Angelika Niebler ist die Vorsitzende der CSU-Gruppe im Europaparlament. (Foto: BK/W. Heider-Sawall)
Europawahl

„Europa steht am Scheideweg“

Interview Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Die Vorsitzende der CSU-Gruppe im Europaparlament, Angelika Niebler, warnt vor Nationalisten und Populisten und erklärt, warum nur ein starkes Europa seine Bürger schützen und ihnen nützen kann.

Frau Niebler, Sie sagen, die Europawahl am 26. Mai ist eine Schicksalswahl. Was macht sie so wichtig für den Kontinent?

Europa steht am Scheideweg. Diese Wahl entscheidet darüber, ob wir in der EU handlungsfähig bleiben und in welche Richtung sich Europa bewegen wird. Drehen wir womöglich das Rad zurück? Setzen wir 70 Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand aufs Spiel – wie das derzeit viele Nationalisten und Populisten tun: raus aus dem Euro, raus aus der EU. Nach dem Brexit der Dexit? Das kann nicht unser Weg sein.

Sehen Sie tatsächlich die Gefahr, dass diese Kräfte so stark werden, dass sie den Bestand der Union gefährden könnten?

Ja, ich bin wirklich besorgt. Wenn Sie sehen, wie Populisten in einzelnen Mitgliedsstaaten unterwegs sind, wie viele radikale Stimmen es gibt, dann ist diese Gefahr ganz real. PiS regiert in Polen, Syriza in Griechenland mit den Rechtspopulisten Anel, Salvini in Italien mit Cinque Stelle, um nur einige zu nennen. Auch in Frankreich ist  Le Pen mit ihrer Partei wieder auf dem Vormarsch. Nach den Umfragen gibt es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen denen, die Europa weiter gestalten wollen, und jenen, die mit einem gemeinsamen Europa nichts anfangen können.

Es gibt nur wenige Politiker, die ein bürgerliches Europa so überzeugend verkörpern wie Manfred Weber.

Angelika Niebler

Die CSU tritt für ein bürgernahes Europa ein. Spitzenkandidat Manfred Weber sagt, er möchte „Europa den Menschen zurückgeben“. Was kann man sich darunter vorstellen?

Mit unserem Spitzenkandidaten Manfred Weber haben wir einen herausragenden Politiker, der unserer CSU und der Union einen großen Schub im Wahlkampf bringen wird. Es gibt nur wenige Politiker, die ein bürgerliches Europa so überzeugend verkörpern wie er. Er steht für zuhören, das aufnehmen, was die Menschen bewegt. Er möchte Europa nach den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger gestalten, nicht aus der Perspektive der europäischen Institutionen, von oben herab aus Brüssel.

Welches Europa wollen die Menschen?

Sie wollen ein Europa, das schützt: bei der Bewältigung der weltweiten Fluchtbewegungen, beim Schutz der Außengrenzen, im Kampf gegen Schleuser, Terroristen und Kriminelle. Alles das sind europäische Aufgaben. Und wir brauchen ein Europa, das nützt. Wenn wir den Klimaschutz effektiv gestalten wollen, brauchen wir dazu europäische Lösungen, keine nationalen Alleingänge. Das gilt auch für die Energieversorgung, für den passenden Rechtsrahmen des digitalen Binnenmarkts und vieles mehr. Die Abschaffung der Roaminggebühren darf ich als Beispiel nennen.

Schon sehr lange heißt es, Europa soll groß im Großen und klein im Kleinen sein.  Wie steht es um dieses Ziel?

Die vergangenen fünf Jahre waren in diesem Sinn gute Jahre. Die aktuelle Kommission unter Jean-Claude Juncker hat weit weniger neue Gesetzesinitiativen unterbreitet als die Vorgänger. Da wirkt auch noch nach, was Edmund Stoiber mit seinen Entbürokratisierungsinitiativen auf den Weg gebracht hat. Aber es gibt – wie meist – noch Luft nach oben.

Wo zum Beispiel?

