Julio Borges ist Präsident der Nationalversammlung Venezuelas und Oppositionsführer im Land. (Foto: Imago/Agencia EFE)
Menschenrechte

„Wir sind nicht alleine“

Interview Das Europäische Parlament verleiht den diesjährigen "Sacharow-Preis für geistige Freiheit" an die Opposition in Venezuela. Der BAYERNKURIER sprach mit dem Präsidenten der Nationalversammlung, Julio Borges, der die Auszeichnung entgegen nimmt.

Herr Borges, welche Bedeutung hat der Sacharow-Preis für Sie persönlich und für die demokratische Opposition in Venezuela?

Der Sacharow-Preis ist eine große Ehre. Er würdigt diejenigen von uns, die sich weigern, ohne Freiheit und in Armut zu leben. Es erfüllt mich mit Stolz, aus einem Land zu stammen, das in seinen dunkelsten Tagen als Beispiel des Mutes gilt. Der Sacharow-Preis gibt auch Hoffnung, weil er uns daran erinnert, dass wir nicht alleine sind, dass die Welt uns sieht und sich mit unserem Kampf solidarisiert.

Wie ist die aktuelle Lage in Venezuela?

Wir durchleben gerade vielleicht den schwierigsten Moment unserer republikanischen Geschichte. Nicolás Maduro hat ein perverses Wahlsystem eingeführt, das verhindert, dass die Menschen von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen können. Er missachtet unseren Willen. Darüber hinaus wurde eine betrügerische Nationalversammlung eingeführt, deren einzige Aufgabe es ist, Institutionen und Gesetze für eigene Zwecke zu missbrauchen. Die Struktur der Herrschaft von Nicolás Maduro basiert auf Hunger und Angst. Angesichts dieser schrecklichen Realität haben wir die Herausforderung, Wege zu finden, die es uns ermöglichen, die Stimme eines Volkes, das Demokratie fordert,  zu retten und bekannt zu machen.

Wie ist die Situation der Bevölkerung?

Die Situation in Venezuela ist schwierig. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts hat Bedingungen für beispiellose Armut und Gewalt geschaffen. Die Venezolaner hungern, ganze Familien essen Müll und haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Krankheiten, die als ausgerottet galten, wie Diphtherie, sind zurückgekehrt. Das Land leidet unter einer humanitären Krise und das Regime weigert sich, die Türen für die notwendige Hilfe aus dem Ausland zu öffnen. Deshalb besteht unsere Hauptherausforderung darin, humanitäre Kanäle zu öffnen.

Worauf beruht die Macht von Präsident Maduro?

Die Macht von Nicolás Maduro ist illegitim und basiert auf institutioneller Gewalt, repressiver Gewalt, politischer Verfolgung und Angst. Wie jede illegitime Macht ist sie auf den irrationalen Einsatz von Gewalt reduziert. Diese Macht ist anscheinend stark, weil sie in der Lage ist, Schmerz und Tod zu verursachen. Aber in Wirklichkeit ist sie schwach, weil sie nur auf Gewalt ruht.

In welcher Lage befindet sich die Opposition?

Wir durchleben einen komplexen Moment, weil das Regime in seinem Eifer, das perfekte Herrschaftssystem zu schaffen, Szenarien schafft und die Opposition spaltet. Es spielt mit institutionellem Missbrauch, um eine „loyale“ Opposition zu erzwingen, die es nicht infrage stellt und international den Anschein einer demokratischen Situation erweckt. Diese Lage ist sehr kompliziert. Unsere Loyalität sollte nur der Verfassung und den Menschen, die leiden, gelten. Vor allem sollten wir denen loyal bleiben, die am meisten leiden, und die die Armut nur überwinden können, wenn die Demokratie zurückkehrt.

Welche Ziele verfolgt die demokratische Opposition?

Unser Ziel ist es, die Demokratie zu retten und die soziale Ungerechtigkeit zu überwinden, die uns der Sozialismus des 21. Jahrhunderts auferlegt hat. Kurzfristig besteht die Herausforderung darin, Wege der Beteiligung des Volkes zu schaffen, die es uns ermöglichen, die Stimmabgabe zu retten und einem Land, das an Hunger zugrunde geht, Hoffnung zu geben.

Die USA haben einen härteren Kurs gegen die Maduro-Regierung angekündigt. Zeigt das bereits Wirkung?

Diese Maßnahmen bestätigen die undemokratische Natur des Regimes und begrenzen die Finanzierung von Ungerechtigkeiten. Die Maßnahmen begrenzen die Ressourcen des Regimes. Es sind Aktionen, die zum demokratischen Kampf beitragen.

Wie kann Europa die venezolanische Opposition unterstützen?

Wir sind zutiefst dankbar für die Solidarität, die wir von der Europäischen Union, insbesondere von Deutschland, erhalten haben. Sie waren immer aufmerksam gegenüber dem, was in unserem Land passiert. Der Sacharow-Preis ist eine wichtige Anerkennung, die uns mit Hoffnung erfüllt. Es gibt immer noch eine Reihe möglicher Sanktionen, die unserem demokratischen Kampf helfen können. Letztendlich können diese Entscheidungen sehr hilfreich sein.

Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

Deutschland ist ein Land, das gezeigt hat, dass Wiederaufbau und Versöhnung möglich sind. Früher oder später werden die Venezolaner sich der Herausforderung stellen, das Land wieder aufzubauen und uns als Volk zu versöhnen. In dem Moment kann die Erfahrung Deutschlands als Referenz dienen, und jede Hilfe in dieser Hinsicht ist immer willkommen.

Das Interview mit Julio Borges konnte der Bayernkurier auf Vermittlung von Kristin Wesemann vom Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Montevideo führen. Die Übersetzung hat Manfred Steffen angefertigt.

Für Recht und Freiheit

Der nach dem sowjetischen Physiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow benannte Preis wird seit 1988 jedes Jahr vom Europäischen Parlament vergeben. Mit dem Preis werden Personen und Organisationen ausgezeichnet, die sich in besonderer Weise für die Menschenrechte einsetzen. 2016 erhielten die jesidischen Menschenrechtlerinnen Nadia Murad und Lamija Adschi Baschar die Auszeichnung. Der Preis ist mit 50.000 Euro dotiert. Er wird am 13. Dezember in Straßburg verliehen.