Neu-Bürger mit neuen Burgern: Das Wirt-Ehepaar Romy und Sebastian Kunz ist nach Marktredwitz gezogen und hat die Braterei "Baros" eröffnet. (Foto: A. Harbach)
Land-Trend

Der große Traum im ländlichen Raum

Viele junge Bayern packt die Landlust, weil in den Metropolen Mieten und Immobilienpreise explodieren. So schafft die Kleinstadt Marktredwitz in Oberfranken die Trendwende in der demografischen Krise: mehr Zuzügler, mehr Geburten, mehr Schulkinder. Aus dem BAYERNKURIER-Magazin.

Sogar die Hamburger-Portionen fallen in der Kleinstadt größer aus. Sebastian Kunz, 33, schleppt zwei mächtige Exemplare seines „Smoking BBQ“ mit fingerdick Rindfleisch in der Mitte, geschmolzenem Cheddar-Käse, gebratenem Speck und Röstzwiebeln aus der Küche. Die beiden Handwerker am Esstisch des „Baros“ klatschen in die Hände. Um die Beef-Burger hat Kunz einen Berg Pommes gehäuft, hoch genug, dass gleich noch die Schulkinder am Nachbartisch mitfuttern könnten. „In so einem kleinen Ort ist die Stammkundschaft wichtig“, sagt der Koch und Neu-Bürger, „die hält man am besten mit Qualität und Großzügigkeit.“ Erst dieses Jahr ist Bratmeister Kunz mit seiner Frau Romy, 31, nach Marktredwitz gezogen. Aus der Millionenstadt München in die oberfränkische Kommune mit gerade mal 17.150 Einwohnern.

In diesem Jahr haben sie am oberen Ende des Markts ihr Lokal eröffnet. Mittags sind fast alle Plätze voll, abends drängen sich die Hungrigen auch an den Stehtischen. „Uns ist München zu schnell, zu laut und zu teuer geworden“, erinnert sich Kunz. Da überkam das Pärchen die Landlust. Sie gingen in eine Region, der Demografen seit Langem den Exitus prognostizieren. Aber die Rahmenbedingungen erscheinen den beiden einfach zu verlockend.

Marktredwitz ist im Aufbruch. In München gibt es schon alles – aber hier bleibt einem noch Luft nach oben.

Romy Kunz, Gastronomin

In München steht mittlerweile an jeder Ecke eine Bio-Burger-Braterei, deren Wirte für dieselbe Fläche 7.000 Euro Pacht bezahlen. In Marktredwitz mietet Junggastronom Kunz zu einem Zehntel des Preises. „Das öffnet den Raum für Experimente. Wir haben uns getraut“, grinst Kunz stolz. Der Oberbürgermeister kümmerte sich persönlich um einen Starkstromanschluss für die Küche. Und Romy Kunz denkt auch schon an die Erweiterung des Business-Plans. „Dass Bastis Eltern hier am Ort wohnen, ist noch aus einem anderen Grund gut“, findet sie, „wir planen langsam Kinder.“

Zuzügler wie das junge Ehepaar sind der Idealfall für Landstriche, die unter Überalterung und sinkenden Einwohnerzahlen leiden. Dem umliegenden Landkreis Wunsiedel sagt das Bayerische Landesamt für Statistik bis 2032 den größten Bevölkerungsverlust aller Kreise im Freistaat voraus: minus 16 Prozent. Schon seit der Jahrtausendwende ist die Region von 86.000 auf 73.000 Einwohner geschrumpft. Aber Marktredwitz legt gegen den Trend zu. Nach jahrelanger Abwanderungstendenz zogen 2015 wieder 206 Menschen nach „Rawetz“, wie die Einheimischen ihren Ort nennen. Kitas und Schulen verzeichnen steigende Kinderzahlen. Die Zahl der Geburten stieg auf 127. Wären im gleichen Jahr nicht 264 Rawetzer gestorben, würde die Stadt sogar auf natürlichem Wege wachsen. „Wir haben die Trendwende geschafft“, freut sich Oberbürgermeister Oliver Weigel, 45.

Raus aufs Land

Der ländliche Raum im Freistaat spürt diesen Umkehrschub flächendeckend. Experten halten die explodierenden Miet- und Immobilienpreise in den großen Städten für den Auslöser. Am stärksten wachsen die Landkreise rund um München. Ein Ballungsraum der Pendler-Vororte entlang der S-Bahn-Linien. Aber die Entwicklung zeichnet sich auch in den entfernteren Kreisen wie Bad Tölz, Traunstein oder Berchtesgadener Land ab.

