Fünf Millionen Migranten in Ägypten
Das kann bedrohlich werden: Immer mehr Migranten erreichen Italien über eine neue Mittelmeer-Route aus Ägypten. Kairoer Angaben zufolge sollen sich fünf Millionen afrikanische Migranten in Ägypten aufhalten. Ägypten kämpft mit den Folgen jahrzehntelanger Bevölkerungsexplosion. Brüssel erwägt nun, mit Kairo ein Migrantenabkommen abzuschließen wie im vergangenen März mit der Türkei.
Neue Routen

Fünf Millionen Migranten in Ägypten

Das kann bedrohlich werden: Immer mehr Migranten erreichen Italien über eine neue Mittelmeer-Route aus Ägypten. Kairoer Angaben zufolge sollen sich fünf Millionen afrikanische Migranten in Ägypten aufhalten. Ägypten kämpft mit den Folgen jahrzehntelanger Bevölkerungsexplosion. Brüssel erwägt nun, mit Kairo ein Migrantenabkommen abzuschließen wie im vergangenen März mit der Türkei.

Das war schon lange absehbar: Ägypten entwickelt sich zum Transitland einer nächsten großen Welle afrikanischer Migranten auf dem Weg nach Europa. In den ersten acht Monaten dieses Jahres haben etwa 130.000 Migranten über nordafrikanische Küsten und die zentrale Mittelmeer-Route Italien erreicht. Nimmt man die Route über die Türkei hinzu, so haben bis Ende September schon etwa 300.000 Migranten den Weg nach Europa  gefunden.

Migrationsströme aus Ägypten nehmen zu

Immer mehr von ihnen starten die Mittelmeer-Überfahrt von Ägypten aus, warnte schon im vergangenen Juni der Chef der Frontex-Agentur Fabrice Leggeri: In der ersten Hälfte des Jahres habe sich die Zahl der aus Ägypten kommenden Migranten schon auf 7000 verdoppelt. Interessant: Bis Ende Juli wurden in Italien schon über 1200 ägyptische Kinder und Jugendliche registriert – gegenüber 94 im Jahr zuvor. Ägypten, so Leggeri entwickle sich zum neuen „Hotspot“: „Die Route wächst.“ Ende Mai zitierte die Tageszeitung Die Welt einen „EU-Spitzendiplomaten“ mit der Warnung: „Es gibt konkrete Hinweise darauf, dass die Migrationsströme aus Ägypten zunehmen.“ Inzwischen sei Ägypten nach Libyen zum zweitwichtigsten Ausgangspunkt für Migranten-Fahrten über das Mittelmeer geworden, heißt es jetzt in Brüssel. Angaben der Bundesregierung in Berlin zufolge wählt schon jeder zehnte Migrant die Route über Ägypten – Tendenz steigend.

Inzwischen ist Ägypten nach Libyen zum zweitwichtigsten Ausgangspunkt für Migranten-Fahrten über das Mittelmeer geworden.

Kein Zufall ist darum, dass dieser Tage vor der ägyptischen Küste nahe Alexandria ein Fischkutter mit angeblich bis zu 600 Migranten gekentert ist. Nur 163 Personen konnten gerettet werden. An Bord des Kutters, der wohl auf dem Weg nach Italien war, sollen Migranten aus Ägypten, Syrien und afrikanischen Ländern gewesen sein. Schon Mitte April sind nach Presseberichten gleich mehrere Boote verunglückt, die mit etwa 500 vor allem somalischen Migranten von Ägypten aus gestartet waren. Nur 23 Personen sollen gerettet worden sein. Allein in den vergangenen zwei Wochen hat ägyptisches Militär fünf Boote mit etwa 900 Migranten aus Eritrea, Sudan, Nigeria und anderen Subsahara-Ländern aufgehalten.

Fünf Millionen afrikanische Migranten in Ägypten

Jetzt befürchtet die EU eine neue große Fluchtbewegung aus und über Ägypten. Kein Wunder: In Ägypten münden alte Wanderrouten, die von Ostafrika über den Sudan ans Mittelmeer führen. Auch Migranten aus Syrien, Irak oder Afghanistan nehmen inzwischen den Weg über den Sudan nach Ägypten. Kairoer Angaben zufolge sollen sich in Ägypten fünf Millionen wohl zumeist afrikanische Migranten aufhalten – und der unbegrenzte Nachschub von südlich der Sahara lässt sich nur mit Millionen-Zahlen beziffern, die leicht zweistellig werden könnten. Hinzu kommt, dass Ägypten eine lange Grenze zu Libyen hat, noch immer der Hauptstartplatz für die Migranten-Route über das Mittelmeer. Afrikaner, die nicht von Ägypten aus starten wollen oder können, wandern an der Mittelmeerküste einfach weiter nach Westen.

Ägyptens Bevölkerungsexplosion: 1950 hatte das Land am Nil 21,5 Millionen Einwohner. Heute sind es mit etwa 90 Millionen über vier Mal so viele. Bis zum Jahr 2050 werden es einer UN-Prognose zufolge deutlich über 120 Millionen Ägypter sein.

