Ground Zero, die Abwurfzone im japanischen Hiroshima nach der Explosion der Atombombe "Little Boy" am 6. August 1945. Bild: Imago/Zuma/Keystone
Hiroshima

Mit ein, zwei gewaltigen Schlägen den Krieg beenden

Heute vor 70 Jahren hat die erste Atombombe die japanische Hafenstadt Hiroshima völlig vernichtet. Fast 140.000 Personen fanden den Tod. Washington hatte vor allem eines im Kopf: den Krieg so schnell wie möglich zu beenden – und so viel amerikanisches Blut zu sparen wie nur irgendmöglich. Aber mit den Bomben von Hiroschima und Nagasaki brach auch ein neues, nukleares Zeitalter an.

Ein Name verbindet Hiroshima mit dem kleinen mittelfränkischen Städtchen Rothenburg ob der Tauber: John Jay McCloy. Gegen Kriegsende war der Staatssekretär im US-Kriegsministerium – und spätere US-Hochkommissar in der frisch gegründeten Bundesrepublik – an der amerikanischen Front in Deutschland unterwegs. Zu Besuch bei einer Division In Mittelfranken erfuhr er, dass Rothenburg von amerikanischer Artillerie niedergewalzt werden sollte.

McCloy hat Rothenburg gerettet – und Hiroshima dem nuklearen Feuer übergeben.

McCloy kannte Rothenburg, weil seine Mutter es einmal besucht und von dort einen Kupferstich nachhause gebracht hatte. „Das ist eine der letzten großartigen Städte in Europa mit vollständiger Stadtmauer“, setzte er dem US-Kommandeur vor Ort auseinander. Man solle doch noch einen Versuch machen, die friedliche Übergabe der Stadt herbeizuführen, riet er. Der General tat, was sein Staatssekretär wünschte. Rothenburg ergab sich doch – und machte McCloy später zum Ehrenbürger. Irgendwo in der Stadtmauer steht noch heute sein Name. Drei Monate später war Staatssekretär McCloy entscheidend an der Planung für den Einsatz der beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki beteiligt. Rothenburg hat er gerettet. Hiroshima hat er dem atomaren Feuer übergeben, auch wenn er natürlich nicht allein verantwortlich diese Entscheidung traf.

„Wir haben das Atom gespalten”

Am 22 . Juli 1945, während der Potsdamer Konferenz, unterrichtete US-Präsident Harry S. Truman  den britischen Kriegspremier Winston S. Churchill über den über alle Erwartungen erfolgreichen Atombombentest in New Mexico. Die Bombe sollte gegen Japan eingesetzt werden und den Krieg beenden. Churchill, der natürlich von dem zwei Milliarden Dollar teuren riesigen, aber hochgeheimen  Forschungsprogramm wusste, war begeistert: „Wir haben das Atom gespalten“, erzählte er am nächsten Tag unter dem Siegel höchster Verschwiegenheit seinem Leibarzt Lord Moran: „Das ist die Wiedergeburt Christi im Zorn. Das Geheimnis ist der Natur entrissen. Wir haben die Amerikaner auf die Bombe angesetzt. Über London abgeworfen, würde sie die Stadt beseitigen. Sie soll gegen Japan eingesetzt werden, gegen Städte, nicht Armeen. Sie kommt genau im richtigen Moment, um die Welt zu retten.“

Die Bombe kommt genau im richtigen Moment, um die Welt zu retten.

Winston S. Churchill

Churchills Arzt nahm die Nachricht anders auf als der Premier. Beim nächsten Briefing, bei dem er auch zugegen war, hörte er alle Stimmen nur noch wie unter Narkose, weit entfernt und unwirklich. Er verließ das Zimmer und wanderte durch die leeren Räume in jenem Potsdamer Haus: „Ich hatte einmal in einem Haus geschlafen, in dem ein Mord stattgefunden hatte. Genauso fühlte ich mich jetzt hier.“

Ganz oben auf der Liste der Ziele stand Hiroschima

Einen Tag später präsentierte US-Kriegsminister Stimson dem Präsidenten eine Liste mit Zielstädten in Japan, die er eben aus Washington erhalten hatte. Ganz einverstanden war der Minister mit der Liste nicht. Kyoto, fand er, sollte gestrichen werden. Kyoto war zwar ein Ziel von großer militärischer Bedeutung. Aber es war die alte Hauptstadt und ein Schrein japanischer Kunst und Kultur, erklärte er dem Präsidenten. Truman stimmte zu. Kyoto wurde gestrichen. Ganz oben auf der Liste der potentiellen Ziele für die erste Atombombe stand Hiroshima. Truman zeichnet sie ab. Alles war fertig für die finale Operation. Bis zum zehnten August sollte die Bombe fallen.