Von unseren Kommunalpolitikern höre ich oft die Frage: „Warum müssen wir so viele Projekte europaweit öffentlich ausschreiben?“ Zum Beispiel, wenn es darum geht, wer eine Schulkantine beliefern soll. Ab einer gewissen Größenordnung muss für die Vergabe eines solchen Auftrages europaweit ausgeschrieben werden. Das sind Vorschriften, die vor Ort nur als Belastung wahrgenommen werden. Dieses Problem müssen wir angehen und etwa über Erhöhung von Schwellenwerten sprechen.

Die Welt hat sich in der Tat verändert. Entscheidend ist: Europa muss mit einer Stimme sprechen.

Angelika Niebler

Nicht nur intern arbeiten starke Kräfte gegen Europa, auch Mächte wie die USA, Russland oder China stellen große  Herausforderungen dar – etwa  in der Handelspolitik. Wie kann Europa in diesen Konflikten bestehen?

Die Welt hat sich in der Tat verändert. Entscheidend ist: Europa muss mit einer Stimme sprechen. Es muss sich als gemeinsame Wirtschaftsregion positionieren. Dazu müssen wir weiter Handelsverträge schließen, Märkte für unsere Unternehmen öffnen. Wir stehen für einen freien, fairen Handel in der Welt. Wir müssen aber auch überlegen, wie wir unsere europäischen Interessen besser definieren. Etwa beim Thema Fusionen. Das Verbot der Fusion der Zugsparten von Siemens und Alstom ist meiner Meinung nach zu kurz gedacht. Wir befinden uns im internationalen Wettbewerb mit so starken Wirtschaftsmächten wie den USA oder China, dem muss in der EU stärker Rechnung getragen werden.

Was müsste sich ändern?

Wir sollten prüfen, ob unsere Marktdefinitionen noch zeitgemäß sind. Oder wir schaffen eine Regelung, wie es sie in Deutschland bereits gibt. Nach deutschem Recht kann die Entscheidung der Kartellbehörde durch eine Ministererlaubnis revidiert werden.

In bestimmten Bereichen des Internets oder bei der künstlichen Intelligenz hat man den Eindruck, dass Europa bereits deutlich abgehängt wurde. Sehen Sie die Möglichkeit, hier noch aufzuholen?

Wir haben alle Chancen, wenn wir sie nutzen. Als Franz Josef Strauß die Voraussetzungen für eine europäische Luft- und Raumfahrtindustrie geschaffen hat, waren viele skeptisch. Heute haben wir die Situation, dass auf dem Weltmarkt das europäische Unternehmen Airbus auf Augenhöhe mit seinem amerikanischen Wettbewerber konkurriert. Wir haben in Europa viele innovative Unternehmen und hervorragend ausgebildete Fachkräfte. Es ist nie zu spät, man muss einfach anfangen. Und wir müssen unsere Kräfte in Kernbereichen besser bündeln, zum Beispiel bei künstlicher Intelligenz, Cybersicherheit, der Batterieforschung. Vielleicht ein europäischer Hyperloop?

Ein Dauerthema in der EU ist die Förderung der Landwirtschaft. Hunderte von Milliarden Euro fließen in diesen Sektor. Kann das so bleiben?

Es geht um die Frage, welche Rolle unsere Landwirtschaft künftig spielen soll. Ich kann dazu nur sagen, Landwirtschaft hat eine Zukunft in der EU. Es muss unser Ziel sein, unsere Familienbetriebe weiter zu unterstützen. Wer gesunde Lebensmittel will, wer regionale Produkte will, wer will, dass unsere Landwirte unsere Kulturlandschaft weiter pflegen, muss unsere Landwirtschaft fördern. Das muss auch für die nächste Legislaturperiode gelten. Bei allen Handelsverträgen, die wir vereinbaren, müssen wir unsere hohen Umweltstandards durchsetzen und wir müssen die Märkte für unsere Landwirtschaft sichern und erschließen.

Die Zahl der Zuwanderer in der EU ist um mehr als 90 Prozent zurückgegangen. Das ist ein Erfolg des gemeinsamen Handelns.

Angelika Niebler

Kaum ein Problem hat Europa zuletzt so entzweit wie die Flüchtlingskrise. Wie kann es hier weitergehen?

