Premierminister Winston Churchill blickt auf Westminster: "Das müssen Sie wissen: Jedes Mal, wenn wir uns zwischen Europa und der offenen See entscheiden müssen, dann werden wir uns für die offene See entscheiden". So der Premier zu Charles de Gaulle am 4. Juni 1944 in London. (Bild: H.M.)
Brexit

„Splendid Isolation“ im 21. Jahrhundert?

Gastbeitrag Das Vereinigte Königreich hätte auch im Falle seines Verbleibes in der EU weiter um seine Sonderrechte gekämpft. Der Ausgang des Referendums reflektiert neben aktuellen Sorgen breiter Kreise der britischen Bevölkerung auch alte, zum Teil Jahrhunderte alte Kräfte, die Londons Haltung gegenüber „Europa“ bis in die Gegenwart prägen. Historische Hintergründe des Brexit.

Das Vereinigte Königreich hätte auch im Falle seines Verbleibes in der EU weiter um seine Sonderrechte gekämpft, nur ausgesuchte Projekte und Maßnahmen des Integrationswerkes akzeptiert und wäre somit ein unbequemer Partner geblieben. Der Ausgang des Referendums reflektiert neben aktuellen Sorgen breiter Kreise der britischen Bevölkerung auch alte, zum Teil Jahrhunderte alte Kräfte, die Londons Haltung gegenüber „Europa“ bis in die Gegenwart prägen. Die Wirksamkeit dieser Faktoren, die während der vergangenen Jahrzehnte immer wieder deutlich wurde, vereitelt, dass das häufig zitierte Verdikt US-Außenministers Dean Acheson aus dem Jahre 1962, wonach Großbritannien ein Empire verloren, aber noch keine neue (europäische) Rolle gefunden habe, endgültig in die Geschichtsbücher verbannt werden kann.

Selbst Brexit-Gegner beriefen sich auf Margaret Thatcher

Während sich in den vergangenen Wochen vor dem Referendum am 23. Juni Befürworter und Gegner eines „Brexit“ eine regelrechte Medienschlacht innerhalb des Vereinigten Königreiches lieferten, dominierten in der (kontinental-)europäischen Medienlandschaft eindeutig diejenigen Stimmen, die für den Verbleib Londons im Kreise der EU warben. Ein Brexit, so deren Tenor, würde nicht nur zu wirtschaftlichem Niedergang und politischer Isolation Großbritanniens führen, sondern er hätte als Präzedenzfall für einen Austritt aus der EU auch verhängnisvolle Konsequenzen für die Kohärenz und Zukunft der Union. Im Umkehrschluss legte diese Argumentation die Überlegung nahe, dass im Falle eines Verbleibes Großbritanniens im Kreise der Union das spannungsgeladene Verhältnis zwischen London und „Brüssel“ entkrampft würde und die Beziehungen des Inselstaates zu seinen kontinentaleuropäischen Partnern auf eine qualitativ neue, substanziell verbesserte Grundlage gestellt werden könnten. So vielversprechend derartige Perspektiven auch zu sein schienen, so wenig realistisch wirken sie im Lichte einer Analyse der Historie britischer Integrationspolitik, die reich ist an Belegen für die altbekannte These des an der University of Sheffield wirkenden Politologen Stephen George, der zufolge Großbritannien traditionell ein „awkward partner“ (schwieriger Partner) im Kreise der EU sei.

Wie soll die EU besser werden, wenn wir nicht Mitglied sind?

Niall Ferguson, britischer Historiker und Brexit-Gegner

Blauäugige Visionen in Richtung einer ungetrübten Partnerschaft mit London für den Fall eines Verbleibes Großbritanniens in der EU hätten auch durch eine sorgfältigere Analyse der Argumentation der Brexit-Gegner vermieden werden können. Deren Plädoyer wurde mehrheitlich nämlich nicht durch eine genuine Europa-Euphorie gespeist, sondern mit der Möglichkeit der weiteren Beeinflussung des europäischen Integrationsprozesses im Sinne traditioneller britischer Interessen verknüpft. So begründete etwa der renommierte schottische Historiker Niall Ferguson, der die „Remain“-Befürworter unterstützt hatte, sein Votum mit der Notwendigkeit, dass die EU durch britische Einflüsse „verbessert“ werden müsse. „Wie soll die EU besser werden, wenn wir nicht Mitglied sind? Großbritannien kann der EU zu mehr Wachstum verhelfen, was im Interesse jedes Europäers ist. Wir müssen für den Markt streiten, für weniger Regulierung und freien Handel mit Dienstleistungen. Wir müssen die Argumente durchsetzen, die wir seit Margaret Thatchers Zeiten vertreten.“ (1)