Aber Ägypten ist eben nicht nur Transitland – potentiell für Millionen –, sondern auch Herkunftsland. Ein Grund ist Ägyptens anhaltende Bevölkerungsexplosion: 1950 hatte das Land am Nil 21,5 Millionen Einwohner. Heute sind es mit etwa 90 Millionen über vier Mal so viele. Bis zum Jahr 2050 werden es einer UN-Prognose zufolge deutlich über 120 Millionen Ägypter sein. Und das bei schon jetzt verzweifelter Wirtschaftslage: Kairos Haushaltsdefizit beläuft sich auf 11,4 und die Arbeitslosigkeit auf mindestens 12,5 Prozent (The Economist). Die Industrieproduktion – was immer das in Ägypten heißen mag –, ist in den vergangenen zwölf Monaten um 8,6 Prozent geschrumpft.

EU-Abkommen mit Kairo? Das wird teuer

In Brüssel hat nun EU-Parlamentspräsident Martin Schulz gegenüber der Süddeutschen Zeitung dafür plädiert, mit Ägypten ein Flüchtlingsabkommen zu schließen, das jenem ähneln könnte, dass Brüssel im März mit der Türkei einging: Ankara hat darin sechs Milliarden Euro erhalten, und die Europäer müssen 70.000 syrische Migranten direkt aus türkischen Flüchtlingslagern übernehmen.

Seit dem EU-Abkommen mit Ankara wissen die Mächtigen am Nil, dass sich aus Europas Migrantenangst eine Menge Geld herausschlagen lässt.

Die Zeit

Problem: Die Regierung in Kairo hat bislang wenig gegen Schleuser und Menschenschmuggel unternommen, berichtete Ende Juni die Wochenzeitung Die Zeit. Für die Fischer, die in ägyptischen Gewässern offenbar kaum noch Fänge machen, sei die Menschenschleuserei eine wichtige Einnahmequelle. Lokale Bootswerften profitierten, die Polizei arbeite mit den Banden zusammen. Kairo warte nun gelassen auf Brüsseler Vorschläge, ahnt das Blatt: „Denn seit dem Abkommen mit Ankara wissen die Mächtigen am Nil, dass sich aus Europas Migrantenangst eine Menge Geld herausschlagen lässt.“ Wenn nun Ägypten sozusagen die EU-Außengrenzen schützen soll, dann wird sich Kairo das teuer bezahlen lassen. Und auch dies könnte dabei eine Rolle spielen: Derzeit warten die Ägypter auf einen IWF-Kredit über zwölf Milliarden Dollar. Im IWF-Verwaltungsrat, der das entscheiden muss, haben die Europäer Gewicht.

EU-Rettungsaktion spielt den Schleppern in die Hände − und in die Taschen

Schon im vergangenen Mai hatten in Brüssel die EU-Botschafter der Mitgliedsstaaten dem Ministerrat einen Plan zur Entscheidung vorlegen wollen, der die EU-Mittelmeermission Sophia von den libyschen auf die ägyptischen Küstengewässer ausdehnen sollte. Das allerdings hat Athen per Veto verhindert. Die Griechen sind aus Schaden klug geworden. Sie wissen, dass dann Migranten, die EU-Schiffe vor der Küste Ägyptens aus dem Mittelmeer aufnehmen, einfach auf die nahe Insel Kreta gebracht werden. Und dann dort bleiben.

Mare Nostrum hatte eine unerwartete Folge. Die kriminellen Schleuser-Organisationen nutzten die neuen Gelegenheiten und erhöhten absichtlich das Risiko, um die italienische Marine zu zwingen, näher zur afrikanischen Küste zu kommen. So konnten sie ihre Kosten senken und die Preise für die Migranten.

Staatsanwalt in der sizilianischen Hafenstadt Catania

Inzwischen wird auch kaum noch bestritten, dass die groß angelegten EU-Rettungsaktionen den Schleppern und Schleusern in die Hände − und in die Taschen − spielen. Ein Staatsanwalt in der sizilianischen Hafenstadt Catania hat für die inzwischen beendete Rettungsaktion Mare Nostrum der italienischen Marine erklärt, was da passiert ist: „Mare Nostrum hatte eine unerwartete Folge. Die kriminellen Schleuser-Organisationen nutzten die neuen Gelegenheiten und erhöhten absichtlich das Risiko, um die italienische Marine zu zwingen, näher zur afrikanischen Küste zu kommen. So konnten sie ihre Kosten senken und die Preise für die Migranten.“ Von denen dann immer mehr kamen. Mare Nostrum hat die Migrationsroute aus Westafrika und der Sahelzone über Libyen und Sizilien erst richtig in Schwung gebracht. Mit einer Rettungsaktion zwischen Ägypten und Kreta würde es den Europäern vermutlich genauso ergehen.