Eine bewusste große Entscheidung zum Einsatz der ersten Atombombe und zu ihrem Abwurf über Hiroshima hat es nicht gegeben. Das war nicht nötig. Es war einfach selbstverständlich, dass die neue Superwaffe eingesetzt werden würde. Schon 1942 hatte Stimson den Befehl gegeben, die Bombe so schnell wie möglich zu produzieren, „um den Krieg zu beenden“.

Vorbereitung für die Invasion Japans schon im Gange

Den Krieg mit Japan so schnell wie möglich zu beenden, zu amerikanischen Bedingungen – nur darum ging es Präsident Truman und seinem Kabinett im Juli und August 1945. Die Planungen für „Operation Downfall“, die Invasion der japanischen Hauptinseln, waren schon in vollem Gange. Am 1. November sollte sie mit „Operation Olympic“ und der Landung auf der Insel Kyushu beginnen. März 1946 sollte mit der „Operation Coronet“ die Invasion der Hauptinsel Honshu folgen. 30 amerikanische Divisionen waren schon unterwegs vom europäischen Kriegsschauplatz ans andere Ende der Welt, in den Pazifik. Die amerikanische Presse rechnete mit einem Kriegsende nicht vor Juni 1946. Und nur eine bedingungslose Kapitulation kam für die Amerikaner in Frage. In seiner ersten Rede vor dem Kongress am 16. April hatte Truman sie noch einmal als seine Politik fixiert. Im Juni bestätigte eine Gallup-Umfrage, dass nur sieben Prozent der Amerikaner meinten, man solle den Japanern ihren Kaiser als machtlose Marionette lassen.

Auf Okinawa hatten die Japaner die Invasionstruppen auch nach zehntägigem Bombardement immer noch mit fanatischer Wut bekämpft, fast bis zum letzten Mann.

Im Weißen Haus hatten alle die bittere Erfahrung der blutigen Eroberung von Okinawa vor Augen. Eben erst, am 17. Juni, nach zehn Wochen schwerster Kämpfe, hatten die Truppen von General MacArthur die nur 2000 Quadratkilometer große südjapanische Insel unter Kontrolle gebracht – nach schwersten Verlusten. Hunderte japanischer Kamikaze-Flugzeuge hatten 30 amerikanische Schiffe versenkt und über 300 getroffen.

Nach zehntägigem Luft- und Artilleriebombardement hatten die Japaner die Invasionstruppen immer noch mit fanatischer Wut gekämpft, fast bis zum letzten Mann. Am 17. Juni las sich die blutige Bilanz entsprechend: 12.000 amerikanische Soldaten hatten ihr Leben gelassen, 36.000 wurden verwundet. Auf japanischer Seite waren die Verluste um den Faktor zehn größer: 110.000 Soldaten – und 150.000 Zivilisten, ein Drittel der Bevölkerung.

Washington rechnet mit fürchterlichen Verlusten

Nach der Erfahrung machte man sich im Weißen Haus für die „Operation Downfall“ auf fürchterliche Verluste gefasst. US-Admiral Nimitz rechnete in einer dramatischen Kabinettsrunde am 18. Juni mit 49.000 amerikanischen Toten allein in den ersten 30 Tagen der Invasion. Kriegsminister Stimson sah voraus, dass die Japaner – Soldaten wie Zivilisten – kämpfen würden wie nie zuvor und sprach von einer Million toten und verletzten US-Soldaten. Es war nicht die höchste Schätzung.

Ich habe mir gedacht, dass eine Viertel Million der Blüte unserer jungen Männer ein paar japanische Städte wert wären, und ich denke immer noch, dass sie es waren und sind.

Harry S. Truman

Präsident Truman war sich der zu erwarteten hohen Opfer besonders bewusst. Allein in den drei Monaten seit seinem Amtsantritt am 13. März war die Hälfte aller bisher im Pazifikkrieg ums Leben gekommenen Soldaten gefallen. „Je näher der Sieg kam, umso höher der Blutzoll“, resümiert sein Biograph, der US-Historiker David McCullough: „Egal wie man die zu erwartenden Verluste berechnete, wenn sie auch vermieden werden konnten, waren sie in jedem Fall zu hoch.“ Truman selber hat es ein paar Monate später so formuliert: „Ich habe mir gedacht, dass eine Viertel Million der Blüte unserer jungen Männer ein paar japanische Städte wert wären, und ich denke immer noch, dass sie es waren und sind.“

