Explosion der Freude bei Argentiniens neuem Staatspräsidenten: Mauricio Macri (M.) nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse. Foto: Imago/Xinhua
Argentinien

Argentinien sucht einen neuen Weg

Politische Wende mit Signalwirkung für ganz Lateinamerika: Mit Mauricio Macri erhält Argentinien einen bürgerlich und unternehmerisch denkenden Präsidenten und die Chance zu Wende und Neuanfang. Der linkspopulistische Kirchnerismus ist abgewählt. Wirtschaftspolitisch will Macri zurück zur Vernunft, außenpolitisch zurück in westliche Lager.

Argentinien am Abgrund

Das war eine Präsidentschaftswahl am wirtschaftlichen Abgrund: praktisch Null-Wachstum in diesem Jahr, angekündigte Rezession im nächsten; zwischen 25 und 30 Prozent Inflation; das Hauhaltsdefizit ist auf gut sechs Prozent angeschwollen; dafür sind die Währungsreserven auf 26 Milliarden Dollar geschrumpft – wenig für eine Wirtschaft von der Größe Argentiniens. Weil Buenos Aires sich einer Einigung über seine Auslandsschulden aus dem Bankrott von 2001 verweigert, werten Ratingagenturen das Land als technisch zahlungsunfähig – und Argentinien erhält nicht die Auslandsinvestitionen, die es so dringend bräuchte.

40 Prozent der Bevölkerung leben von Staatsgeldern

Weil die scheidende Präsidentin Christina Fernandez de Kirchner Versorgungsstaat und Klientelismus wuchern ließ, leben heute 40 Prozent der fast 42 Millionen Argentinier von Renten, Sozialhilfe oder von Gehältern, die der Staat oder Staatsunternehmen zahlen – doppelt soviele wie noch vor acht Jahren. Kapitalkontrollen und absurde Exportsteuern, die aber den Sozialstaat finanzieren sollen, lähmen die Wirtschaft. Wenn es ein Land gibt, das dramatischen Wandel und völlig neue politische Denke dringend braucht, dann Argentinien.

Ende der Ära Kirchner

Dazu könnte es jetzt kommen. Denn am 10. Dezember endet für die Argentinier die zwölf Jahre lange Ära der Links-Peronisten Nestor Kirchner und seiner Witwe, Christina Fernandez, die ihm 2007 in der Präsidentschaft nachfolgte und jetzt gemäß Verfassung der zweiten Amtszeit nicht nahtlos eine dritte folgen lassen konnte. Und vielleicht enden mit der Ära Kirchner auch zwölf Jahre linkspopulistische Staatswirtschaft, Dirigismus und Klientelismus.

Das ist ein historischer Tag, ein Epochenwechsel, der uns eine Zukunft des Wachstums und des Fortschritts geben wird.

Designierter Präsident Mauricio Macri

Gegen jede Erwartung und entgegen aller Prognosen war Mauricio Macri, der Kandidat der konservativen Partei PRO (Republikanischer Vorschlag), Ende Oktober in der ersten Wahlrunde mit 34 gegen 37 Prozent knapp an den peronistischen Kandidaten Daniel Scioli herangerückt. Weil er in der zweiten Runde die meisten Wähler des Drittplazierten für sich gewinnen konnte, ist ihm jetzt die Sensation geglückt: Mit 51,5 gegen 48,5 Prozent hat er die Wahl für sich entschieden. „Das ist ein historischer Tag, ein Epochenwechsel, der uns eine Zukunft des Wachstums und des Fortschritts geben wird“, jubelte Macron am Wahlabend. Von „Argentiniens politischem Erdbeben” titelt die New Yorker Tageszeitung The Wall Street Journal. Schon morgen wird Macri Noch-Präsidentin Kirchener in der Präsidentenresidenz Casa Rosada treffen.

Mauricio Macri: Man der Wirtschaft und der Vernunft

Für Argentinien  könnte die Stunde der Wende schlagen. Denn mit Macri folgt den Links-Peronisten Nestor und Christina Kirchner ein völlig anderer Typus ins Präsidentenamt: Acht Jahre lang war Macri Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires, die zugleich einer von Argentiniens 24 Gliedstaaten ist. Er hat dort viel für die Infrastruktur und für arme Stadtviertel getan. Vor seiner Zeit als Bürgermeister war er bekannt geworden als Präsident der Boca Juniors, Argentiniens populärstem Fußballverein – Fußball-Idol Diego Maradona hat dort gespielt. Der schwerreiche Unternehmersohn und studierte Ingenieur – 1991 wurde er gekidnappt und gegen sechs Millionen Dollar Lösegeld wieder frei gelassen – ist ein Mann der Wirtschaft und des unternehmerischen Denkens.