Wir haben in Europa inzwischen mehr erreicht als vielfach wahrgenommen wird. Wir haben den Schutz der Außengrenzen deutlich gestärkt. Wir haben mit Frontex eine europäische Grenz- und Küstenwache etabliert, die wir noch auf 10.000 Mann aufstocken werden. Wir haben den EU-Mitgliedsländern, die Mittelmeeranrainer sind – vor allem Italien und Griechenland –, dabei geholfen, Strukturen auszubauen, um zu kontrollieren, wer ins Land kommt. Wir haben gemeinsame Missionen im Mittelmeer. Das einzige Thema, bei dem wir noch nicht weitergekommen sind, ist die Verteilung der Flüchtlinge in der Europäischen Union. Aber abgesehen davon, haben wir eine vollkommen andere Situation als noch vor drei Jahren. Die Zahl der Zuwanderer in der EU ist um mehr als 90 Prozent zurückgegangen. Das ist ein Erfolg des gemeinsamen Handelns.

Wie steht es um eine bessere Zusammenarbeit mit den Ländern in Nordafrika?

Wir hatten kürzlich das Gipfel­treffen von EU und Arabischer Liga in Ägypten. Auch wenn die großen Ergebnisse noch ausstehen, zeigt sich, dass es der richtige Weg ist, miteinander zu reden und die gemeinsamen Herausforderungen zu definieren. Und es ist notwendig, daran jetzt kontinuierlich weiterzuarbeiten. Und es gibt hierzu viele Initiativen, gerade bei uns in Bayern, wie ich erst wieder bei einer großen Veranstaltung der Frauen-Union zum Thema Entwicklungszusammenarbeit feststellen konnte. Das war wirklich beeindruckend. So hat der Landrat von Donau-Ries, Stefan Rößle, ein Programm gestartet „1.000 Schulen für eine bessere Welt“. Er hat in den vergangenen Jahren bereits zwanzig Schulen in Afrika mit vielen Unterstützern privat finanziert. Ein weiteres Beispiel: Die Frauen-Union bietet gemeinsam mit der Hanns-Seidel-Stiftung ein Mentoring-Programm für Kommunalpolitikerinnen in Marokko an. Das zeigt: Da tut sich sehr, sehr viel. Und Bayern ist hier federführend.

Frankreichs Präsident Macron hat sich an die Spitze derer gestellt, die deutlich mehr Europa wollen: ein eigenes Budget für die Eurozone, einen europäischen Finanzminister, eine Einlagensicherung für Banken, eine europäische Arbeitslosenversicherung. Was halten Sie davon?

Emmanuel Macron steht für ein starkes Europa. Und er hat mit seinen Vorschlägen wichtige Impulse gegeben. Aber man muss auch auf das Kleingedruckte achten. Da soll nach seinen Vorstellungen doch in großem Stil in der EU umverteilt werden: durch eine europäische Einlagensicherung oder eine europäische Arbeitslosenversicherung. Das ist der falsche Weg. Nach meiner Überzeugung müssen wir weiter die Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten betonen – insbesondere für ihre Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Für seine politischen Entscheidungen muss ein Land auch die Verantwortung übernehmen.

Wir fordern die Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten ein. Wir sind gegen Umverteilung und Planwirtschaft.

Angelika Niebler

Wird das die zentrale Auseinandersetzung im Wahlkampf sein – „immer mehr Geld und Macht für Brüssel“ oder ein Europa, das auch nationale,  regionale und lokale Zuständigkeiten respektiert?

Ja. Das ist es, was die CSU am stärksten von der SPD und den Grünen unterscheidet. Wir fordern die Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten ein. Wir sind gegen Umverteilung und Planwirtschaft. Es kann auch nicht alles aus Brüssel vorgegeben werden. Subsidiarität ist ein Ordnungsprinzip, das sich bewährt hat. Viele Probleme lassen sich vor Ort besser lösen.

Ein Thema, das die Menschen in Bayern derzeit sehr bewegt, ist der Umwelt- und Naturschutz. Wird das auch im Europawahlkampf eine Rolle spielen?