Der Ausweg: Die Bombe

Das war der Moment an jenem 18. Juni in Washington, an dem Staatssekretär McCloy die Runde an die – noch nicht getestete – Bombe erinnerte, die alles verändern konnte. Mit der Bombe, so McCloy, war eine „politische Lösung“ möglich und die Invasion würde vielleicht unnötig. McCloy brachte auch einen neuen Gedanken ins Spiel: „Ich würde den Japanern sagen, dass wir die Bombe haben, und ihnen erklären, was für eine Art Waffe das ist. Dann würde ich ihnen die Kapitulationsbedingungen diktieren.“ Man sollte den Japanern außerdem sagen, dass sie ihren Kaiser behalten könnten. Und wenn sie die Kapitulation trotzdem verweigerten? McCloy: „Unsere moralische Position wird stärker sein, wenn wir ihnen eine Warnung geben.“

Dass die Bombe eingesetzt werden musste, stand außer Zweifel. Übrigens auch für die überwiegende Mehrheit der an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler. Nur über das Wie wurde in Washington intensiv nachgedacht. Würde eine harmlose Demonstration ohne Verluste den Japanern klar machen, was ihnen blühte? Sollte man die Bombe über einer Stadt abwerfen oder ein rein militärisches Ziel angreifen? Sollte man die Japaner vorher warnen?

Wir sehen keine Alternative zum militärischen Einsatz der Atombombe.

Robert Oppenheimer

Niemand anderes als Chef-Atomforscher Robert Oppenheimer selber verwarf den Gedanken einer Demonstrationsdetonation. Die Mehrheit der Forscher glaubte nicht, dass es möglich war, mit einer bloßen technischen Demonstration den Krieg zu beenden. Außerdem gab es zunächst nur eine einzige Bombe. Oppenheimer: „Wir sehen keine Alternative zum militärischen Einsatz.“ Sollte man die Japaner vorher warnen  und ihnen sagen, wo die Bombe eingesetzt würde? Wenn die Bombe doch nicht funktionierte, würde das die Japaner dann erst recht zum Weiterkämpfen anstacheln. In Washington traute man den Japanern auch zu, dass sie nach einer präzisen Warnung amerikanische Kriegsgefangene ins Zielgebiet bringen würden. Ein Luftwaffen-General stellte dazu noch eine praktische Frage: „Möchten Sie nach so einer Warnung der B-29-Pilot sein, der die Bombe ins Ziel bringt?“

Zwei gewaltige Schockschläge, um den Krieg zu beenden

Alle Berater in Washington waren sich einig: Es ging um die Schockwirkung. Wenn die Bombe den Krieg beenden sollte, musste sie Japan einen kriegsentscheidenden Schock versetzen. Und das ging nur mit dem Angriff auf ein richtiges Ziel, auf eine militärisch wichtige Stadt. Der britische Premier Churchill erinnerte später an eine weitere Überlegung: Erst der Schock der Atombombe würde Japan die Möglichkeit geben zu kapitulieren, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Churchill: „Ich dachte sofort daran, dass das japanische Volk, dessen Mut ich immer bewundert habe, im Erscheinen dieser fast übernatürlichen Waffe eine Rechtfertigung dafür finden könnten, sich von seiner Verpflichtung zu befreien, bis zum letzten Mann getötet zu werden, und trotzdem seine Ehre zu wahren.“ Die Amerikaner sahen es ähnlich. Im japanischen Ethos kam Kapitulation nicht vor, so der US-Militärgeheimdienst. Im ganzen Krieg hatte sich nicht eine einzige japanische Einheit ergeben. Die Bombe, so Churchill, war die Gelegenheit, den ganzen Krieg „mit ein, zwei gewaltigen Schockschlägen zu beenden“.

Die Atombombe konnte dem japanischen Volk die Gelegenheit und Rechtfertigung geben, sich von seiner Verpflichtung, bis zum letzten Mann getötet zu werden, zu befreien und sich dabei trotzdem seine Ehre zu bewahren.

Winston S. Churchill

So setzten die Amerikaner es dann auch um. Immerhin, die Japaner erhielten zwar keine explizite Warnung, aber doch ein letztes Ultimatum, das bei genauem Lesen der japanischen Führung sogar Auswege aufzeigte. Am 26. Juli forderten Truman, Churchill-Nachfolger Clement Attlee und Chinas Generalissimo Chiang Kai-schek in der sogenannten Potsdamer Erklärung Japan auf, die Waffen niederzulegen. Dem japanischen Volk wurde humane Behandlung versprochen; die Japaner „würden nicht als Rasse versklavt oder als Nation zerstört“ werden. Sobald eine verantwortliche, friedliche und frei gewählte Regierung in Tokio die Geschäfte übernommen hätte, würden die Besatzungstruppen wieder abziehen. Die Formulierung von der „bedingungslosen Kapitulation“ tauchte nur einmal auf und bezog sich auf die Streitkräfte, nicht auf die Nation. Am Schluss stand drohend die Alternative: „sofortige und völlige Vernichtung.“

