Faustrecht: Bei einer Kundgebung in Lübeck schlägt ein Demonstrant 2011 einen Polizisten nieder. (Foto: C. Rehder/dpa)
Sicherheit

„Es gibt keine Hemmungen mehr“

Gastbeitrag Wie das Auseinanderdriften der öffentlichen Ordnung zu verhindern wäre: Nur mit einem starken Staat und konsequentem Einfordern von Respekt, Toleranz und Rechtstreue lässt sich die eskalierende Gewalt gegen Polizei und Einsatzkräfte eindämmen.

Alle Hemmungen, Zurückhaltung, Respekt oder Rücksichtnahme gegenüber Kräften von Polizei oder Rettungsdiensten sind Vergangenheit. Ihre Einsätze werden gefährlicher, die Gewalt immer brutaler. Oft schon aus nichtigem Anlass heraus und in scheinbar harmlosen Situationen erfolgt der Angriff, Gegenstände oder Fäuste fliegen, Tritte und Kopfstöße werden verpasst, Messer werden gezückt.

Es gibt keine Tabus mehr.

Rainer Wendt, Polizei-Gewerkschafter

Bundesweit 74.403 Einsatzkräfte der Polizei wurden 2017 als Opfer von Gewalttaten erfasst, bei 36.441 versuchten oder vollendeten Delikten. Auch im Freistaat Bayern sind die Zahlen erschreckend: 7.334 Fälle von Gewalt gegen Polizeikräfte, 16.528 Beamtinnen und Beamte waren betroffen. In keinem deutschen Bundesland wurden weniger als 1.000 Einsatzkräfte der Polizei als Opfer erfasst. Rund ein Drittel der Delikte (28,2 Prozent) sind Körperverletzungsdelikte, 86 Mal registrierten die Behörden versuchte Tötungsdelikte. Dabei wurden fünf Beamte getötet.

Schockierende Beispiele

Einige Beispiele aus dem polizeilichen Alltag: Gelsenkirchen. Eine einfache Personenkontrolle in einem Park eskaliert sofort. Mit Faustschlägen, Kopfstößen und einem mitgeführten Stock geht ein Mann auf eine Streifenwagenbesatzung los. Nur mit größter Mühe können die Kräfte ihn bändigen und festnehmen. Bei der Durchsuchung stellt sich heraus, dass er mehrere Messer mitführt. Beide Beamten werden verletzt, einer der beiden ist dienstunfähig. Am Tag danach wird der Täter wieder auf freien Fuß gesetzt.

Berlin. Im dritten Stock eines Mietshauses schlichten einige Beamte einen Streit, während weitere Kräfte den Hinterhof des Hauses sichern. Plötzlich fliegt eine Mikrowelle aus dem dritten Stock, landet einen halben Meter neben einer Streifenwagenbesatzung. Sie hätten tot sein können. Ermittelt wird wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung.

Essen. Der Versuch, einen 17-jährigen Zuwanderer festzunehmen, wurde mit Schlägen und Tritten gegen Bauch und Kopf einer Polizistin quittiert. Sechs Männer beteiligten sich daran. Später versucht die Familie des Festgenommenen, den Täter mit der Drohung freizupressen, ihre Familien zu mobilisieren.

Eine Welle der Gewalt erlebte die deutsche Öffentlichkeit beim G20-Gipfel in Hamburg; aus ganz Europa waren linke Gewalttäter angereist und versetzten tagelang vor allem die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Brandsätze und Steine flogen, Zwillenbeschuss und Plünderungen, Sachbeschädigungen und Zerstörungswut hielten Zigtausende Einsatzkräfte in Atem. Die Bilanz war erschreckend. Hunderte verletzte Polizistinnen und Polizisten, riesige Vermögensschäden und eine verängstigte und entsetzte Bevölkerung waren der Preis für die politische Entscheidung, die zu diesem Veranstaltungsort geführt hatte.

Verachtung für den Staat

Für manche Tätergruppen ist der Staat nicht Ordnungsfaktor oder Autorität, die auf die Einhaltung unserer Regelwerke achtet. Er wird eher als anonymer Dienstleister wahrgenommen, der die vielfältigen Sozialtransfers gefälligst pünktlich und in voller Höhe zu leisten und sich ansonsten aus dem Leben der Menschen herauszuhalten hat, nach dem Motto: „Du hast mir alles zu geben, aber nichts zu sagen!“

Sie entstammen dem bürgerlichen Milieu, sind nicht ungebildet, durchaus wohlhabend und gesellschaftlich anerkannt. Sie treten den Einsatzkräften sofort rechthaberisch, bedrohlich und lautstark entgegen und denken überhaupt nicht daran, staatliches Handeln zu akzeptieren. Sie sind auch bereit, aktiv gegen die Kräfte vorzugehen, meistens zunächst mit Drohungen und Beleidigungen, aber auch mit der Bereitschaft, tätlich zu werden.

