Erdogan-Anhänger feiern das knappe "Ja" im Referendum. (Foto: Picture alliance/Depo Photos/ABACAPRESS.COM)
Türkei

Auf dem Weg in die Islamokratie

Gastbeitrag Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Mit knapper Mehrheit hat der türkische Präsident das Referendum gewonnen. Die Entscheidung über die Zukunft des Landes ist allerdings bereits lange vorher gefallen, analysiert der Islamologe Bassam Tibi.

Die ganze Welt, besonders Europa schaute am Sonntag, den 16. April auf die Türkei, wo ein Referendum über die Zukunft des Landes entschied: säkular und auf Volkssouveränität fußend oder als islamistischer Scharia-Staat. Der Ausgang war voraussehbar.

Bereits vor der Wahl stellte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) fest, dass es ein Wahlkampf im Ausnahmezustand werde, der nicht ordentlich verlaufen könne. Nach dem Referendum hat die OSZE der türkischen Regierung sehr offen Unregelmäßigkeiten und Manipulation vorgeworfen. Eine sachlich-unparteiische Kritik, die Erdogan als „westlichen Angriff von Kreuzzüglern auf uns“ abqualifizierte. Offiziell gewann Erdogan das Verfassungsreferendum mit einer knappen Mehrheit von 51,3 Prozent im Lande, in der deutsch-türkischen Diaspora sogar mit gut 63 Prozent. Dies deutet daraufhin, dass die Manipulation in Grenzen blieb, aber die Opposition zweifelt das Ergebnis an.

Entmachtung der weltlichen Elite

Die große Mehrheit der türkischen AKP-Wähler kennt nur das Volkstribun-Gesicht von Erdogan, nicht aber die 18 neuen Paragrafen, die sie mit ihrer Wahl befürwortet haben, ohne zu wissen, dass aus der reformierten Verfassung eine Art Ermächtigungsgesetz hervorgehen wird. Die AKP regiert seit 2002 und Erdogan seit 2003; seitdem wird die Türkei graduell entkemalisiert, das heißt desäkularisiert. Seit dem „Sieg“ im Verfassungsreferendum ist die Türkei offiziell keine säkulare Republik mehr, die auf Volkssouveränität fußt, sondern eine islamische Republik von Gottes Gnaden. Ich nenne die neue Ordnung „Islamokratie“.

Der wahre Konflikt findet zwischen den Trägern von Atatürks säkularer Republik und einer islamistischen Türkei der AKP statt.

Bassam Tibi

Die Wahl dokumentiert die bittere Tatsache, dass die säkulare westlich orientierte Elite der Türkei, die maximal 20 Prozent der Bevölkerung umfasst, nicht mehr am Steuer ist. Diese Elite hatte früher Justiz, Militär und Bildungssystem als ihre Machtbasis, welche die AKP seit 2002 graduell vernichtet hat. Der Höhepunkt dieses Prozesses ist der „Sieg“ im Verfassungsreferendum vom 16. April. Zuvor geschah jedoch bereits dies: 40 Prozent der Generalität beziehungsweise Admiralität der türkischen Streitkräfte sind im Verlaufe der „Entkemalisierung“ der Türkei, besonders seit dem gescheiterten Putschversuch von 2016, entlassen oder verhaftet worden. 20 Prozent der türkischen Richter und Staatsanwälte sind nicht mehr im Amt. Das bisherige säkulare Bildungssystem ist durch die religiösen Imam-Hatip-Schulen ersetzt worden. Erdogan siegte also im Machtkampf bereits lange vor seinem Wahlsieg beim Referendum.

Putsch und Säuberungen

Es ist bedauerlich, dass ein Teil der deutschen Zeitungen über diesen Prozess fälschlicherweise als einen Kampf zwischen einer „Ein-Mann-Herrschaft“ Erdogans und der Gülen-Bewegung berichtet. Der wahre Konflikt findet nicht zwischen dem Erdogan-AKP-Islamismus und dem Gülen-Islamismus – beide vertreten dieselbe politisch-religiöse Weltanschauung – statt, sondern ist der zwischen den Trägern von Atatürks säkularer Republik und einer islamistischen Türkei der AKP. Ich möchte dies an der Entwicklung in der Türkei zwischen dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 und dem Verfassungsreferendum von Mitte April 2017 erläutern.

Die 2017-Wahlkampagne von Erdogan ähnelte einer religiösen Messe mit entsprechend religiöser Hetze gegen die Feinde der AKP als Ungläubige.

Bassam Tibi

Es beginnt mit einem Putschversuch, der Fetullah Gülen und seiner Bewegung zugeschrieben wird. Der Chef des BND, Bruno Kahl, hat in einem SPIEGEL-Interview erklärt, Erdogan habe „auf verschiedensten Ebenen versucht, uns davon zu überzeugen, das ist aber bisher nicht gelungen“. Daraufhin folgten umfassende Säuberungen, die radikal und umfassend nicht nur Gülen-Anhänger, sondern auch und vor allem Vertreter der drei Säulen der kemalistischen Republik ­- säkulare Armeeoffiziere, säkulare Richter und Staatsanwälte und Träger des säkularen europäischen Bildungssystems (Rektoren, Professoren, Lehrer, usw.) – betrafen.

Mobilisierung der islamischen Basis

Die 2017-Wahlkampagne von Erdogan ähnelte nach dem Urteil vieler Beobachter einer religiösen Messe mit entsprechend religiöser Hetze gegen die Feinde der AKP als Ungläubige. Die Religionisierung des Wahlkampfes zur Mobilisierung auf islamischer Basis lässt sich durch folgende Empfehlung der Wahlberater von Erdogan veranschaulichen: Nach den mir vorliegenden Informationen haben diese Berater Erdogan empfohlen, statt dem Begriff vatan (Vaterland), den Begriff millet (Religionsgemeinschaft) zu verwenden, wenn er seine Anhänger als Türken anspricht.

Drei Tage vor dem Referendum veröffentlichte die New York Times einen Artikel mit dem Titel „Is it too late for Turkeys Democracy?” Die Frage war rein rhetorisch, weil das Verfassungsreferendum und seine Umstände die Zukunft der Türkei bestimmen würden, gleich welchen Ergebnisses. Die Szenarien waren: Erstens – knapper Wahlsieg unter Bedingungen der Neutralisierung der Opposition in einer Atmosphäre von Angst und Einschüchterung. Zweitens – offene Fälschung. Drittens – Niederlage im Referendum. Szenario 1 hat sich materialisiert. Bei einer Niederlage hätte Erdogan mit absoluter Sicherheit das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben mit dem Ziel, eine Zweidrittel-Mehrheit für das Referendum im Parlament zu bekommen. Das ist ihm erspart geblieben. Mit anderen Worten: Die politische Entscheidung für eine Verfassung, in der Volkssouveränität und parlamentarische Demokratie zugunsten eines islamistischen Autoritarismus abgeschafft werden, war bereits vor dem Referendum gefallen.

Herrschaft der Islamisten

Im restlichen Teil dieses Artikels möchte ich zwei politische beziehungsweise zeitgeschichtliche Komplexe erläutern, die verstehen helfen, worum es in der Türkei geht. Ich will nachweisen, dass die AKP nicht – wie behauptet wird – islamisch-konservativ sondern islamistisch ist, und ich möchte zeigen, dass es nicht um eine persönliche Diktatur Erdogans („Ein-Mann-Herrschaft“) geht, sondern um eine Parteienherrschaft der AKP, die auf vier Säulen ruht: dem religiösen Establishment, einer Klientelwirtschaft der Patronage, den Geheimdiensten beziehungsweise der Polizei sowie den Netzwerken der Erdogan-Familie.

Zum Argument des Islamismus führe ich die Geschichte des politischen Islam in der Türkei an. Im Gegensatz zu Ägypten, wo der Islamismus 1928 beginnt, erfolgte der Aufstieg des politischen Islam in der Türkei relativ spät. Die erste islamistische Partei namens Nizam Partisi wurde 1970 gegründet, die zweite – Selamet Partisi – 1973, die dritte – Refah Partisi – 1983 und die vierte – Fazilet Partisi – 1997. Alle vier wurden vom Verfassungsgericht als religiöse und somit verfassungswidrige Parteien verboten. Nach einem Verbot haben türkische Islamisten stets eine neue Partei neuen Namens gegründet. Die vierte islamistische Partei – Fazilet Partisi – wurde auch von Erdogan getragen, der von 1994-1998 erster islamistischer Oberbürgermeister von Istanbul war. Erdogan gründete nach dem Verbot der Fazilet Partisi 2001 die AKP und brachte sie 2002 an die Macht.