Im Klimaschutz haben wir in Europa ja schon viel erreicht. Wir haben den Emissionshandel geschaffen. Jede Tonne CO2 hat ihren Preis. Wir haben klar formuliert, dass wir den Plastikmüll reduzieren müssen. Europa ist ein grüner Kontinent. Wir wirtschaften sehr nachhaltig. Für die CSU ist aber auch wichtig, wie wir diese Ziele erreichen. Wir wollen die richtigen Anreize für neue umweltschonende Technologien und die richtigen Rahmenbedingungen setzen, aber wir wollen keine Planwirtschaft betreiben. Der Ansatz der Grünen etwa, den Diesel zu verbieten und Elektromobilität vorzuschreiben, das ist nicht unser Weg.

Sie haben gerade den Diesel angesprochen. Die europäischen Grenzwerte für Stickoxide sind sehr umstritten. Muss man da noch einmal neu nachdenken?

Bei den Grenzwerten gibt es zwei Probleme. Das eine ist die Frage, wie und wo gemessen wird. Da waren wir wieder einmal typisch deutsch und haben überzogen. Wir messen direkt an stark befahrenen Straßen – in München etwa an der Landshuter Allee. In Wien wird in der Fußgängerzone hinter dem Stephansdom gemessen. Die zweite Thematik sind die Grenzwerte selbst. Damit müssen wir uns noch einmal intensiv beschäftigen und auch gegebenenfalls korrigieren. Es ist doch nicht schlüssig, wenn in einer Produktionsstätte, in der 40 Stunden pro Woche gearbeitet wird, 950 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft erlaubt sind, während im Straßenverkehr 40 und in Büroräumen 60 Mikrogramm zulässig sind. Und jetzt erklären Sie mal, warum man in einem Büro, in dem man sich 40 Stunden aufhält, eine höhere Schadstoffbelastung haben darf als auf der Straße. Das versteht niemand. Darüber muss man reden.

Wir waren ja schon einmal Papst. Jetzt wollen wir auch Europa werden!

Angelika Niebler

Ein weiteres schwieriges Thema ist der Umgang mit  Viktor Orban, dessen Fidesz- Partei zur EVP gehört. Nun haben die EVP-Mitgliedsparteien  eine Suspendierung der Fidesz- Partei beschlossen, deren  Mitgliedschaft innerhalb der europäischen Parteienfamilie ist damit eingefroren. Ist das der richtige Weg? 

Diese Entscheidung, die maßgeblich dem Verhandlungsgeschick von Manfred Weber zu verdanken ist, ist ein richtiges Signal: Einerseits hat Viktor Orban damit eine letzte Chance, seinen antieuropäischen Kurs zu verlassen, und zumindest fürs Erste hat er sich auf alle Bedingungen eingelassen. Und andererseits konnte ein komplettes Abdriften der Fidesz mit unabsehbaren Konsequenzen und damit auch eine Spaltung der EVP verhindert werden. Die Ungarn sind ein durch und durch europäisches Land. Deshalb begrüße ich es sehr, dass nicht das, was in Jahrzehnten aufgebaut wurde, nun einfach kaputt gemacht wird. Wichtig ist, dass wir auf die weitere Entwicklung schauen. Viktor Orban weiß, dass er unter Beobachtung steht, und das ist gut so. Wir werden sehen, was die beschlossene Revision durch die drei Weisen, Herman van Rompuy, Wolfgang Schüssel und Hans-Gert Pöttering, bringt, und danach eine Entscheidung treffen.

Sollte die EVP mit Manfred Weber an der Spitze die  Europawahl gewinnen, muss  er dann auch Präsident der Kommission werden?

Ein klares „Ja“. Wir hatten bereits vor fünf Jahren die Diskussion, ob nur ein Spitzenkandidat der Europawahl den Anspruch erheben kann, Präsident der Kommission zu werden kann. Weil das Parlament diese Haltung so entschlossen verteidigt hat, konnte sie auch so durchgesetzt werden. Das muss auch der Maßstab für die kommende Wahl sein. Manfred Weber wurde mit fast 80 Prozent der Stimmen von der EVP zum Spitzenkandidaten gewählt. Das belegt doch deutlich, welches Vertrauen dieser Kandidat genießt und über welche Glaubwürdigkeit er verfügt. Wenn wir als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgehen, dann hat Manfred Weber sehr gute Chancen, der nächste Kommissionspräsident zu werden. Er ist dann der Chef von Europa. Wir waren ja schon einmal Papst. Jetzt wollen wir auch Europa werden!

Das Interview führte Thomas Röll.