Der Verstand sagt den Briten, dass ihr Ort heute in Europa ist. Das Herz aber sagt ihnen, dass – mit Shakespeare zu reden – das ‚gekrönte Eiland‘ eine Welt für sich war, ist und immer bleiben soll.

Michael Stürmer, Historiker

Die euphorischen Hoffnungen auf eine vorbehalt- und ausnahmslose Mitwirkung Großbritanniens im Gefüge des europäischen Einigungswerkes reflektierten ein mangelndes Verständnis für das „besondere“ Verhältnis Londons zu „Europa“. Ursache dieser Fehlperzeption ist eine geradezu eklatante Unterschätzung der diesbezüglichen Bedeutung der Geschichte und der geographischen Lage des Inselstaates, dessen Bewohner in dem nur wenige Meilen breiten Ärmelkanal mehrheitlich eine größere Distanz empfinden mögen als im Tausende von Meilen umspannenden Nordatlantik, der sie von den USA trennt. „Der Verstand“, so diagnostizierte der Erlanger Historiker Michael Stürmer bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten – und dieser Befund gilt unverändert – „sagt den Briten, dass ihr Ort heute in Europa ist. Das Herz aber sagt ihnen, dass – mit Shakespeare zu reden – das ‚gekrönte Eiland‘ eine Welt für sich war, ist und immer bleiben soll.“ (2)

Historische Wurzeln der Sonderrolle Großbritanniens in Europa

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die renommierte britische Historikerin Linda Colley, die in ihrer beeindruckenden Monographie „Britains: Forging the Nation 1707-1837“ die Entstehung der nationalen Identität Britanniens rekonstruiert hat, kurz vor dem EU-Referendum explizit betonte, dass auch im Falle eines Verbleibes Großbritanniens in der EU „stärkere Argumente für ein konstruktives Engagement Britanniens für Europa vonnöten seien“ (3). Denn Großbritanniens Verhältnis zu Europa wird auch heute noch von Kräften beeinflusst, deren Ursprung und Wirksamkeit lediglich in historischer Perspektive verständlich werden (4). Die Bedeutung des Kontinentes in der britischen Interessenlage hatte sich während des 18. Jahrhunderts spürbar relativiert, zumal das Inselreich mit der explosiven Ausdehnung seiner überseeischen Aktivitäten in der internationalen Machthierarchie weit nach oben kletterte. London reduzierte seine Europapolitik fortan auf die Schaffung bzw. Aufrechterhaltung eines stabilen Gleichgewichtes unter den Großmächten, um seine überseeischen Interessen ungehindert verfolgen und damit sein Empire stabilisieren zu können. Insofern instrumentalisierte es seine Europapolitik für globalimperiale Ambitionen. Ohne eine dauerhafte Bindung an bestimmte europäische Staaten einzugehen, unterstützte London die jeweils schwächeren Kontinentalmächte zum Zwecke der Wiederherstellung des Mächtegleichgewichtes, das aus britischer Perspektive zunächst durch Frankreich und ab etwa 1890 durch Deutschland bedroht war (5).

Großbritanniens Verhältnis zu Europa wird auch heute noch von Kräften beeinflusst, deren Ursprung und Wirksamkeit lediglich in historischer Perspektive verständlich werden.