Mehr als sieben Millionen Bayern leben inzwischen in den Gebieten, die Städter mal abschätzig als „Provinz“ bezeichneten. Doch seit das Internet vergleichbar angenehme Verhältnisse beim Shopping und in der Unterhaltung schafft, seit der Breitbandausbau auch entlegene Orte für Unternehmen und Selbstständige attraktiver macht, entdecken Leute aus den Metropolen die entspannte Lebensqualität, die niedrigeren Lebenshaltungskosten. Allein zwischen 2014 und 2015 übersiedelten mehr als 46.000 Menschen aufs Land.

Altersruhesitz für Adelheid

Die Entwicklung reicht bis in strukturschwache Teile Nordbayerns. Mag auch Marktredwitz kein gemütliches Dorf sein. Eine Menge Durchgangsverkehr wälzt sich durch die engen Hauptstraßen.

An der Imbissstube „Zur guten Quelle“ gegenüber des Alten Rathauses lehnt Rentnerin Felicitas Fritsch, 66, und ordert eine Currywurst. „Für eine Landpomeranze wie mich ist Rawetz prima“, verkündet sie. Kein Gedränge im Bus, die Altstadt blüht auf. Sogar Rückkehrer, die lange fort waren, zieht das Städtchen wieder an. „Meine Schwester Adelheid, die vierzig Jahre in Köln gelebt hat, überlegt ernsthaft, für die Rente hierherzuziehen“, berichtet Frau Fritsch.

Dabei war die Kommune noch nach der Wiedervereinigung einer der schlimmsten Sanierungsfälle in Bayern. Die Chemische Fabrik Marktredwitz, die älteste im Freistaat, ging vor die Hunde und hinterließ einen gigantischen Umweltskandal. Metertief war das Erdreich am ebenfalls kontaminierten Stadtbach Kössein voll Quecksilber gesogen. Arbeiter litten unter den Folgeschäden. Im Jahr 2001 stellte auch noch die Textilfabrik Benker auf der anderen Seite des Bachs den Betrieb ein. Von einst 1.000 Arbeitplätzen blieb kein einziger. Vor allem Junge zogen fort.

Die Stimmung hier ist top. Aber die finanziellen Möglichkeiten fesseln uns.

Oliver Weigel, Oberbürgermeister

Von den Katastrophen der Millenniums-Phase hat sich das ländliche Industriestädtchen mit Mühe erholt. Der Boden unter der giftigen Chemiefabrik wurde mit Millionenaufwand entgiftet. Heute steht dort ein Einkaufszentrum, das am Wochenende viele aus der Region und bis aus Tschechien zum Einkaufen lockt. Im WLAN-Hotspot im ersten Stock hängt nachmittags eine Handvoll syrischer Flüchtlinge ab.

Arbeitgeber wie der Automobilzulieferer Scherdel oder der Keramikproduzent CeramTec schaffen Jobs. Auf dem leeren Benker-Areal entsteht ein neues Stadtviertel, in dem Bürobauten ebenso Platz finden sollen wie neue Wohnungen. Die Gewerbesteuereinnahmen sind von einst sechs auf 12 Millionen Euro im Jahr gestiegen. „Es hängt nicht ewig auf die eine Seite, alles dreht sich einmal“, hat die Gemeinde laut Rathaus-Chef Weigel aus der misslichen Vergangenheit gelernt.

Baby-Boom und Kanal-Rumms

Der CSU-OB, der vor zwei Jahren seiner altgedienten Vorgängerin Birgit Seelbinder (parteilos) nachfolgte, erhält viel Lob quer durch den Ort. Wenn im Baby-Boom ein lesbisches Paar im Ortszentrum ein Geschäft für Kinderwagen und Spielzeug eröffnet – Weigel kommt zur Einweihung. Wenn in der Marienstraße plötzlich die Kanalisation einbricht – Weigel kümmert sich. Auch wenn er ächzt: „Die Reparaturen verschlingen eine Million Euro. Das müssen wir an anderer Stelle sparen.“

Die kommunale Infrastruktur peu à peu zu erneuern ist Weigels Langzeitprojekt. Straßen frisch teeren, Gehwege ausbessern, Turnhalle neu bauen, Kindergarten sanieren. Wenn ab 2018 die neue Justizvollzugsanstalt mit 190 Jobs in einem Gewerbegebiet an der Autobahn 93 entsteht, muss Weigel nachlegen. „Da ziehen junge Familien her. Bis spätestens in fünf Jahren brauchen wir eine neue Kita“, versichert er. Die gestiegene Geburtenrate in Marktredwitz hat eine Kehrseite: den Mangel an Krippenplätzen. Einstweilen verweist der OB, selbst fünffacher Vater, auf den Neubau der „Kinderbrücke“.

