich wie in der Stadt.
Gute Sekundarschulen
Falsch ist auch die Annahme, dass in weiterführenden Schulen auf dem Land Unterrichtsqualität und Ausstattung schlechter seien. Weder das eine noch das andere ist der Fall. Tatsächlich sind in ländlichen Regionen die Klassen sogar etwas kleiner. Und wieder sind die Schülerleistungen besser. Nicht nur auf dem Gymnasium.
Leistungsvorsprünge gegenüber den sehr großen Städten, die dem Kompetenzzuwachs von einem Schuljahr entsprechen.
Studie Region und Bildung
Das zeigt der Vergleich der Leistungen von Neuntklässlern im für alle schulischen Leistungen entscheidenden Fach Deutsch: Schüler nichtgymnasialer Bildungsgänge haben hier gegenüber Schülern in Großstädten einen Kompetenzvorsprung von einem ganzen Schuljahr.
Ursache Migrationshintergrund
Das hat mit den sehr unterschiedlichen Zahlen von Schülern mit Migrationshintergrund zu tun. In Großstädten haben bis zu 45 Prozent der Kinder Migrationshintergrund. In kleinen Gemeinden sind es deutlich unter 20 Prozent.
Manuel Lösel, Staatssekretär im Hessischen Kultusministerium und Vorsitzender der der Amtschefkonferenz der Kultusministerkonferenz, verdeutlicht im Haus der Bayerischen Wirtschaft der vbw, was das für Folgen haben kann: großstädtische Schulen mit Schülern, die zu 80 Prozent Migrationshintergrund haben und deren Familien zu 70 Prozent von Unterstützungsleistungen abhängen.
20 Prozent der Kinder haben dort Förderbedarf, viele zeigen Verhaltensauffälligkeiten. Dazu kommen Fehlernährung und Bewegungsmangel. In den Elternhäusern wird kaum oder gar nicht Deutsch gesprochen. Die Zahl der Schulverweigerer ist hoch. Lösel: „Die Schule muss einen immensen Aufwand betreiben.“ Was alles bedeutet: An Schulen auf dem Land lernt es sich in der Regel einfacher und leichter.
Entscheidung fürs Gymnasium – oder dagegen
Trotzdem entscheiden sich in Gemeinden mit bis zu 15.000 Einwohnern nur 27 Prozent der Schüler für das Gymnasium. In Großstädten sind es bis zu 45 Prozent. Das ist tatsächlich ein Stadt-Land-Unterschied. Aber was bedeutet er?
„Das zeigt lediglich die höhere Wertschätzung von Eltern auf dem Land für berufliche Bildung“, sagt Lenze. Und das wiederum entspricht der wirtschaftlichen Wirklichkeit in ländlichen Regionen. Lenze: „Es gibt keinen Grund, das zu kritisieren.“
619 Hochschulstandorte
Falsch ist dagegen die Behauptung, für Schüler auf dem Land sei der Sprung an die Universität schwieriger, weil die nächste Hochschule zu weit weg sei. Tatsächlich ist heute in Deutschland „kein Postleitzahlbezirk mehr als 59 Kilometer vom nächstgelegenen Hochschulstandort entfernt“. So die Bildungsstudie.
Heute liegt in Deutschland kein Postleitzahlbezirk mehr als 59 Kilometer vom nächstgelegenen Hochschulstandort entfernt.
Studie Region und Bildung
Das ist die Folge einer enormen Hochschulexpansion in den vergangenen 30 Jahren. 1990 gab es im ganzen eben wiedervereinigten Land 232 Hochschulstandorte. 2016 waren es 619 Universitäten, Fachhochschulen oder Hochschulaußenstellen und Filialen. Die meisten Hochschulgründungen hat es in den Flächenstaaten Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern gegeben.
In Bayern, lobt der Bildungsbericht, stehe die Neugründung von Hochschulen für angewandte Wissenschaften im ländlichen Raum, „bereits seit den 1990er Jahren im Fokus der Strukturpolitik“. 2014 habe das Bayerische Kabinett eine neue Struktur- und Regionalisierungsstrategie verabschiedet, „durch welche das Netz von hochschulischen Angeboten noch enger geknüpft werden soll”.
Handwerkliche Ausbildung
Falsch ist auch die Annahme, in den Städten seien die Ausbildungsangebote besser. In ländlichen Regionen seien die Ausbildungsangebote keineswegs schlechter, sagt Lenze: „Sie sind allenfalls anders.“ Mit einem größeren Angebot an handwerklicher Ausbildung.
Das gleiche gilt für das Thema Weiterbildung. Lenze: „Es gibt auf dem Land sehr wohl Möglichkeiten, sich weiterzubilden.“ Zudem veränderten sich durch die fortschreitende Digitalisierung gerade für die Weiterbildung alle Bedingungen.
Kurze Beine, kurze Wege
Fazit: Von einer Vernachlässigung der der Bildungssituation in ländlichen Regionen kann keine Rede sein. Für Alarmmeldungen gibt es keinen Grund. Aber Erfolge können auch schnell wieder verspielt werden, warnt Lenze. Seine Botschaft: „Schaut auf das Land, im doppelten Sinne des Wortes.“ Damit der Bildungsfrieden erhalten bleibe.
Gezielter Erhalt von Grundschulen im ländlichen Raum.
Studie Region und Bildung
Der Aktionsrat Bildung versieht seine wichtige Studie denn auch mit einer Vielzahl von Handlungsempfehlungen. Vielleicht die wichtigste bringt der neue Präsident der vbw, Wolfram Hatz, auf eine griffige Formel: „Kurze Beine, kurze Wege.“ Soll heißen: Für die Kleinen müssen „alle Möglichkeiten für den Erhalt von Grundschulen im ländlichen Raum“ ausgeschöpft werden. Der Aktionsrat Bildung empfiehlt, gegebenenfalls Klassenstufen zusammenzulegen.
Neue pädagogische Konzepte
Auch die Sekundarschulen dürfen auf dem Land nicht weniger werden. Denn die Schulwege müssten „in einem akzeptablen Bereich“ bleiben, so eine weitere Empfehlung. In Großstadtquartieren „mit ungünstigen Ausgangslagen der Schülerschaft“ sollen Förderangebote erweitert werden, raten die Autoren der Studie.
Oder: Pädagogische Konzepte sollen an eine „zunehmend heterogene und sozial problematische Schülerschaft“ angepasst werden. Die Lehrerbildung soll um eine „regionalspezifische Komponente“ erweitert werden. Nicht fehlen darf natürlich die Forderung nach „flächendeckendem Ausbau digitaler Bildungsangebote“.