Russlands Griff nach der Ukraine: Die Krim wurde annektiert und in der Ostukraine kämpfen russische Soldaten und "Separatisten". Bild: Fotolia/peteri
Schwere Gefechte

Mariupol und das Schicksal der Ukraine

Kein gutes Zeichen für den Minsker Friedensprozess in der Ostukraine: Nahe der südostukrainischen Hafenstadt Mariupol sind schwere Gefechte aufgeflammt. Beobachter glauben, dass Moskau mit dem Gedanken spielt, sich vom Minsker Abkommen abzuwenden. Ein Kompromiss zwischen den Separatisten und Kiew ist schwer vorstellbar – und der Status quo nutzt vor allem der Ukraine.

In der Ukraine spielt die Zeit für Kiew – und gegen Moskau. Das kann der Grund dafür sein, dass genau jetzt die Kämpfe in der Ostukraine an Intensität zunehmen. Vor allem nahe der strategisch wichtigen Industrie- und Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer.

US-Presseberichtern zufolge griffen in den frühen Nachtstunden des vergangenen Montags Kräfte der prorussischen Separatisten etwa 50 Kilometer nördlich von Mariupol mehrere Stellungen der ukrainischen Armee mit massivem Artilleriefeuer an. Dann stießen etwa 400 Separatisten, unterstützt von zehn Kampfpanzern und zehn Schützenpanzern, gegen eine ukrainische Verteidigungsstellung nahe der Ortschaft Starognatovka vor. Die Regierungskräfte konnten den Angriff abwehren und sind im Gegenangriff auf von den Separatisten gehaltenes Gelände vorgedrungen, heißt es aus ukrainischen Quellen − der erste Kiewer Landgewinn seit langem. Seither liegen die ukrainischen Truppen unter anhaltendem Artilleriefeuer. Beobachter sprechen von den schwersten Gefechten seit dem Minsker Waffenstillstandsabkommen vom 12. Februar 2015. Die Kämpfe konzentrieren sich auf einen Abschnitt um die  Autobahn Donetsk-Mariupol herum. Die russisch-separatistischen Kräfte müssten sie in die Hand bekommen, falls sie auf Mariupol vorstoßen wollten.

Separatisten drohen mit „großem Krieg”

Beide Seiten werfen einander Bruch des Minsker Abkommens vor. Der ukrainische Außenminister Pawel Klimkin schloss eine Rückverlegung von schweren Waffen in das Gefechtsgebiet nicht aus. Das wäre eine Verletzung des Minsker Abkommens. Die Separatisten drohten für den Fall des Bruchs des Abkommens mit „großem Krieg“. In Moskau rief Präsident Wladimir Putin den russischen Sicherheitsrat zusammen. Ukrainische Truppen haben ein inzwischen angeblich erobertes Dorf wieder geräumt. Amerikanischen Presseangaben zufolge halten sie aber noch eine eroberte strategisch bedeutsame Höhe im umkämpften Gebiet.

Strategisch wichtiges Mariupol

Für beide Seiten ist Mariupol von großer Bedeutung. Das ostukrainische Separatistengebiet ist ohne die 468.000 Einwohner große Industrie- und Hafenstadt wirtschaftlich nicht lebensfähig. Vor dem Krieg in der Ukraine bestritt Mariupol etwa 35 Prozent des Wirtschaftsaufkommens des Oblasts Donezk, zu dem es gehörte. Stahlwerke in Mariupol machten 70 Prozent der Stahlproduktion der Region aus. Für die Exportwirtschaft des Donbass ist Mariupols Hafen unverzichtbar. Für Russland wäre die Eroberung Mariupols durch die Separatisten eine wichtige Etappe bei der Herstellung einer Landverbindung zur annektierten Halbinsel Krim.

Ohne Mariupol ist das Separatisten-Gebiet wirtschaftlich nicht lebensfähig.

In Mariupol entscheidet sich womöglich das Schicksal der Ukraine. Aus dem Grund hat der Westen einen Separatisten-Angriff auf die Hafenstadt, der nur mit massiver russischer Unterstützung möglich wäre, stets als das Überschreiten einer roten Linie bezeichnet – mit schweren Folgen für die Beziehungen zwischen Washington der Europäischen Union und Russland.

Ergebnis des Minsker Abkommens: Die Zeit arbeitet gegen Moskau

Ob das Moskau dauerhaft abschreckt, muss sich zeigen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Moskau mit der Entwicklung der Dinge seit dem Minsker Abkommen unzufrieden ist und Handlungsoptionen erwägt. Denn je mehr Kiew es vermag, die Rest-Ukraine politisch und wirtschaftlich zu stabilisieren, desto mehr fällt Moskau das wirtschaftlich nicht lebensfähige besetzte Donbass-Gebiet zur Last – wirtschaftlich und politisch.

Je mehr Zeit die Regierung in Kiew kaufen kann, um etwa in aktuellen Verhandlungen mit Kreditgebern ihre finanzielle Lage zu stabilisieren, desto mehr werden die Ukrainer in den Orbit der Europäischen Union gezogen.

The Washington Times

Gleichzeitig intensivieren sich aber die Verbindungen zwischen Kiew und dem Westen – politisch, wirtschaftlich, finanziell und militärisch. 1800 amerikanische, britische, kanadische, polnische und andere Nato-Soldaten befinden sich derzeit in der Ukraine − um die ukrainischen Truppen auszubilden, und um selber etwas über den neuen Gegner im Osten zu lernen. Das berichtet die mit dem US-Magazin Newsweek verbundene Internetzeitung The Daily Beast. „Je mehr Zeit die Regierung in Kiew kaufen kann, um etwa in aktuellen Verhandlungen mit Kreditgebern ihre finanzielle Lage zu stabilisieren, desto mehr werden die Ukrainer in den Orbit der Europäischen Union gezogen“, sieht auch die US-Tageszeitung The Washington Times voraus. Das wäre das genaue Gegenteil von dem, was Moskau in der Ukraine erreichen wollte. In der Ukraine arbeitet die Zeit für Kiew und gegen Moskau.

Blockade zwischen Kiew und den Separatisten: Kompromiss unmöglich

Tatsächlich habe das Minsker Abkommen für Moskau in eine Sackgasse geführt, analysiert das US-Monatsmagazin The Atlantic (Auflage: 489.000). Die Positionen zwischen der Regierung in Kiew auf der einen Seite und den Separatisten und Moskau auf der anderen sind unvereinbar: Kiew verlangt vor einer Wiederherstellung des ukrainischen Gesamtstaates die Kontrolle über die Grenzen zu Russland, freie, faire  und international überwachte Wahlen in der Ostukraine, die Entwaffnung der Separatisten sowie den Abzug aller russischen Truppen und Waffen. Moskau und die Separatisten dagegen wollen der Region innerhalb der Ukraine eine so große Autonomie garantieren, dass sie faktisch zum russischen Protektorat würde, so The Atlantic. Die Separatistenführer sollen zur legitimen Regionalregierung werden, ihre Kämpfer zur regionalen Polizeitruppe.

Das Ergebnis ist eine vollständige Blockade – und die ist zum Vorteil Kiews. Denn je länger der Zustand andauert, desto nachteiliger für Russland.

Alexander Motyl, ukrainisch-amerikanischer Historiker und Russland-Experte

Zwischen den Positionen Kiews und der Separatisten ist ein Kompromiss unmöglich. Weitere Verhandlungen können zu nicht viel führen. Das Ergebnis ist eine vollständige Blockade – und die ist zum Vorteil Kiews. Denn je länger der Zustand andauert, desto nachteiliger ist er für Russland, erklärt der ukrainisch-amerikanische Historiker und Politik-Professor Alexander Motyl: „Die Donbass-Enklave ist  ein wirtschaftliches Chaos. Für die Ukrainer ist es darum von Vorteil, wenn sie sich die Region so lange wie möglich und so weit möglich vom Leibe halten können; für die Russen ist es ein Nachteil, für sie verantwortlich sein zu müssen.“

Russische Pässe für die Ost-Ukrainer?

Ukraine- und Russland-Experte Motyl: „Russland hat keine guten Optionen im Donbass.“ Mit dem Minsker Friedensprozess bekommt Moskau nicht das, was es in der Ukraine will: dauerhafte Destabilisierung der Ukraine und Verhinderung eines Kiewer Westkurses. Sucht Moskau nun darum einen Vorwand, um aus dem Minsker Abkommen ausbrechen zu können?

Plötzlich würde Russland dort nicht mehr ethnische Russen schützen, sondern russische Bürger.

Die wieder aufflammenden Gefechte nahe der strategischen Schlüssel-Stadt Mariupol könnten ein Hinweis darauf sein. Beunruhigend ist in dem Zusammenhang, dass in Moskau die Forderung lauter wird, den Bewohnern des Donbass-Gebietes russische Pässe zu geben. Wenn es dazu käme, würde das den Konflikt in der Ostukraine über Nacht dramatisch verändern, warnt The Atlantic: „Plötzlich würde Russland dort nicht mehr ethnische Russen schützen, sondern russische Bürger – was es für Moskau einfacher machen würde, dort offen und direkt zu intervenieren.“