Für andere ist die Auseinandersetzung mit dem Staat und seiner Polizei der bewaffnete Kampf mit dem System, das sie zwar regelmäßig irgendwie ernährt, von ihnen aber gleichzeitig massiv bekämpft wird. Extremisten von Links und Rechts haben Hochkonjunktur. Die Spaltung der Gesellschaft und die Polarisierung der politischen Auseinandersetzung lassen die Interessengruppen hart aufeinanderprallen. Auf beiden Seiten ist die Gewaltbereitschaft hoch und sie richtet sich auch und gerade gegen die Polizei. Der Kampf wird mit voller Härte geführt.

Der deutsche Staat wird als Autorität nicht respektiert.

Rainer Wendt

Großfamilien aus dem arabischen Raum, die seit Jahrzehnten in Parallelgesellschaften leben, fordern mit Drohungen und Gewalt den öffentlichen Raum für sich und „ihre Regeln“. Der deutsche Staat wird als Autorität nicht respektiert und mehr noch, er wird aktiv bekämpft. Viele dieser Tätergruppen lachen über die deutsche Justiz und verachten unsere Werte.

Seit einiger Zeit kommen Clans aus dem Balkan hinzu; ebenfalls Großfamilien, deren Oberhäupter das Kriegshandwerk gelernt haben. Nicht selten schwer bewaffnet, im Umgang mit allen Waffen geübt und bereit, sie auch gegen Einsatzkräfte der Polizei ohne zu zögern einzusetzen.

Überzogene Ansprüche

Auch manche der in den vergangenen drei Jahren Zugewanderten beteiligen sich an gewalttätigen Angriffen. Rechtsstaatliches Verhalten der Polizei wird als Schwäche und Rückzug wahrgenommen, ein völlig überzogenes Anspruchsdenken, das nicht sofort erfüllt wird, führt unmittelbar zu Gewalt und Aggression. Und während die Sanktionen des Strafrechts für die meisten Menschen in unserem Land als beeindruckend wahrgenommen werden, sind sie für viele Zugewanderte lächerlich.

Wer nach Straftaten immer wieder festgenommen und nach Feststellung seiner Identität wieder freigelassen wird, empfindet unseren Staat als wehrlos und schwach. Viele dieser Menschen kommen aus Regionen in der Welt, in denen die Begegnung mit der Polizei alles andere als bürgernah, freundlich oder rechtsstaatlich korrekt abläuft. Da treffen völlig unterschiedliche Welten aufeinander, die die Bildung von Unrechtsbewusstsein oder einen respektvollen Umgang miteinander kaum zulassen.

Von interessierter Seite werden als „No-go-Areas“ Stadtgebiete bezeichnet, in denen die Polizei sich angeblich zurückhält oder gar Angst hat, einzuschreiten. Das ist falsch. Selbstverständlich gehen die Einsatzkräfte überallhin, wo sie gebraucht werden. Aber der Aufwand an Eigensicherungsmaßnahmen hat sich in den vergangenen Jahren beträchtlich erhöht.

Eskalation im Alltag

Nicht nur bei Demos, Fußballspielen oder anderen Großveranstaltungen, die Angriffe erfolgen zumeist im täglichen Einsatz. Eine Ruhestörung, ein Verkehrsunfall, eine Personenkontrolle oder ein Hilfeersuchen – urplötzlich eskaliert die Lage, häufig mit brutalen Faustschlägen, Tritten oder gar Waffenanwendung.  Typische Täterprofile gibt es kaum; Gewalt gegen die Polizei als „Volkssport“, ausgeübt von Menschen, die während der Woche ihrer normalen Arbeit oder dem Studium nachgehen und am Wochenende ausrasten. Deutsche, Ausländer, Zugewanderte: alle Nationen, Jugendliche wie Erwachsene, Frauen wie Männer.

Auch Frauen in Uniform sind Angriffsziele.

Rainer Wendt

Rücksichtnahme der Täter ist nirgends erkennbar. Faustschläge, Waffengewalt, Tritte gegen den Kopf und den Körper, die weiblichen Beschäftigten von Polizei und Rettungskräften sind wie ihre männlichen Kollegen auch in alltäglich aussehenden Situationen plötzlich in Lebensgefahr und müssen sich ihrer Haut erwehren.