Zu den Wurzeln der Sonderrolle Großbritanniens in Europa gehört die Tatsache, dass in London die Konsequenzen der qualitativen Veränderungen internationaler Politik ab Beginn des 20. Jahrhunderts für Britanniens Machtposition weder rechtzeitig noch in ihrer vollen Tragweite erkannt wurden. Die durch das gemeinsame Interesse an der Freiheit der Meere und an einem Mächtegleichgewicht in Europa begründeten, in London mit dem symbolträchtigen Attribut „besonders“ charakterisierten Beziehungen („special relationship“) zu den USA verschleierten den machtpolitischen Abstieg von der Rolle einer Weltmacht.

Traditionelle britische Aversion gegenüber einer dauerhaften Bindung auf dem Kontinent und einer Preisgabe nationaler Souveränität

Auch nach der Ablösung des eurozentrischen Staatensystems durch eine bipolare Weltordnung in der Folge des Zweiten Weltkrieges wurde die Relativierung des Einflusses des „britischen Löwen“ innerhalb Großbritanniens krass unterschätzt, weil die Konzentration auf Symbole der Macht (Weltkriegssieger, Ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates, engster Verbündeter der USA) eine realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten vereitelte. Noch Ende der 1940er-Jahre reklamierte selbst Winston Churchill die Kontinuität des britischen Weltmachtstatus, indem er die Position des Königreiches im Schnittpunkt dreier, miteinander verbundener „circles“ bzw. Interessenssphären (Amerika, Commonwealth, Europa) verortete.

Die emotionale Frage der eigenen Identität: „them“ and „us“

Als wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit der Montanunion der institutionelle Grundstein für die Integration Europas gelegt wurde, verharrte London in „splendid isolation“ – eine Haltung, die zumindest partiell mit der traditionellen britischen Aversion gegenüber einer dauerhaften Bindung auf dem Kontinent und einer Preisgabe nationaler Souveränität zusammenhing. Gleichzeitig sorgte die unrealistische Überschätzung der eigenen politischen und ökonomischen Kapazitäten nicht nur dafür, dass Londons Außenpolitik sich weiter am Profil einer weltweit operierenden Großmacht orientierte, sondern es verstärkte sich innerhalb des Königreiches das Bewusstsein der Unterschiede zwischen „them“ (Kontinentaleuropäer) und „us“.

Churchill lehnte einen britischen Beitritt zur Montanunion konsequent ab.

Unter den westlichen Kontinentalmächten stieß die britische Europapolitik damals auf Unverständnis, weil insbesondere die pro-europäischen Töne Winston Churchills zunächst mit der Perspektive einer genuinen Beteiligung Britanniens am europäischen Einigungsprozess verknüpft wurden. Während Churchill jedoch mit der von ihm erstmals 1946 vorgeschlagenen Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ eine lockere Konföderation mit dem Ziel der Verhinderung zukünftiger blutiger Konflikte im Auge hatte, interpretierten ausländische Beobachter seine Idee demgegenüber irrtümlicher Weise als Signal der Bereitschaft zur Beteiligung am Aufbau einer dem Modell der Vereinigten Staaten von Amerika orientierten, hochintegrierten Gemeinschaft. Als Churchill schließlich nach seiner Rückkehr ins Premierminister-Amt den europapolitischen Kurs seines Labour-Vorgängers Clement Attlee fortsetzte und einen britischen Beitritt zur Montanunion konsequent ablehnte, waren viele seiner Anhänger im europäischen Ausland tief enttäuscht (6).

„Union“ oder „Unity“?

Hinter diesen Irritationen bezüglich der Rolle Londons im europäischen Einigungsprozess verbarg sich ein gravierender Unterschied zwischen dem Königreich und den sechs Gründerstaaten der Gemeinschaft, der den gesamten Integrationsprozess fortan überschatten sollte. Während Großbritannien die Schaffung einer „union“, einer lockeren Konföderation auf der Basis intergouvernementaler Kooperation favorisierte, wurde auf dem Kontinent damals bereits die Forderung  nach Einheit, „unity“ im Englischen, erhoben. Dabei handelte es nicht um „semantische Spitzfindigkeiten“, sondern um „klare konzeptionelle Unterscheidungen“ mit weit reichenden Folgen für die weitere Entwicklung (7).

Die jährlichen Zuwachsraten des Bruttosozialproduktes der EWG-Mitglieder waren jeweils rund doppelt so hoch wie diejenigen Großbritanniens.