Alle Kindergärten in der Stadt sind überfüllt. Die Krippengruppen reichen auch nicht aus.

Anne Sedlak-Hofmann, Leiterin Kita „Kinderbrücke“

Stolz läuft Leiterin Anne Sedlak-Hofmann durch die mit viel Holz und gelben, orangen, roten Wandelementen gestaltete Einrichtung. Sie deutet hinaus auf den Spielplatz, den Eltern in Eigenregie mit Holzhäuschen und Rutsche hergerichtet haben. 118 Kinder in sechs Gruppen betreuen ihre Erzieherinnen. „Wir sind voll ausgelastet“, sagt sie. Täglich kommen Mütter, die hier ihre Kleinen unterbringen wollen. Sedlak-Hofmann muss sie weiterschicken. „Alle Kindergärten in der Stadt sind überfüllt. Die Krippengruppen reichen auch nicht aus“, berichtet sie.

99 Luftballons im Park

Auch Krankenschwester Julia Latton, 28, hat sich auf der Warteliste der „Kinderbrücke“ eingetragen. Vor drei Jahren ist sie mit ihrem heutigen Ehemann René, ebenfalls 28, in Marktredwitz zusammengezogen. Vor neun Monaten kam Sohn Toni zur Welt. Zusammen mit Kater Gomez leben die drei in einem schmucken Einfamilienhaus, das sie sich im Neubaugebiet Am Bühl errichtet haben. „Hier herrscht Aufbruchstimmung. Es ist was los. Im Sommer ist Nena im Auenpark aufgetreten“, lobt René, der als Industriemechaniker bei Scherdel arbeitet. Er stammt aus dem Dörfchen Thiersheim nördlich von Marktredwitz, seine Frau aus dem westlich gelegenen Ort Mehlmeisel. In der Mitte haben sie zusammengefunden. Nur ungern wären sie in die nahe gelegene Kreisstadt Wunsiedel gezogen. „Das ist doch tot dort“, meint René Latton. Von der Grundschule über Realschule und Gymnasium bis zur Fachoberschule sei für Sohn Tonis Zukunft in Marktredwitz alles vorhanden, findet Mama Julia. Nun muss es nur noch mit dem Krippenplatz klappen.

Die Bauplätze für Familien sind so begehrt. Das haben wir mit unserem Häuschen Glück gehabt.

René Latton, Industriemechaniker

Die beiden jungen Eheleute aus dem Umland sind den Weg vieler Zuzügler im ländlichen Raum gegangen. Quer durch Bayern verschieben sich die Gewichte: weg von den Dörfern, hin zu größeren Kommunen. Während noch in den 1960er-Jahren 24 Prozent der Bayern in Gemeinden unter 1.000 Einwohnern lebten, ist es heute nur mehr ein Prozent. In Kommunen bis 20.000 Bürger dagegen wohnen heute 61 statt damals 43 Prozent. „Auch im ländlichen Raum gibt es den Zentralisierungstrend“, erklärt OB Weigel. Nur 15 Prozent der Neu-Rawetzer stammen aus Nürnberg oder München, 85 Prozent dagegen aus der Region – aus Dörfern wie Mehlmeisel oder Thiersheim.

Bildung, Arbeit, Freizeitmöglichkeiten locken die Menschen. Wenn Städte im demografischen Wandel zu spät aktiv werden, fallen sie nach Weigels Einschätzung auf die Verliererseite. „Die Schnellen fressen die Langsamen“, glaubt er. Aufpassen muss er dabei, nicht Opfer eines weiteren Überlebensprinzips zu werden: Fressen und gefressen werden. Auch die nächstgrößeren Städte Bayreuth und Weiden/ Oberpfalz wachsen seit fünf Jahren wieder.