Die Polizei kennt die Zahlen, alle Zusammenhänge. Seit 2010 wird alljährlich ein „Lagebild Gewalt gegen die Polizei“ erstellt. Aber das Problem ist in Wahrheit viel größer. Rettungskräfte, Pflegepersonal, Lehrkräfte, Verwaltungsbeschäftigte in Rathäusern oder Jobcentern, Justiz- und Justizvollzug: Kaum ein Bereich des öffentlichen Dienstes bleibt von gewalttätigen Attacken verschont. Es ist der Staat selbst, der von vielen Bürgerinnen und Bürgern angegriffen wird.

Was macht diese Entwicklung mit den Einsatzkräften, den Frauen und Männern, die der unmittelbaren Konfrontation ausgesetzt sind? Was erleiden ihre Familien, Freunde, Angehörigen, die tagtäglich in Sorge um Leben und Gesundheit derjenigen sind, die ihren gefahrengeneigten Auftrag im Interesse der Allgemeinheit wahrnehmen?

Nicht überall in der Justiz ist die Bereitschaft ausreichend vorhanden, endlich durchzugreifen.

Rainer Wendt

Die nach einem Gewalterlebnis häufig krankheitsbedingte Abwesenheit vom Dienst ist dabei eine der geringsten. Die Belastungen können jahrelange Folgen für die psychische Stabilität der Opfer haben. Je nach Intensität können sie nie mehr in ihre gewohnte dienstliche Umgebung zurück; manche müssen den Polizeidienst verlassen.

Die Parlamente helfen mit eingerichteten Stiftungen, Hilfen für Angehörige und Hinterbliebene und die Opfer selbst zu organisieren, denn manchmal reichen staatliche Versorgungsleistungen eben nicht aus, um alle Folgen schrecklicher Taten abzudecken. Zur Linderung der Folgen von Gewalterlebnissen hat die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) im Freistaat Bayern mit Unterstützung der Staatsregierung eine Stiftung ins Leben gerufen; Hunderte Opfer und ihre Angehörigen konnten bereits im erholsamen Oberbayern Abstand vom Erlebten nehmen.

Hilfe für die Opfer

Überall in der Polizei ist ein etabliertes System der psychosozialen Nachsorge geschaffen worden. Nach belastenden Einsätzen (z. B. Vorfälle mit Verletzten oder Toten und Situationen mit Gewalterfahrung) werden Betreuungsmaßnahmen angeboten.

Parlamente und Regierungen tun einiges, um der Entwicklung Herr zu werden. So hat der Gesetzgeber die Strafandrohung für Gewalt gegen Beschäftigte von Polizei und Rettungsdiensten 2017 verschärft; eine Mindestfreiheitsstrafe sollte abschrecken. Ein unmittelbarer Einfluss auf die Gewaltbereitschaft ist bislang nicht feststellbar. Nicht überall in der Justiz ist die Bereitschaft ausreichend vorhanden, endlich durchzugreifen.

Auch die öffentliche Ächtung und die gesellschaftlichen Diskussionen über Gewalt gegen den Staat haben bislang nicht zu einem Nachlassen geführt, im Gegenteil. Vor allem das politisch aufgeheizte Klima und die anhaltende Vertrauenskrise in die Autorität von Staat und Politik lassen eher erwarten, dass die Spannungen und auch der Druck auf diejenigen zunehmen wird, die für den Staat arbeiten und dem Gemeinwohl dienen.

Besserer Schutz für Einsatzkräfte

Zum Schutz von Einsatzkräften sind in den vergangenen Jahren viele gute Entscheidungen getroffen worden. Persönliche Schutzausstattungen, Schutzwesten und ballistische Schutzhelme, neue Schusswaffen, Distanz-Elektroimpulsgeräte und Body-Cams sollen Gewalt möglichst von vornherein unterbinden und die Beamtinnen und Beamten vor den Folgen schützen. Neue Wasserwerfer helfen, bei Demonstrationen Distanz zu schaffen, geschützte Sonderfahrzeuge halten auch dem Beschuss schwerer Waffen stand. Auch im Freistaat Bayern wurden diese wirkungsvollen Schutzausrüstungen entweder bereits beschafft oder stehen vor ihrer Einführung.

Mit einem neuen Konzept sollen Gewaltdelikte gegen die Polizei effizienter verfolgt und die Täter schneller bestraft werden, so will es ein Pilotprojekt in der Oberpfalz. Erfahrene Ansprechpartner von Polizei und Staatsanwaltschaft sollen gleich nach der Tat die Ermittlungen miteinander abstimmen und so beschleunigen. Wenn die Gerichte mitmachen und die Verhandlungstermine rasch terminieren, könnte es klappen.

Gewalt gegen den Staat und seine Beschäftigten muss geächtet werden.