Das Land auf einen wirtschaftlich liberaleren Kurs zurückführen und die Kapitalkontrollen beenden.

Macri weiß, wie es um Argentinien steht. Im Wahlkampf hat er viel versprochen: Er will das Land auf einen wirtschaftlich liberaleren Kurs zurückführen und die Kapitalkontrollen beenden. Der Devisenhandel und die Landeswährung Peso sollen wieder freigegeben werden – was zunächst zum Kurssturz führen wird. Den Streit mit den Hedgefonds um Argentiniens Milliardenschulden will er beilegen und dann endlich wieder Investoren ins Land ziehen. Die überbordenden Sozialleistungen allerdings wird er so schnell nicht anrühren.

Signalwirkung für Lateinamerika

Auch außenpolitisch könnte sich mit Macri einiges ändern. Die Kirchners waren auf das Linksregime von Venezuelas Halb-Diktatoren Hugo Chavez und Nicolas Maduro zugegangen, hatten die Konfrontation mit Washington und die Nähe zu Moskau und Peking gesucht. Macri dagegen will Venezuela – wo am 6. Dezember Parlamentswahlen anstehen – wegen seines Umgangs mit der politischen Opposition aus dem südamerikanischen Handelsblock Mercosur hinauswerfen lassen und wieder mit den USA zusammenarbeiten. Für den Kontinent könnte sich eine spannende politische Wende anbahnen: Noch unterhalten Linksregierungen in Brasilien, Chile und etwa Bolivien enge Beziehungen zu Venezuela.

Kein Durchregieren

Aber Macri wird sich vorsichtig bewegen müssen. Durchregieren kann er nicht. Im Gegenteil: In beiden Häusern des Parlaments fehlt ihm die Mehrheit. In der Abgeordnetenkammer hält seine Partei PRO nur 89 von 257 Mandaten, gegen 107 der bisherigen peronistischen Regierungskoalition. Immerhin kann er auf weitere 33 Abgeordnete aus der  Fraktion des Ex-Peronisten und Drittplazierten aus der ersten Wahlrunde, Sergio Massa, zählen. Wohl nur zwei von 24 Gouverneuren werden ihn unterstützen. Die Gefahr besteht, warnt die Londoner Wochenzeitung The Economist, dass er am Schluss nicht viel wird bewegen können. Auch das ist ein Warnzeichen: Hätte sie antreten dürfen, dann wäre allen Umfragen zufolge Christina Kirchner schon in der ersten Wahlrunde wiedergewählt worden. Beobachter glauben, dass sie es in vier Jahren noch einmal versuchen will.

100 Jahre Niedergang

Argentinien hat Besseres verdient. In dem riesigen Land zwischen Rio de La Plata und Anden – mit 2,8 Millionen Quadratkilometern ist es fast achtmal so groß wie Deutschland – geht es um mehr als um politischen und wirtschaftlichen Wandel. Es geht um eine große historische Wende: Vor 100 Jahren gehörte Argentinien an der Wirtschaftskraft pro Kopf gemessen zu den zehn reichsten Ländern der Erde – nach den USA, Großbritannien oder Australien, aber vor Frankreich, Deutschland und Italien. In den vier Jahrzehnten vor 1914 war Argentinien mit jährlichem Wachstum von durchschnittlich sechs Prozent Wachstumsweltmeister.

Vor 100 Jahren war Argentinien die Zukunft und zog Einwanderer von überall her an.

Argentinien war die Zukunft und zog Einwanderer von überall her an. Kalifornien oder Argentinien – damals fiel die Entscheidung schwer, pointierte The Economist vor knapp zwei Jahren in einem spannenden Dossier über Argentiniens 100 Jahre langen Niedergang: 1914 lag Argentiniens Pro-Kopf-Einkommen bei 93 Prozent des Durchschnitts von 16 reichen Ländern – heute liegt es nur noch bei 43 Prozent der gleichen 16 Länder. Chile und Uruguay haben es überholt. Argentiniens Niedergang hat viele Ursachen: Misswirtschaft, ungute Konzentration auf fast einen einzigen agrarischen Wirtschaftszweig und nur auf Export, dramatische Vernachlässigung von Bildung und Industrie, schwache staatliche Institutionen – und immer wieder die Versuchung von Populismus, autoritärer Herrschaft und Diktatur.

1914 gehörte Argentinien zu den zehn reichsten Ländern der Erde – nach den USA, Großbritannien oder Australien, aber vor Frankreich, Deutschland und Italien.

100 Jahre später ist Argentinien sozusagen trauriges Lehrbuchstück dafür, wie man es nicht machen darf. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts erhalten die Argentinier nun eine Chance zur Wende, um es endlich wieder richtig zu machen. Nutzen müssen sie diese Chance aber selber.