Vier Säulen der Macht

Der türkische Verfassungsrechtler Prof. Ibrahim Kaboglu von der Marmara-Universität in Istanbul hat in einem Interview den Begriff „totalitär“ für den politischen Wandel, der mit dem Wahlsieg am 16. April begonnen hat, verwendet. Ich verwende für diese neue Herrschaftsform den Begriff „Islamokratie“, also eine Herrschaftsform ohne Volkssouveränität, dafür aber mit islamischer Legitimation. Das ist nicht mehr das alte Kalifat, sondern die neue Herrschaftsform des Islamismus. Um diese Argumentation zu unterfüttern, erläutere ich im Folgenden die vier Grundlagen der islamistischen AKP-Herrschaft in der Türkei:

Erstens, die politische Religion: Der institutionelle Rahmen hierfür ist die Diyanet-Behörde, die dem Innenministerium unterstellt ist. Ihr Chef ist Mehmet Görmez, der Erdogan sehr nahe steht. Sein Etat beträgt circa zwei Milliarden Euro. Das Budget von Diyanet hat sich in den vergangenen Jahren verdreifacht, das Personal verdoppelte sich. Mit den türkischen Moscheen als religiöse Basis im In- und Ausland (z.B. DITIB in Deutschland) betreibt die AKP eine Religionisierung der Politik.

In der Türkei herrscht eine Mischung aus Islamismus, Klerikalismus, Geheimdienstherrschaft, Clan-Patronage und Klientelismus.

Bassam Tibi

An zweiter Stelle befindet sich die Klientelwirtschaft der Patronage, die alles andere als eine Marktwirtschaft ist und deshalb mit dem türkischen Begriff Yandas-Wirtschaft beschrieben wird. Die Yandas-Unternehmen werden als Klientelwirtschaft betrieben.

Drittens: Geheimdienste und Polizei. Der Geheimdienstchef Hakan Fidan verfügt über 8.000 Männer, die als Quasi-Armee die geheimdienstliche Basis für die Stabilität des Systems sichern. Diese können jeden General, jeden Richter und jeden Professor ohne Haftbefehl verhaften. Das ist die Atmosphäre der Angst und Einschüchterung, die heute in der Türkei dominiert.

Viertens: Im Orient bilden Familien einen Clan mit ausgeprägter Netzwerkstruktur und die Erdogan-Familie ist keine Ausnahme. Erdogans Söhne, vorrangig Bilal, und seine Tochter Sümeyye wirken als zentrale Figuren in diesem Clan. Über allen steht jedoch Berat Albayrak, der Schwiegersohn Erdogans, der mit der ältesten Erdogan-Tochter Esra verheiratet ist. Er kontrolliert alle wirtschaftlichen Netzwerke und gilt sogar als Thronfolger Erdogans.

Demokratie als Mittel zum Umsturz

Diese vier Säulen sind miteinander vernetzt. So ist der Geheimdienstchef zugleich ein Yandas-Wirtschaftsmogul. Bilal Erdogan führt die Stiftung Türgev, die unter Korruptionsverdacht steht. Das ist alles andere als eine „Ein-Mann-Herrschaft“, sondern eine Mischung von Islamismus, Klerikalismus, Geheimdienstherrschaft, Clan-Patronage und Klientelismus. In dieser „Islamokratie“ haben die Islamisten die politisch-demokratische Idee der Partizipation sowie die Wahlen dazu genutzt, die von Atatürk aufgebaute säkulare Republik der Türkei zu demontieren. Islamismus und Demokratie vertragen sich nicht. Wie sagte Erdogan im Dezember 2000: „Die Demokratie ist ein Zug, in den wir einsteigen, aber verlassen, wenn wir unser Ziel erreicht haben“.