Rainer Wendt

Im baden-württembergischen Offenburg verfolgt die dortige Staatsanwaltschaft eine Ermittlungskonzeption, die mit „nachdrücklicher Strafverfolgung“ die Verfahren konsequent, schneller und einheitlicher gestalten soll. Bei verschiedenen Delikten gegen Vollzugs- oder Rettungskräfte sollen mindestens 50 Tagessätze beantragt und grundsätzlich auch öffentliche Klage erhoben werden.

Nicht erst seit den Vorfällen der Kölner Silvesternacht war klar, dass die Polizei NRW chronisch unterbesetzt und unterfinanziert war, sie litt auch an einem von der rot-grünen Landesregierung eingeforderten falschen Einsatzkonzept der immerwährenden Deeskalation. Um an der Situation etwas zu ändern, hat das Landesamt für Aus- und Fortbildung und Personalangelegenheiten (LAFP) in NRW ein Arbeitspapier vorgelegt. Darin heißt es: „Keinesfalls darf es dazu kommen, dass die Polizei NRW in der Öffentlichkeit in eine ‚Opferrolle‘ gedrängt wird oder als ‚Opfer‘ wahrgenommen wird. Damit wäre das fatale Signal verbunden, dass die Polizei nicht mehr in der Lage ist, ihren Schutzauftrag umfassend zu erfüllen“ schrieb das LAFP und folgerte richtig: „Die Polizei NRW muss an Konsequenz, Stabilität, Führungsstärke und Robust-heit deutlich zulegen!“

Die Pflicht zur Stärke

Alle Schritte zur Abwehr von Gewalt gegen die Polizei und Rettungsdienste oder zur Minderung ihrer Folgen müssen unzureichend bleiben, wenn ihre Ursachen nicht aufgespürt und beseitigt werden. So sehr die Symptome behandelt werden können, wird unsere Gesellschaft nicht umhin kommen, über einen neuen Konsens unseres Zusammenlebens nachzudenken.

Erziehung zu Respekt, Toleranz, aber auch Rechtstreue, Vertrauen und Anerkennung für den Staat und die Menschen, die für ihn tätig sind, sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass sich etwas ändert. Wenn schon Kinder und Jugendliche dazu erzogen werden, jegliche staatliche Autorität und alle ordnungsstiftenden Regeln möglichst zu ignorieren und notfalls aktiv zu bekämpfen, müssen wir uns über mehr Gewalt nicht wundern.

Der Staat hat kein Recht auf Schwäche, er hat die Pflicht zur Stärke.

Rainer Wendt

Gewalt gegen den Staat und seine Beschäftigten muss geächtet werden. Was so selbstverständlich klingt, ist es leider nicht. Wie sonst ist zu erklären, dass eine Musikgruppe vom Bundespräsidialamt hofiert wird, die Texte wie: „Die Bullenhelme, die sollen fliegen. Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein!“ für Kunst hält. Und wenn in der öffentlich-rechtlichen Sendereihe „Polizeiruf 110“ Plakate derselben Band sowie Abzeichen und Sticker der kriminellen Antifa wie selbstverständlich zur Ausstattung ausgerechnet eines Polizeibüros gehören, ist dies eher Ermunterung als Ächtung von Gewalt.

Unser Staat muss in seinen eigenen Strukturen so stark und belastbar werden, dass seine Menschen ihn wieder als präsent und durchsetzungsstark erleben. Wenn nur noch Agenturen, gewinnorientierte Unternehmen, nichtstaatliche Organisationen, Trägervereine oder private Gruppierungen auftreten, um unser Gemeinwesen zu gestalten, ist dies das Gegenteil vom „starken Staat“. Das fängt bei der staatlichen Präsenz in unseren Rathäusern, Sozialeinrichtungen, Ordnungsbehörden, Krankenhäusern, Pflegeheimen oder dem öffentlichen Nahverkehr an, geht über ausreichende Verwaltungspräsenz auch in ländlichen Regionen und führt bis hin zu gut ausgestatteten Kitas, Schulen, Justizgebäuden und Einrichtungen der Sicherheitsbehörden.

Kiffen, Klauen, Schule schwänzen

Kiffen, Klauen, Schwänzen – die Klassiker am Beginn krimineller Karrieren. Wenn der Staat nicht frühzeitig und konsequent eingreift, werden Polizei und Justiz sie kaum verhindern können. Manche Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte waren eher von Einflüssen aus Unternehmensberatungen als durch kluge Entscheidungen politischer Akteure in Bund, Ländern und Gemeinden geprägt. Das muss sich wieder ändern. Der Staat hat kein Recht auf Schwäche, er hat die Pflicht zur Stärke. Dann bekommen wir die Gewalt auch wieder in den Griff. Schritt für Schritt.

Rainer Wendt ist Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft.