Bei ihrem Sondergipfel auf Malta haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union vor allem über die Flüchtlingskrise und den bevorstehenden Brexit gesprochen. Dabei ging es zunächst um die Frage, wie die Migration auf der zentralen Mittelmeer-Route reduziert werden kann. Entscheidend dafür sei die Zusammenarbeit mit dem Bürgerkriegsland Libyen, heißt es aus Brüssel von den EU-Staats- und Regierungschefs. „Europa hat sein Schicksal selbst in der Hand“, sagte Merkel.
Europa hat sein Schicksal selbst in der Hand.
Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Mit einem Zehn-Punkte-Plan wird deshalb vor allem auf eine solche Kooperation gesetzt. Das von einem jahrelangen Bürgerkrieg zerrüttete Land ist das wichtigste Transitland für Migranten, die von Afrika aus nach Europa wollen. Deswegen soll nun die libysche Küstenwache schnellstmöglich so ausgebildet und ausgerüstet werden, dass sie von Schlepperbanden organisierte Überfahrten in Richtung Europa verhindern kann. Flüchtlinge müssten dann zumindest vorerst in dem nordafrikanischen Land bleiben. Den Plänen der EU nach sollen sie künftig in angemessenen Aufnahmeeinrichtungen in Libyen versorgt werden. Italiens Regierungschef Paolo Gentiloni dämpfte aber Hoffnungen auf eine rasche Lösung. „Wunder kann man nicht vollbringen.“
Es ist zweifellos so, dass Amerika eine Mitverantwortung für die Flüchtlingsströme hat durch die Art und Weise, wie hier militärisch interveniert worden ist.
Christian Kern, Österreichischer Bundeskanzler
Obwohl der Regierungswechsel in den USA offiziell kein Thema auf dem Gipfel war, gingen etliche der EU-Politiker offen auf Distanz zum neuen Präsidenten Donald Trump, vor allem wegen seines Einreisestopps für Flüchtlinge. Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern sagte: „Es ist zweifellos so, dass Amerika eine Mitverantwortung für die Flüchtlingsströme hat durch die Art und Weise, wie hier militärisch interveniert worden ist. Es ist für die internationale Gemeinschaft dann nicht akzeptabel, wenn sich Amerika da aus jeder Verantwortung stehlen will.“
Migrantenkrise hält an
Auf der Route kamen 2016 rund 180 000 Menschen nach Europa. Auch im ersten Monat des neuen Jahres erreichten über Libyen schon wieder 4292 Migranten Italien − nicht sehr viel weniger als im Vergleichszeitraum des Jahres 2016 (5182). Die Migrantenkrise hält also kaum vermindert an. Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge kommen die Migranten zumeist aus westafrikanischen Ländern. Nach dem Rückgang der Flüchtlingszahlen über das östliche Mittelmeer geht es der EU nun darum, auch diese Überfahrten von Libyen nach Italien zu stoppen. Wie aus dem Entwurf der Gipfel-Erklärung hervorgeht, will die EU dazu unter anderem libysche Küstenwächter ausbilden, Schlepperboote abfangen und die Menschen zurück nach Nordafrika bringen.
Die libysche Grenze im Süden, über die viele Migranten aus Afrika auf dem Weg in Richtung Europa kommen, besser schützen.
Am Vorabend des Gipfels schloss bereits Italien mit Libyen eine eigene Vereinbarung mit derselben Stoßrichtung. Demnach sollen unter anderem die libyschen Kräfte im Kampf gegen illegale Einwanderung unterstützt werden, sagte der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni nach einem Treffen mit dem Ministerpräsidenten der libyschen Einheitsregierung, Fajis al-Sarradsch, in Rom. Das Abkommen sieht auch vor, dass die libysche Grenze im Süden, über die viele Migranten aus Afrika auf dem Weg in Richtung Europa kommen, besser geschützt werden soll. Damit habe sein Land den Weg geebnet, sagte Regierungschef Paolo Gentiloni in Valletta. „Jetzt muss Europa eine klare politische Unterstützung bringen.”
Hunderttausende auf dem Sprung nach Europa
Die Migranten, die aus Libyen nach Europa gelangen, stammen vor allem aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara. Die größte Gruppe unter ihnen waren im vergangenen Jahr Nigerianer (21 Prozent) und Eritreer (11 Prozent). Eritreer haben sehr gute Chancen auf Schutz in Europa, neun von zehn Migranten bekommen ihn. Bei den dann folgenden Staaten Guinea, Elfenbeinküste, Gambia, Senegal (gilt in Deutschland als sicheres Herkunftsland), Mali und Sudan variiert die so genannte Anerkennungsquote. Mindestens jeder fünfte Bewerber aus jedem dieser Länder erhält aber Schutz in Europa. Die EU will deshalb generell die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern von Migranten verbessern.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) geht von 700.000 bis zu einer Million Migranten in Libyen aus, hinzu kommen libysche Bürgerkriegsflüchtlinge. Wie viele von ihnen auch wirklich weiter nach Europa wollen, ist unklar. Libyen war lange ein beliebtes Zielland für afrikanische Gastarbeiter − viele von ihnen dürften angesichts der eskalierenden Gewalt aber auch den Weg nach Europa suchen, vermutet die IOM.
EU-Ziel: Stabilität in Libyen
Bundeskanzlerin Angela Merkel setzt darum auf eine Stärkung der libyschen Einheitsregierung: „Wir brauchen eine politische Lösung für ein stabiles Libyen. Daran ist noch viel zu arbeiten.” Auch in Libyen sei das Ziel, „Illegalität unterbinden, Schmugglern und Schleppern das Handwerk legen und die Situation der Flüchtlinge verbessern“. Dies werde in Zusammenarbeit mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration IOM geschehen. „In diesem Zusammenhang werden wir dann auch über das zukünftige neue Asylsystem in Europa sprechen”, sagte Merkel.
Wir brauchen eine politische Lösung für ein stabiles Libyen. Daran ist noch viel zu arbeiten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel
Ein Flüchtlingspakt ähnlich dem mit der Türkei bleibt allerdings mit Libyen schwer vorstellbar. Dazu ist die Lage in dem nordafrikanischen Land viel zu instabil: Eine von den Vereinten Nationen anerkannte Regierung in Tripolis ringt mit Widersachern um die Macht. Die EU arbeitet zwar mit der Einheitsregierung in Tripolis zusammen und bildet unter anderem libysche Küstenschützer aus, die Migranten noch in den eigenen Gewässern aufhalten sollen. Alles, was die anerkannte Regierung stärkt, nützt auch Europa, so die Hoffnung.
Die Boote der EU-Marineoperation Sophia bringen die Migranten nach nach Europa.
Aber Libyen wie die Türkei als „sicheres Drittland” einzustufen, in das man Flüchtlinge zurückschicken kann, ist vorerst kaum denkbar. Und wenn Schleuser die Menschen erst in internationale Gewässer gebracht haben, können die Boote der EU-Marineoperation Sophia sie auch nicht einfach zurückschicken. Die Besatzungen bringen die Geretteten stattdessen nach Europa − und vollenden nolens volens das Geschäft der Schlepper.
Aufnahmeeinrichtungen in Nordafrika?
In EU-Kreisen seit längerem im Gespräch ist der Vorschlag, in Nordafrika Auffanglager einzurichten. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ist ein Verfechter der Idee, die zuerst von der CSU vorgebracht wurde. Bei einem „Massenzustrom” könnten Flüchtlinge an „sichere Orte” zurückgebracht werden. Problem: Libyen käme dafür derzeit wohl kaum in Frage. Denkbar wären möglicherweise Einrichtungen in anderen nordafrikanischen Ländern. Sofern die sich darauf einließen, wofür es aber keine Anzeichen gibt. Konkrete Brüsseler Pläne dazu sind bisher auch nicht bekannt.
Im Zehn-Punkte-Plan des EU-Gipfels in Malta wurde gleichwohl der Aufbau von „angemessenen” Aufnahmeeinrichtungen in Libyen als eine Priorität genannt. Was aber nicht bedeuten muss, dass die EU Migranten dorthin zurückbringt. Stattdessen könnten sich dort auch Menschen melden, die in Libyen sind − oder die ausgebaute libysche Küstenwache könnte eines Tages Migranten, die sie aus dem Wasser gefischt hat, dorthin bringen.
Die libysche Küstenwache könnte eines Tages Migranten, die sie aus dem Wasser fischt, zu Aufnahmeeinrichtungen in Libyen bringen.
In dem Entwurf für die Abschlusserklärung des EU-Gipfels hieß es, alle Maßnahmen würden gemeinsam mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) unter „voller Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts” veranlasst. Konkrete Fortschritte soll es bereits in den kommenden Monaten geben. In dem Textentwurf wird die derzeitige maltesische EU-Ratspräsidentschaft aufgerufen, so schnell wie möglich einen Fahrplan dafür vorzulegen. Beim EU-Gipfel im Juni soll dann bereits über die ersten Erfolge berichtet werden können.
EU nach dem Brexit
An den Beratungen in Valletta nimmt auch die britische Regierungschefin Theresa May teil. Nachmittags muss sie dann die Runde verlassen, denn die bleibenden 27 Länder wollen ohne sie über die Zukunft der EU nach dem britischen Ausscheiden aus der EU sprechen. May will im ersten Teil der Sitzung aber auch über ihr Treffen mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump informieren und ihre Vorstellungen vom künftigen Verhältnis zur EU vortragen. (dpa/BK/H.M.)