Da die britische Regierung den Bemühungen der Sechs in Richtung Vertiefung der Integration kaum Chancen auf Erfolg einräumte, reagierte London konsterniert, als mit den Römischen Verträgen im Jahre 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geschaffen wurde. Diese Ernüchterung fiel in eine Phase des Überdenkens der eigenen Machtposition, die durch die Suez-Krise, die zweite Welle der Dekolonisation und die Misere der britischen Wirtschaft ausgelöst worden war. Der Verlust des Weltmachtstatus, die Schwierigkeiten bei der Anpassung an die Realitäten der neuen Machtverteilung im Nuklearzeitalter und die vergebliche Suche nach einer post-imperialen Rolle mündeten in eine Identitätskrise. Nachdem deutlich wurde, dass der eigene Warenaustausch mit dem Empire/Commonwealth drastisch sank, während die jährlichen Zuwachsraten des Bruttosozialproduktes der EWG-Mitglieder jeweils rund doppelt so hoch waren wie diejenigen Britanniens, setzte sich in London die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Kurskorrektur in Richtung des europäischen „circle“ durch. Mehrere Beitrittsversuche während der 1960er-Jahre scheiterten allerdings am Veto Präsident de Gaulles, so dass Großbritannien schließlich erst im Januar 1973 Mitglied der EWG werden konnte.

Sauerkraut statt „fish and chips“?

Die Aufnahme des Königreiches in die Europäische Gemeinschaft setzte allerdings keinen Schlussstrich unter die gegenseitigen Fehlperzeptionen, sondern war Auslöser neuer Missverständnisse. London sah sich mit einer zunehmend höher integrierten, auf den Agrarsektor konzentrierten und durch die deutsch-französische Achse geprägten Gemeinschaft konfrontiert. Es litt deshalb von Beginn seiner Mitgliedschaft an unter der Vorstellung, gezwungen gewesen zu sein, sich einem „fait accompli“ zu beugen (8). Bildlich gesprochen fühlten manche Briten sich, als ob „fish and chips“ durch Würste mit Sauerkraut ersetzt würden respektive als ob man ihnen eine Champagnerflasche gegeben und sie aufgefordert hätte, ihr Ale fortan daraus zu trinken (9).

Die Aufnahme des Königreiches in die Europäische Gemeinschaft setzte allerdings keinen Schlussstrich unter die gegenseitigen Fehlperzeptionen, sondern war Auslöser neuer Missverständnisse.

Die Folge war, dass Großbritannien sich wieder stärker seinen außereuropäischen Interessenssphären zuwandte und die qualitative Vertiefung der europäischen Integration aufzuhalten versuchte. Die Tatsache wiederum, dass ungeachtet dieser Attitüde nahezu zwei Drittel aller Briten in einem von der Regierung Wilson im Juni 1975 angesetzten Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der Gemeinschaft mit Ja stimmten, hat während der vergangenen vier Jahrzehnte bei Londons europäischen Partnern wiederholt zu falschen Wahrnehmungen bezüglich des Grades der Bereitschaft des Vereinigten Königreiches geführt, die Vertiefung der Integration zu unterstützen.

Die Mehrheit der britischen Bevölkerung hat das europäische Einigungswerk mit seiner immanenten Vertiefungsdynamik zu einem supranationalen Staatengebilde niemals als Ziel an sich betrachtet. Aus der Perspektive des Ärmelkanals legitimiert sich der europäische Integrationsprozess stattdessen primär aufgrund der jeweiligen Vorteile, die er den daran beteiligten Staaten im Einzelnen bietet. Eine partielle Abtretung von Souveränitätsrechten für die Fälle, in denen bestimmte Ziele auf gemeinschaftlicher Basis effektiver verfolgt werden können als im nationalen Alleingang, ist mit dieser Position durchaus vereinbar. Es sollte aber nicht übersehen werden, dass in Großbritannien die Einschränkung der nationalen Souveränität, die Souveränität des britischen Parlamentes, mehrheitlich lediglich als Mittel zum Zweck angesehen wird (10).

