Manfred Weber, hier auf dem CSU-Parteitag in München, führt Europas Konservative in den EU-Wahlkampf. (Foto: Imago/Sammy Minkoff)
EU-Wahl

„Europa muss ein Projekt für die Menschen werden“

Interview Der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, der CSU-Politiker Manfred Weber, will Europa demokratischer machen. Die Gemeinschaft soll sich wirklich wichtigen Themen widmen – etwa der Verteidigung oder dem Kampf gegen Krebs.

Herr Weber, Sie sagen, die Menschen mögen Europa, aber nicht die EU. Wie wollen Sie als EVP-Spitzenkandidat im Wahlkampf die Begeisterung für die Europäische Gemeinschaft wecken?

Europa muss ein Projekt für die Menschen werden. Anders formuliert: Wir müssen Europa den Menschen zurückgeben. Heute wird die Europäische Union als kaltes Projekt, als Projekt der Technokraten und Eliten wahrgenommen. Das müssen wir beenden.

Wie soll das geschehen?

Wir werden es schaffen, indem wir Europa beispielsweise demokratisieren: Die Frage, ob die Türkei Mitglied der EU werden kann, die Frage, wie wir unsere Grenzen schützen, die Frage, wie wir mit dem Klimawandel umgehen wollen: All dies werden die Wähler im Mai bei der Europawahl entscheiden. Ihr Mandat ist dann Grundlage für die nächsten fünf Jahre.

Die Frage, ob der Traum von Europa, den wir jetzt leben, erhalten bleibt, entscheidet sich an der Demokratisierung.

Manfred Weber

Genügt es, Europa zu demokratisieren, um die Menschen auch emotional wieder für die EU einzunehmen?

Das mag sich theoretisch anhören, aber es ist eine ganz praktische Frage. Der Brexit kam zustande, weil die Mehrheit der Briten sagte: „Wir wollen unsere Souveränität zurück.“ Es herrschte das Grundgefühl vor, dass sie nicht mitentscheiden konnten. Sie fühlten sich ausgeliefert. Das müssen wir beenden. Deshalb sage ich etwa klar: Wenn ich Kommissionspräsident werde, wenn die Menschen CSU wählen und die EVP, dann werde ich die Beitrittsgespräche mit der Türkei beenden. Wir werden mit klaren Zusagen in die Wahl gehen. Und dann sollen die Sozialdemokraten gerne sagen, dass sie das anders sehen. Wir lassen die Menschen darüber entscheiden. Die Frage, ob der Traum von Europa, den wir jetzt leben, erhalten bleibt, entscheidet sich an der Demokratisierung.

Heißt das, man muss auch wieder mehr Verantwortung an die einzelnen Mitgliedsstaaten zurückdelegieren?

Wir wollen ein starkes Europa. Dafür stehen wir als CSU. Wir wollen aber auch ein schlankes Europa. Deshalb gehen wir an die Frage der Zuständigkeiten sehr pragmatisch heran. Bei der letzten Europawahl haben wir beispielsweise versprochen, dass die Frage, ob auf bayerischen Böden Gentechnik angewandt wird, nicht in Brüssel entschieden werden muss. Das haben wir umgesetzt. Das Gesetz ist in Kraft. Das zeigt, man kann Themen aus Europa zurückholen. Aber es gibt auch Themen, um die sich Europa gemeinsam kümmern muss. Angesichts von Donald Trump, von Präsident Putin und Erdogan müssen wir Europa etwa bei der Verteidigung stärken. Es soll dort entschieden werden, wo es sinnvoll aufgehoben ist.

Eine europäische Arbeitslosenversicherung wird es mit meiner Unterstützung nicht geben.

Manfred Weber

Für deutlich mehr Europa hat sich Frankreichs Präsident Macron ausgesprochen. Er fordert ein eigenes Budget für die Eurozone, einen europäischen Finanzminister, eine Einlagensicherung für Banken, eine europäische Arbeitslosenversicherung. Was halten Sie davon?

Ich bin froh, dass Emmanuel Macron französischer Präsident ist. Er ist ein junger, proeuropäischer Politiker. Er will, dass wir Europa gemeinsam weiterentwickeln. Das freut mich. Aber das heißt nicht, dass alle seine Vorschläge gut sind. Es gibt Bereiche, bei denen ich ihn unterstütze. Der Außengrenzenschutz ist dabei ein Top-Thema. 10.000 Frontex-Beamte sind eine langjährige Forderung der EVP-Fraktion. Das wird jetzt umgesetzt. Aber eine europäische Arbeitslosenversicherung wird es mit meiner Unterstützung nicht geben. Wir haben das Arbeits- und Sozialrecht in nationaler Zuständigkeit. Darüber wird in Paris, Rom oder Berlin entschieden. Da kann man nicht verlangen, dass bei Fehlern, die dort gemacht werden, Europa bezahlen soll. Wer die Entscheidungshoheit hat, muss auch die Konsequenzen tragen.

Kaum ein Problem hat Europa zuletzt so beschäftigt und entzweit wie die Flüchtlingskrise. Eine Lösung ist noch nicht in Sicht. Wie kann es hier weitergehen?

Die Grundbotschaft lautet: Schluss mit der Debatte, handeln. Wir wissen, was zu tun ist. Der zentrale Punkt dabei ist, Europa muss seine Grenzen schützen. Wir müssen wissen, wer sich auf europäischem Boden befindet. Das ist die Vorbedingung für alles Weitere. Wenn es der bulgarische Premierminister schafft, dass an seiner Grenze zur Türkei die illegale Migration fast bei null liegt, dann hat dieser Politiker unsere Unterstützung verdient. Dass dies heute in der EU Konsens ist, ist auch ein Erfolg der CSU.

