Der CSU-Ehrenvorsitzende Dr. Theo Waigel, (Foto: Imago)
Nach dem Brexit

Herr Waigel, wie geht’s weiter mit Europa?

Interview Nach dem Brexit stellt sich der frühere Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel, Vater des Euro und Architekt des europäischen Hauses, den Fragen von Dr. Claudia Schlembach und Kea-Sophie Stieber von der Hanns-Seidel-Stiftung. Im Interview spricht der CSU-Ehrenvorsitzende über die Rolle Großbritanniens in der EU und die Zukunft Europas.

Herr Dr. Waigel, der Brexit ist da. Er kam für viele überraschend, vor allem offenbar für die Brexit-Befürworter selbst. Aber war es wirklich so überraschend, dass sich zumindest ein Teil Großbritanniens gegen den Verbleib in der EU entscheidet? Europamüdigkeit und Renationalisierung sind nicht nur britische Erscheinungen. Wie sehen Sie das?

Großbritannien ist im Hinblick auf Europa ein gespaltenes Land. Winston Churchill plädierte im britischen Unterhaus 1945 und 46 für die Teilnahme Großbritanniens an einem gemeinschaftlichen Europa. Er kritisierte seinen Nachfolger Clément Attlee, dass er sich dem Wunsch von Jean Monnet verweigere, gemeinsam mit Frankreich an einer europäischen Gemeinschaft teilzunehmen. Leider hat er diese leidenschaftlich vorgebrachte Position nicht durchgesetzt, als er 1950 wieder zum Premierminister gewählt wurde. Als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) entstand, versuchte Großbritannien, ein Gegengewicht durch die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) zu schaffen, der sich 13 Länder in Europa anschlossen. Doch die EWG war erfolgreicher und ein Land nach dem anderen wechselte von der EFTA zur EWG. Ende der sechziger Jahre beantragte auch Großbritannien den Beitritt zur EWG, was aber am Veto von de Gaulle scheiterte. Erst dessen Nachfolger Pompidou stimmte der Aufnahme Großbritanniens Anfang der siebziger Jahre zu. 1991 trat Großbritannien auch dem Europäischen Währungssystem EWS bei, war aber nicht in der Lage, die Finanzspekulationen abzuwehren und musste 1992 aus diesem europäischen Währungssystem ausscheiden. Dieses Trauma wirkt bis heute nach.

Da die anderen großen Länder in der EU 1998 ihre Teilnahme an der gemeinsamen Währung erklärten, geriet Großbritannien innerhalb der EU in eine gewisse Isolierung, weil sie an wichtigen Entscheidungen währungspolitischer Art nicht beteiligt waren.

Theo Waigel

Die Verhandlungen und Vorbereitungen für eine gemeinsame europäische Währung wurden von Großbritannien unterschiedlich begleitet. Margarete Thatcher war eine erbitterte Gegnerin einer europäischen Währung und verlangte im Vertrag von Maastricht eine Nichtteilnahmeklausel für Großbritannien. Ihre Nachfolger John Major und Tony Blair standen der gemeinsamen Währung positiver gegenüber. Schatzkanzler Kenneth Clarke und sein Staatssekretär Nigel Nicks arbeiteten am Gerüst und der Vorbereitung einer gemeinsamen Währung positiv und produktiv mit. Durch die konservative Partei zog sich aber ein Riss, so dass ein Beitritt zur gemeinsamen Währung nicht möglich war. Tony Blair hätte es in seiner ersten Legislaturperiode schaffen können, vollzog diesen Schritt jedoch nicht. Da die anderen großen Länder in der EU 1998 ihre Teilnahme an der gemeinsamen Währung erklärten, geriet Großbritannien innerhalb der EU in eine gewisse Isolierung, weil sie an wichtigen Entscheidungen währungspolitischer Art nicht beteiligt waren.

Pro-europäische Politiker und Parteien müssen den Bürgern wieder verstärkt die Vorteile der Gemeinschaft für alle Bürger und für die Völker und Nationen erklären.

Theo Waigel

Die großen Erfolge der Europäischen Union in den letzten Jahrzehnten haben bei der Kampagne und der Abstimmung kaum eine Rolle gespielt. Die Erhaltung und Gestaltung des Friedens, die Rückkehr der mittel- und osteuropäischen Staaten in die europäische Gemeinschaft, die positiv veränderte Sicherheitsstruktur in Europa und die Wiedervereinigung Deutschlands wären ohne die europäische Strahlkraft nicht möglich gewesen. Ein zersplittertes Europa hätte die Herausforderung der Globalisierung und den Druck großer Währungsblöcke wie dem Dollar nicht bestanden. Die Finanzkrise der letzten Jahre hätte den Ländern Europas ohne gemeinsame Anstrengungen noch viel stärker zugesetzt. Pro-europäische Politiker und Parteien müssen den Bürgern wieder verstärkt die Vorteile der Gemeinschaft für alle Bürger und für die Völker und Nationen erklären.