Ein Platz Großbritanniens „im Herzen Europas“? (11)

Dass die politischen Konsequenzen der traditionellen britischen Vorbehalte gegenüber einer weiteren Vertiefung der europäischen Einigung bis in die jüngste Zeit häufig unterschätzt wurden, hängt auch mit der vermeintlichen Wende britischer Europapolitik nach dem Ende der Ära Thatcher zusammen.

Gleichzeitig wollte Major verhindern, dass London durch eine vorbehaltlose Unterstützung der Unionspläne unkontrolliert in den Sog der Vertiefungsdynamik geriet.

John Major, Margaret Thatchers Nachfolger in Downing Street No. 10, hatte sich bei seinem Amtsantritt für die Etablierung Großbritanniens „im Herzen Europas“ ausgesprochen – eine Formulierung, die in den kontinentaleuropäischen Hauptstädten als wohltuende Abkehr von der aggressiven Anti-Europa-Rhetorik der „Eisernen Lady“ empfunden wurde. Aus heutiger Sicht spiegelte diese Kurskorrektur Majors vor allem die Lehren aus der thatcheristischen Integrationspolitik wider: In Whitehall war registriert worden, dass die europapolitische Konfrontationsstrategie der 1980er-Jahre nicht nur nicht zur Verlangsamung des Integrationsprozesses, sondern zur zunehmenden Isolierung Londons im Kreise der Gemeinschaft geführt hatte. Daher forderte Major mehr Flexibilität in der Europapolitik und konsequente Interessensvertretung statt dogmatischer Prinzipienpolitik. Durch konstruktive Zusammenarbeit mit den EG-Partnern sollte die Isolierung Großbritanniens abgebaut und versucht werden, die weitere Entwicklung der Integration im Sinne britischer Interessen zu beeinflussen. Gleichzeitig wollte Major verhindern, dass London durch eine vorbehaltlose Unterstützung der Unionspläne unkontrolliert in den Sog der Vertiefungsdynamik geriet.

Majors anfänglich pro-europäische Stellungnahmen vernebelten die Tatsache, dass die Europa-Skeptiker in den Reihen der regierenden Tories sukzessive an Einfluss gewannen. Dies führte dazu, dass der Premier zunehmend zwischen den Flügeln seiner Partei aufgerieben wurde und nicht mehr verhindern konnte, dass Großbritannien in wachsendem Maße in eine Paria-Rolle in Europa geriet (12).

Mehr als zwei Drittel aller Briten lehnten die weitere Vertiefung der EU und die etwa die gemeinsame Währung ab.

Majors Nachfolger Tony Blair setzte an dem Punkt an, an dem sein Vorgänger scheiterte: konstruktives Engagement in der Europäischen Union zur Verhinderung einer Marginalisierung Großbritanniens und zur Durchsetzung britischer Interessen im Rahmen der weiteren Entwicklung der Union. Mit Blair änderten sich Form, Stil und Ton britischer Europapolitik, in der Substanz hielt New Labour jedoch am traditionellen Kurs fest. Ungeachtet Blairs persönlicher pro-europäischer Attitüde orientierte sich London – in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der britischen Bevölkerung – auch weiterhin an einem Europa intergouvernementaler Kooperation, das den Charakter der Nationalstaaten beibehält, also an Charles de Gaulles „L’Europe des patries“.

Dies gilt rückblickend betrachtet auch für Blairs Nachfolger Gordon Brown, der sich in jungen Jahren als geradezu enthusiastischer Europäer präsentiert hatte, in der Regierungsverantwortung zunächst als Schatzkanzler und später Premierminister jedoch schlichtweg zu berücksichtigen hatte, dass mehr als zwei Drittel aller Briten die weitere Vertiefung der EU (etwa die gemeinsame Währung) ablehnten.

„Splendid Isolation“ im 21. Jahrhundert?