Wir haben aber auch eine humanitäre Verantwortung. Deshalb plädiere ich dafür, in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen echten Bürgerkriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten in Europa weiter Schutz zu geben. Und zwar kontingentiert, nach oben begrenzt und zeitlich befristet, wie es internationaler Standard ist. Wenn wir das den Menschen garantieren können, dann ist auch in Europa die Bereitschaft vorhanden zu helfen. Die Konzepte dafür liegen auf dem Tisch.

Denken Sie, dass dann auch diejenigen Länder, die sich bislang strikt weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen, dazu bereit wären?

Die Visegrad-Staaten sagen zu Recht, dass zunächst der Außengrenzenschutz gewährleistet werden muss. Wir können keinen Verteilmechanismus beschließen, wenn wir nicht wissen, wer sich auf dem Kontinent befindet. Der Grenzschutz hat Priorität. Aber es muss auch klar sein, dass kein Land der Europäischen Union sagen kann, mich geht das Flüchtlingsthema nichts an. Wir brauchen auch Solidaritätsmechanismen.

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hat vorgeschlagen, dass Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, sich stattdessen finanziell beteiligen. Könnte das eine Lösung sein?

Der Vorschlag einer flexiblen Solidarität geht in die richtige Richtung.

An Deutschland ergeht immer wieder der Wunsch, mehr für Europa zu tun, sich mehr zu engagieren. Was könnte die Bundesregierung Ihrer Meinung nach tun?

Die Große Koalition hat das Europakapitel auf Platz 1 im Koalitionsvertrag gesetzt und darin konkrete Projekte beschrieben. Die müssen wir jetzt abarbeiten. Darauf wartet ganz Europa. Dazu gehört etwa, dass Europa eine ausreichende Finanzausstattung benötigt oder dass wir einen Europäischen Währungsfonds aufbauen müssen, um unabhängig von internationalen Strukturen zu werden.

Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht mit mehr Schulden Zukunft finanzieren können.

Manfred Weber

Regelmäßig zu hören ist auch die Forderung, Deutschland sollte mehr Geld investieren und nicht um jeden Preis an einem ausgeglichenen Haushalt festhalten. Was halten Sie davon?

Es kann nicht darum gehen, neue Schulden zu machen. Die Entscheidung für ausgeglichene Haushalte ist eine grundsätzliche Weichenstellung. Da war die CSU mit führend, dass dies heute in den Köpfen ist. Edmund Stoiber hat für den Freistaat Bayern vorgemacht, dass dies machbar ist. In Deutschland ist es zehn Jahre später gelungen. Inzwischen ist es ein Modell für ganz Europa. Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht mit mehr Schulden Zukunft finanzieren können. Aber Deutschland befindet sich nach wie vor in einer guten ökonomischen Situation. Was wir in Europa beitragen können, ist, mehr zu investieren. Deutschland investiert zu wenig in die Modernisierung der Infrastruktur und in die Digitalisierung. Investitionen sind das Gebot der Stunde. Das gilt für Europa, aber auch für Deutschland.

Ein besonderes Anliegen ist Ihnen der gemeinsame Kampf gegen Krebs. Warum beschäftigt Sie gerade dieses Thema so sehr?

Es gibt genug Aufgaben, bei denen die Menschen verstehen, dass wir sie nur gemeinsam angehen können. Die Idee, dass wir die Gelder bündeln, die Forschungsbemühungen und unsere Daten, die es dazu benötigt, und wir so der erste Kontinent sind, der Krebs stoppen kann, ist ein faszinierendes Projekt. Es zeigt, dass es nicht nur um Innovationen geht, um Geld zu verdienen oder tolle Produkte herzustellen, sondern auch darum, dass die Welt ein besserer Platz wird. Darauf könnten die Menschen in Europa stolz sein. Ich suche nach Themen, wie sie Franz Josef Strauß mit Airbus und der Idee einer europäischen Luftfahrtindustrie hatte. Es war ein faszinierendes Projekt, in den 50er- und 60er-Jahren zu sagen, wir bauen Flugzeuge, die mit denen von Boeing konkurrieren können. Das klang damals irreal. Aber heute ist Airbus besser als Boeing. Solche Projekte brauchen wir, um klarzumachen, dass wir Europäer Enormes leisten können. Wir müssen zeigen, dass wir an der Spitze marschieren können.

Welche Ideen haben Sie noch?

Zum Beispiel das Feld der Digitalisierung, die künstliche Intelligenz. Von den 200 wichtigsten Digitalkonzernen stammen weniger als zehn aus Europa. Wir haben derzeit viele klassische Industrien, die uns tragen. Sie bei der Digitalisierung zu begleiten, ist eine zentrale Aufgabe. Aber wir brauchen auch viel mehr die Zukunftstechnologien.

Muss der Sieger der Europawahl auch Präsident der Kommission werden? Nicht jeder Politiker in Europa sieht das so.

Dass diese Frage überhaupt gestellt wird, ist absurd. Die Menschen entscheiden bei der Europawahl darüber, welche Parteienfamilie die größte Fraktion stellt. Würde jemand bei der bayerischen Landtagswahl der größten Fraktion das Recht absprechen, den Spitzenkandidaten dann auch zum Ministerpräsidenten zu machen? Wir sprechen hier von einer demokratischen Wahlentscheidung der gesamten EU. In Helsinki haben fast 800 Delegierte der größten Partei in Europa aus 27 Staaten mit einer großen Mehrheit entschieden, dass Manfred Weber der Spitzenkandidat ist und Kommissionspräsident werden soll. Meine Fraktion wird niemanden in das Amt des Kommissionspräsidenten wählen, der nicht vorher Kandidat war. Die Wähler entscheiden darüber, welcher Kandidat Kommissionspräsident wird.

Die Fragen stellte Thomas Röll.