Unter ihrer Schirmherrschaft hat die Hanns-Seidel-Stiftung drei Jahre lang die Reihe „Visionen für Europa“ aufgelegt. Wir hatten spannende Abende mit hochkarätigen Strategen aus Politik und Wirtschaft auf dem Podium und viel über Sicherheit, Frieden, Wohlstand gesprochen. Aber reicht das als Vision, um 28 unterschiedlichen Nationen zu vereinen? Haben wir uns zu wenig um das Projekt Europa gekümmert?

Die gegenwärtige Situation in Europa ist nicht reif für große Visionen. Es geht darum, Europa und seine Institutionen zu stabilisieren und krisenfest zu machen. Dazu ist es notwendig, die Verfahren zu straffen und die Prozesse zu verbessern. Die Verabschiedung der Hilfsprogramme für Griechenland mit unzähligen Konferenzen und Sondersitzungen war kein Lehrstück für eine geglückte europäische Initiative. Dem Ministerpräsidenten Tsipras und seinem Finanzminister hätte allein durch den Vorsitzenden der Euro-Gruppe bedeutet werden sollen, was geht und was nicht geht. Bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise haben einige Mitgliedsländer der EU ihre Solidarität nicht unter Beweis gestellt. Doch man muss den Menschen in allen Ländern auch sagen, dass eine Gemeinschaft mit 28 Mitgliedern schwerer zu Entscheidungen kommt als die ursprüngliche Gemeinschaft mit sechs Ländern. Vielleicht hätte auch stärker herausgestellt werden müssen, welchen positiven Beitrag die Europäische Union in der schwierigen Situation einiger osteuropäischer und baltischer Staaten mit Russland gespielt hat. Ohne die klare Haltung der Europäischen Union hätten sich diese Länder gegenüber dem Druck Russlands sehr schwergetan. Völlig vergessen wird in der öffentlichen Diskussion, dass die Hilfsprogramme für die Länder Irland, Portugal, Spanien und Zypern erfolgreich waren. Diese vier Programmländer haben wieder Zugang zu den öffentlichen und internationalen Kapitalmärkten. Nur Griechenland befindet sich noch in einer schwierigen Situation der Anpassung.

Es geht darum, Europa und seine Institutionen zu stabilisieren und krisenfest zu machen. Dazu ist es notwendig, die Verfahren zu straffen und die Prozesse zu verbessern.

Theo Waigel

Das britische Pfund ist nach dem Brexit auf ein 30-Jahres-Tief gesunken. Welche Auswirkungen wird der Brexit auf den Euro bzw. auf die Währungsunion haben?

Da Großbritannien nicht der europäischen Währungsunion beigetreten ist, sind die Auswirkungen des Brexits auf den Euro und die Wirtschafts- und Währungsunion begrenzt. In der Finanzkrise der letzten Jahre hat die EZB ihre Bilanz längst nicht so ausgeweitet wie die Bank of England. Das damalige Ausscheiden des britischen Pfund aus dem EWS hat dem damaligen Währungsverbund nicht geschadet. Ein Jahr später gelang es sogar in einer gemeinsamen Anstrengung den französischen France so zu stützen, dass kein Realignment erforderlich wurde. Ich kenne kein anderes Land, das aus dem Euro-Raum ausscheiden möchte. Alle Länder sind sich darüber im Klaren, dass ein Ausscheiden gravierende Nachteile zur Folge hätte. Vor allem Länder mit sehr hohen Zinsen vor der Einführung des Euro würden wesentlich höhere Kosten für die Finanzierung ihrer Staatsschulden aufbringen müssen. Bei den meisten Ländern würde ein Ausscheiden zu Abwertung, höherer Verschuldung und Rezession führen. In Deutschland hätten wir eine spürbare Aufwertung mit erheblichen Nachteilen für unseren Export und die Beschäftigten.

Ist das Haus Europa, so wie es die Architekten Helmut Kohl und Theo Waigel wollten, nun tatsächlich eher eine Ruine, wie viele vermeintliche oder tatsächliche Experten behaupten?

Die europäische Union und auch die Wirtschafts- und Währungsunion verfügen heute über wesentlich mehr Mitglieder als in den neunziger Jahren. Damit ist Europa größer und stärker, aber auch unbeweglicher und schwieriger zu lenken geworden. Der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder vor zwölf Jahren war nicht nur ein Quantensprung sondern ein entscheidender Fortschritt in der Struktur Europas. Die vermeintlichen Experten und Kritiker sollten stärker darüber nachdenken, wie es um die einzelnen Mitgliedsländer ohne das Dach der Europäischen Union stünde. Die einzelnen Staaten, selbst größere wie Deutschland und Frankreich und Italien, würden im globalen Kräftemessen nur noch eine Randerscheinung sein.