Der Tag von Hiroshima

Am 27. Juli fingen japanische Stationen das Potsdamer Ultimatum auf. Doch Tokio zog es vor, nicht darauf zu reagieren. Am 6. August befand sich Präsident Truman auf dem Schweren Kreuzer USS Augusta, auf der Heimfahrt von Plymouth nach Washington. Es war kurz vor Mittag, der Präsident und seine Mannschafft hatten sich gerade zum frühen Mittagessen versammelt. Da brachte der Kapitän die Depesche mit der Meldung vom ersten Atombombenabwurf. Truman sprang auf: „Das ist die größte Sache der Geschichte.“ Mit einer Gabel stieß er an ein Glas und bat die ganze Mannschaft um Aufmerksamkeit: „Bitte behalten Sie Platz und hören Sie mir einen Moment zu. Ich muss Ihnen etwas bekannt machen: Wir haben soeben eine neue Bombe auf Japan geworfen, die gewaltiger ist als 20.000 Tonnen TNT. Es war ein überwältigender Erfolg.“

Wenig später veröffentlichte das Weiße Haus eine weitere Warnung an Japan. Darin war nun präzise von der Atombombe die Rede und von der darin „gebändigten Ur-Gewalt des Universums“: „Wir werden Japans Fähigkeit, Krieg zu führen, vollständig vernichten. … Wenn sie jetzt nicht unsere Bedingungen akzeptieren, dann können sie einen Regen des Verderbens erwarten, wie ihn noch niemals jemand auf dieser Welt gesehen hat.“ Truman am 9. August in einer Radiobotschaft: „Nur eine japanische Kapitulation wird uns aufhalten.“

Wäre es nicht wunderbar für diese ganze Nation, wie eine schöne Blume zerstört zu werden?

Japans Kriegsminister

Tokio reagierte noch immer nicht. Am Tag von Nagaski, am 9. August, bevor die zweite Bombe fiel, tagte in Tokio der Oberste Kriegsrat. Ohne Ergebnis. Drei Top-Kommandeure plädierten dafür, den Krieg fortzusetzen. Der Kriegsminister appellierte an die Runde, die Amerikaner zur letzten Schlacht auf das japanische Festland zu locken: „Wäre es nicht wunderbar für diese ganze Nation, wie eine schöne Blume zerstört zu werden?“ Dann kam die Nachricht von Nagasaki. Die Sitzung wurde vertagt. Erst jetzt ergriff Kaiser Hirohito die Initiative und fällte die Entscheidung, 20 Stunden nach der Bombe von Nagasaki: „Wir müssen das Untragbare ertragen und kapitulieren.“ Churchill behielt Recht: Die Atombomben haben Japan vielleicht nicht zur Kapitulation gezwungen – aber sie haben sie wohl erst möglich gemacht, dem Kaiser, dem Militär, dem Volk.

Eine neue unheilvolle Zeit

In Amerika war die erste Reaktion auf die Meldung von der Bombe in Hiroshima – Jubel. Vor allem unter den Millionen Soldaten auf dem pazifischen Kriegsschauplatz. Die Ernüchterung kam schnell, mit den Nachrichten von den entsetzlichen Verwüstungen in Hiroshima und Nagasaki. Robert Oppenheimer hatte für Hiroshima mit etwa 20.000 Toten gerechnet. Tatsächlich kamen dort etwa 140.000 und in Nagasaki etwa 74.000 Japaner ums Leben. Die allermeisten Zivilisten. Viele weitere Menschen starben in den folgenden Jahren durch die Strahlenkrankheit. „Es ist nicht mehr unmöglich, dass ganz Städte mit allen Menschen darin im Bruchteil einer Sekunde von einer einzigen Bombe ausgelöscht werden“, schrieb etwa die Chicago Tribune am Tag nach Hiroshima. Eine neue unheilvolle Zeit war angebrochen, die niemanden verschonen würde, und eines Tages auch Amerika bedrohen könnte. Aber auch dies gehörte zum Anbruch des neuen Zeitalters – und wieder brachte es Churchill auf den Punkt: Wenn die Russen die Bombe zuerst entwickelt hätten, „dann wäre das das Ende der Zivilisation gewesen“. Jetzt gab die Bombe den Amerikanern „die Macht, um die Welt zu formen“. Die USA hatten bei der Entwicklung der Bombe drei Jahre Vorsprung, glaubte der britische Kriegspremier: „Bis dahin müssen wir die Dinge in Ordnung bringen.“