Noch flattern die Flaggen von Großbritannien und der EU zusammen vor dem Big Ben in London. (Bild: Imago/Bettina Strenske)
Merkel

Brexit darf EU nicht schwächen

Erst wird über Geld geredet, dann über die künftigen Beziehungen. Das ist Bundeskanzlerin Angela Merkels Fahrplan für die Brexit-Verhandlungen. Am Samstag werden die Staats- und Regierungschefs der 27 verbleibenden EU-Staaten in Brüssel Leitlinien für die Verhandlungen über den Austritt Großbritanniens beschließen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Großbritannien vor Illusionen bei den Brexit-Verhandlungen gewarnt: „Ein Drittstaat, und das wird Großbritannien sein, kann und wird nicht über die gleichen Rechte verfügen oder womöglich sogar bessergestellt werden können wie ein Mitglied der Europäischen Union.” Merkel weiter: „Ich habe das Gefühl, dass sich einige in Großbritannien darüber noch Illusionen machen. Das aber wäre vergeudete Zeit.”

Erst die Bedingungen des Austritts klären

Auf einem Sonder-Gipfel in Brüssel am kommenden Samstag wollen Merkel und die übrigen Staats- und Regierungschefs der 27 verbleibenden EU-Staaten Leitlinien für die Verhandlungen über den Brexit beschließen. Innerhalb der Europäischen Union rechnet Merkel mit einer einheitlichen Haltung. Es gebe im Kreis der 27 und der EU-Institutionen mittlerweile ein „großes Einvernehmen” über die gemeinsame Verhandlungslinie. „Wir können deshalb davon ausgehen, dass vom Europäischen Rat der 27 übermorgen ein starkes Signal der Geschlossenheit ausgehen wird.”

Ohne Fortschritte bei den offenen Fragen des Austritts, macht es keinen Sinn, über Details des künftigen Verhältnisses zu verhandeln.

Bundeskanzlerin Angela Merkel

In ihrer Regierungserklärung vor dem Brüsseler Brexit-Sondergipfel betonte Merkel, zunächst müssten die Bedingungen des Austritts „zufriedenstellend geklärt” werden. Erst dann könne über das künftige Verhältnis zu London gesprochen werden. Diese Reihenfolge sei „nicht umkehrbar”. Deshalb müsse auch von Beginn an über die finanziellen Verpflichtungen Londons gesprochen werden. Diese Verpflichtungen erstreckten sich auch auf die Zeit nach dem Brexit, so Merkel.

Ende März hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker von Brüsseler Forderungen an die Briten über 60 Milliarden Euro gesprochen. Merkel jetzt in Berlin: „Ohne Fortschritte bei den vielen offenen Fragen des Austritts, inklusive der finanziellen Fragen, macht es keinen Sinn, parallel schon über Details des künftigen Verhältnisses zu verhandeln.”

Deutschlands fünftwichtigster Handelspartner

Auch in Zukunft solle es jedoch „gute, enge und vertrauensvolle Beziehungen” geben, betonte die Bundeskanzlerin nachdrücklich.

Aus gutem Grund: Großbritannien ist Deutschlands fünftwichtigster Handelspartner. Im vergangenen Jahr exportierten deutsche Unternehmen Waren im Wert von 86 Milliarden Euro über den Ärmelkanal. Die Briten exportierten umgekehrt Güter im Wert von 35 Milliarden Euro nach Deutschland. Die wichtigsten deutschen Exportgüter für den britischen Markt waren Kraftwagen und Kraftwagenteile im Wert von 27 Milliarden Euro − jedes fünfte in Deutschland hergestellte Auto wird in Großbritannien zugelassen. Vor allem Deutschland hat beim Brexit viel zu verlieren.

Zentrales Anliegen bei den Brexit-Verhandlungen, so Merkel jetzt in Berlin, seien die Interessen deutscher und anderer EU-Bürger, die in Großbritannien leben. Die negativen Auswirkungen für diese Menschen müssten so gering wie möglich gehalten werden. Sie brauchten Klarheit und Planungssicherheit.