Im Rahmen der Griechenlandkrise waren Sie kein Befürworter, Griechenland mit allen Mitteln in der Währungsunion und der EU zu halten. Wie sieht es mit Großbritannien aus? Teilweise drängt sich stark der Anschein auf, weder Volk noch Politiker seien allzu überzeugt von ihrer Wahl. Sollte man dafür kämpfen, einen möglichen Austritt doch noch umzukehren?

Die Aufnahme Griechenlands in die Wirtschafts- und Währungsunion war ein schwerer Fehler, den CDU und CSU nicht zu verantworten haben. Das Spiel mit falschen Zahlen durch die griechische Politik und die mangelnde Kontrolle durch die europäischen Institutionen haben sich als verhängnisvoll erwiesen. Griechenland hat seine Euro-Rendite durch niedrige Zinsen nicht für die Strukturverbesserung seiner Finanzen oder für zielführende Investitionen gebraucht. Es wäre aber aus geopolitischen Gründen problematisch geworden, eine schwerwiegende Rezession in Griechenland ohne die Hilfsmaßnahmen in Kauf zu nehmen. Angesichts der Flüchtlingssituation in den letzten Jahren waren Hilfsprogramme angesichts der schwierigen Situation dieses Landes notwendig und vertretbar.

Ob sich in Großbritannien eine Umkehr der Brexit-Entscheidung herauskristallisieren könnte, vermag gegenwärtig niemand zu prognostizieren. Wir sollten uns auf die vollzogene Brexit-Entscheidung einstellen. Nur ein großer Staatsmann oder eine einflussreiche Staatsfrau wäre in der Lage, die Briten nochmals zu einer vielleicht anderen Entscheidung zu bewegen. General de Gaulle hat dies Anfang der sechziger Jahre angesichts der fast unlösbaren Algerienfrage für Frankreich entschieden und gelöst. Angesichts der chaotischen Führungssituation in den britischen Parteien sehe ich gegenwärtig eine solche Persönlichkeit nicht. Weder der bisherige britische Premierminister Cameron, noch der Führer der Labour Party und schon gar nicht verantwortungslose Populisten wie Johnson und Farage geben ein Beispiel für politische Führung in schwerer Zeit.

Ob sich in Großbritannien eine Umkehr der Brexit-Entscheidung herauskristallisieren könnte, vermag gegenwärtig niemand zu prognostizieren. Wir sollten uns auf die vollzogene Brexit-Entscheidung einstellen.

Theo Waigel

Die Briten haben viele Themen und Verfehlungen ihrer nationalen Politik auf das Referendum projiziert, welches nun höchstwahrscheinlich zum Austritt Großbritanniens aus der EU führt. Wann halten Sie eine nationalstaatliche, wann eine europäische Denkweise für zielführend?

Es ist den Befürwortern eines Verbleibs in der EU nicht gelungen, die Bedeutung der EU in der Welt und die wichtige Rolle Großbritanniens in der EU herauszustellen. Cameron hat es auch versäumt, den Fehler Tony Blairs zu definieren, der nach dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten bewusst auf eine Übergangsregelung hinsichtlich des Zuzugs verzichtet hat. So hat sich Großbritannien durch seine eigene Entscheidung in einer Stimmungsdemokratie Nachteile zugefügt. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müssen endlich neue, populäre Programme vorlegen und durchführen. Das sind zum Beispiel der Schutz der Außengrenzen, Abkommen mit Herkunftsländern und eine gerechte Steuerung der Flüchtlingsfrage. Das ist die gemeinsame Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern. Das wäre auch die verstärkte Bekämpfung der Korruption in einer Reihe von Mitgliedsländern. Dazu gehören auch eine stärkere Entrümpelung vieler paralleler Institutionen und die Straffung von Entscheidungsvorgängen. Und dazu gehört vor allem die Rückführung mancher Programme der Strukturpolitik in die Zuständigkeit von Mitgliedstaaten und Ländern. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist ein Vertragsbündnis, das vom Vertrauen in die Einhaltung von Regeln lebt. Wichtige Länder wie Frankreich und Italien müssen erkennen, dass sie die Einhaltung dieser Regeln zugesagt haben. Währungen leben vom Vertrauen der Menschen, der Investoren und Anleger in diese Währung. Dieses Vertrauen gilt es wieder herzustellen und zu festigen. Das ist die nicht einfache Aufgabe der deutschen Bundesregierung angesichts einer Verantwortung Deutschlands, die durch den beabsichtigten Austritt Großbritanniens größer geworden ist.

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müssen endlich neue, populäre Programme vorlegen und durchführen. Das sind zum Beispiel der Schutz der Außengrenzen, Abkommen mit Herkunftsländern und eine gerechte Steuerung der Flüchtlingsfrage.

Theo Waigel

Das Online-Angebot der Hanns-Seidel-Stiftung

Lesen Sie hier das Interview auf den Seiten der HSS: http://www.hss.de/politik-bildung/themen/themen-2016/interview-zum-brexit-mit-theo-waigel.html