Brown hatte kurz vor dem Volksentscheid noch ein flammendes Plädoyer zugunsten Europas veröffentlicht − „Only in Europe can Britain be great“ (13) −, obwohl er zweifellos ebenso wie der amtierende Premierminister David Cameron wusste, dass die Beharrungskräfte im Vereinigten Königreich nach wie vor starke Wirkung besitzen und dass die traditionellen britischen Vorbehalte gegenüber der Europäischen Integration immer noch prägend sind. Die frappierende Wirksamkeit dieser zum Teil Jahrhunderte alten Kräfte ruft eine nachdenklich stimmende Bemerkung des Frankfurter Politikwissenschaftlers Ernst-Otto Czempiel in Erinnerung, der bereits in den 1970er-Jahren diagnostiziert hatte, nationalstaatliche Souveränität sei ein „Anachronismus mit Zukunft“.

Nationalstaatliche Souveränität − ein Anachronismus mit Zukunft

Ernst-Otto Czempiel, Politikwissenschaftler

Der Ausgang des Referendums, der maßgeblich auch die traditionellen britischen Vorbehalte gegenüber der Europäischen Integration widerspiegelt, wirbelt vieles durcheinander: Die Spitzen mehrerer britischer Parteien werden neu besetzt, es wird eine Regierungsumbildung geben, der Zusammenhalt des Vereinigten Königreiches steht auf dem Spiel und schließlich muss das Verhältnis Londons zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union völlig neu geregelt werden. Wer geglaubt haben mag, dass das alte Verdikt des US-Außenministers Dean Acheson aus dem Jahre 1962, wonach Großbritannien ein Empire verloren, aber noch keine neue (und adäquate Rolle als europäische Mittelmacht) gefunden habe, endgültig Geschichte ist, sieht sich durch das Referendum vom 23. Juni 2016 bedauerlicherweise eines besseren belehrt.

Anmerkungen

1 Should I stay or should I go?, in: Die Zeit, 9.6.2016, S. 42.
2 Stürmer, Michael: Nachwirkungen des Empire, in: Die politische Meinung, April 1995, S. 30.
3 Thomas, Gina: So „splendid“ ist Isolation gar nicht, http://www.faz.net/aktuell/feuileton/debatten/historikerwarnen-großbritanien-im-Brexit-Fall-vor-Isolation, Stand: 8.6.2016).
4 Der folgende Abschnitt basiert auf: Meier-Walser, Reinhard: Britannien und der Kontinent: Politische und kulturelle Relationen von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart, in: Handbuch Englisch als Fremdsprache, hrsg. von Rüdiger Ahrens, Berlin 1995, S. 224-230; Meier-Walser, Reinhard: Großbritannien auf der Suche nach einem Platz im Herzen Europas, in: Außenpolitik, 1/1994, S. 10-19; Ders.: Albion und die Integration Europas, in: Politische Studien 347, 1996, S. 5-13.
5 Dazu ausführlich Mackintosh, John P.: Britain in Europe, in: International Affairs, 45 /1969, S. 246-258; White, Brian P: British foreign policy. Tradition and change, in: Foreign policy in world politics, hrsg. von Roy Macridis, New Jersey 1992, S. 7-31.
6 Vgl. George, Stephen: An awkward partner. Britain in the European Community, Oxford 1990, S. 22.
7 Volle, Angelika: Großbritannien und der europäische Einigungsprozess, Bonn 1989, S. 1.
8 Reynolds, David: Britannia Overruled. British policy and world power in the 20th Century, New York 1991, S. 298.
9 Lyall, Sarah: In Britain, a sense of otherness in Europe, in: International New York Times, 3.6.2016.
10 Vgl. Smith, Geoffrey: Britain in the new Europe, in: Foreign Affairs, 4/1992, S. 165; Franklin, Michael: Britain’s future in Europe, London 1990, S. 9-11.
11 Zum Folgenden vgl. Meier-Walser, Reinhard: Ist New Labour „europäischer“ als die Tories?, in: Politische Studien 354, 1997, S. 4-14; Ders.: „Splendid Isolation“ im 21. Jahrhundert?, in Politische Studien 374, 2000, S. 56-66.
12 Vgl. Ritterband, Charles: „Barockes“ Lebensgefühl im Vereinigten Königreich, in: Neue Zürcher Zeitung, 12./13.7.1997.
13 International New York Times, 7.6.2016.