Brexit heißt Brexit

Weiteres Thema des Sondergipfels werden aber auch die finanziellen Folgen des Brexit für die Rest-EU sein. In einer Sitzung der Unionsfraktion hatte die Kanzlerin zuvor vor den CDU/CSU-Abgeordneten gesagt, weil Großbritannien zu den EU-Nettozahlern gehöre, müsse unter anderem schon jetzt über den nächsten mittelfristigen Finanzrahmen der Gemeinschaft gesprochen werden. Die Finanzplanung muss im Jahr 2019 fertig sein.

Im Jahr 2015 hat Großbritannien als zweitwichtigster EU-Nettozahler nach Deutschland 11,5 Milliarden Euro zum EU-Haushalt beigesteuert. Nach Vollzug des britischen EU-Austritts, aller Voraussicht nach ab Ende März 2019, wird dieses Geld in der Brüsseler Kasse fehlen.

Wir wollen Großbritannien nicht bestrafen, aber es wird auch keinen Maßanzug für die Briten geben.

Manfred Weber, CSU-Vize und EVP-Fraktionschef

Sehr ähnliche Prioritäten wie Kanzlerin Merkel setzt bei den bevorstehenden Brexit-Verhandlungen auch CSU-Vize und EVP-Fraktionschef Manfred Weber. „Wir werden zuerst über die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien und die Abschlussrechnung für die Briten reden, dann geht es um das künftige Freihandelsabkommen”, so der CSU-Europapolitiker im Interview mit dem Hamburger Wochenmagazin Der Spiegel. Weber außerdem: „Brexit heißt Brexit. Wir wollen Großbritannien nicht bestrafen, aber es wird auch keinen Maßanzug für die Briten geben.”

Große und komplexe Aufgabe

In Ihrer Berliner Regierungserklärung warnte Merkel die restlichen EU-Mitglieder schließlich davor, angesichts der Brexit-Verhandlungen den Blick für die europäischen Herausforderungen zu verlieren. Viel zu ernst seien die Krisen in Europas Nachbarschaft und zu groß die globalen Herausforderungen von Flucht, Migration, Hunger, Welthandel und Klimaschutz, „als dass es sich Europa nun leisten könnte, sich in den zwei kommenden Jahren nur mit sich selbst zu beschäftigen, Brexit hin oder her”, sagte Merkel.

Es geht um unser gemeinsames gutes Leben in Deutschland und Europa in den kommenden Jahren und Jahrzehnten.

Angela Merkel

„Wir sind uns der Größe der Aufgabe, vor allem auch der Komplexheit bewusst. Wir sind gut vorbereitet, aber es wird noch viel Arbeit mit sich bringen”, sagte Merkel. Die 27 verbleibenden EU-Mitglieder wollten im Interesse der künftig 450 Millionen Unions-Bürger ihre Werte und Interessen weltweit behaupten. „Es geht um unser gemeinsames gutes Leben in Deutschland und Europa in den kommenden Jahren und Jahrzehnten”, so die Kanzlerin.

Kommissionspräsident Juncker in London

Unterdessen empfing am Mittwochabend die britische Premierministerin Theresa May den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und den EU-Chefunterhändler Michel Barnier in London. Worum es in dem Gespräch im Regierungssitz in der Downing Street genau ging, wurde zunächst nicht bekannt. Der EU-Kommissionschef wolle mit May über den Ablauf der Austrittsverhandlungen sprechen, hatte es zuvor geheißen. Aus dem Büro der Premierministerin verlautete später lediglich, das Gespräch sei „konstruktiv” verlaufen. Am 29. März hatte Premierministerin May nach Artikel 50 der EU-Verträge in Brüssel den britischen Austrittswunsch übergeben lassen und damit den auf zwei Jahre begrenzten Verhandlungsprozess ausgelöst. (dpa)