Suche nach dem Ausweg aus der EU-Dauerkrise
Optimismus und Kritik nach dem EU-Sondergipfel von Bratislava. Nach dem Austrittsvotum der Briten haben sich die verbleibenden EU-Staaten auf ein Arbeitsprogramm für die nächsten Monate geeinigt: Mehr Sicherheit, Schutz der Außengrenzen, neue Arbeitsplätze. Keine Einigung wurde im andauernden Streit über die Umverteilung von Migranten erzielt.
Nach dem EU-Gipfel

Suche nach dem Ausweg aus der EU-Dauerkrise

Optimismus und Kritik nach dem EU-Sondergipfel von Bratislava. Nach dem Austrittsvotum der Briten haben sich die verbleibenden EU-Staaten auf ein Arbeitsprogramm für die nächsten Monate geeinigt: Mehr Sicherheit, Schutz der Außengrenzen, neue Arbeitsplätze. Keine Einigung wurde im andauernden Streit über die Umverteilung von Migranten erzielt.

Nach dem Brexit-Schock und monatelangem Streit um die Migrantenpolitik will die Europäische Union Handlungsfähigkeit und Bürgernähe beweisen. Die 27 verbleibenden EU-Staaten einigten sich am Freitag ohne Großbritannien auf die „Agenda von Bratislava” − ein Arbeitsprogramm für die nächsten Monate. Dem Fahrplan für Reformen müssen nun aber konkrete Fortschritte folgen. Das Treffen stand auch unter dem Eindruck der Wahlerfolge von EU-Gegnern. Während Kanzlerin Angela Merkel sich optimistisch für die Zukunft der Nach-Brexit-EU zeigte, kam scharfe Kritik aus Italien und Ungarn.

Merkel sagte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten François Hollande: „Der Geist von Bratislava war ein Geist der Zusammenarbeit.” Alle 27 Staats- und Regierungschefs seien „der Überzeugung, dass wir Kompromisse brauchen, dass wir das Gefühl der Solidarität brauchen, das Gefühl der Zusammenarbeit. Und dass wir auf einer Basis gemeinsamer Werte arbeiten.” EU-Gipfelchef Donald Tusk betonte, die Agenda von Bratislava solle das Vertrauen in die Europäische Union wieder herstellen. Dies könne aber nur gelingen, wenn den Menschen klar werde, dass die EU-Staaten und -Institutionen ihre Versprechen auch umsetzten.

Kritik aus Italien und Ungarn

Ganz so harmonisch wie von Merkel beschworen, kann der Gipfel in Bratislava aber doch nicht gewesen sein. Denn vom italienischen Regierungschef Matteo Renzi kam umgehend Kritik: „Ein Schritt vorwärts, aber ein kleiner, sehr kleiner. Zu wenig”, twitterte er. Ein gemeinsamer Auftritt mit Merkel und Hollande nach dem Gipfel sei unmöglich gewesen, weil für ihn das Ergebnis kein Erfolg sei. „Ich teile ihre Schlussfolgerungen nicht”, sagte er. Auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bezeichnete das Treffen von Bratislava als Misserfolg. „Er war insofern erfolglos, als dass es nicht gelungen ist, die Einwanderungspolitik Brüssels zu ändern”, sagte der konservative Politiker nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur MTI.

Der Gipfel war erfolglos, denn es ist nicht gelungen, Brüssels Einwanderungspolitik zu ändern.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban

Österreichs Innenminister Wolfgang Sobotka sah den Sondergipfel in Bratislava gar als „eine der letzten Chancen der Europäischen Union, das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen”. Wenn ein Außengrenzschutz nicht gewährleistet sei und die Migration nicht gestoppt werden könne, dann werde es schwer sein, die europäische Idee aufrechtzuerhalten, so der Wiener Minister noch vor dem Gipfel im ZDF-Morgenmagazin. Sobotka verteidigte bei der Gelegenheit auch die von Österreich festgelegte Asylobergrenze von 37.500 und die Wiedereinführung der Grenzkontrollen.

Bratislava Roadmap

Die „Bratislava Roadmap“ steckt die Zeit bis zum 60. Jubiläum der Römischen Verträge im März 2017 ab. Oberste Ziele sind mehr Sicherheit und neue Jobs. Der Fahrplan über den künftigen Weg der Nach-Brexit-EU ist aber nur eine Art Diskussionspapier, denn echte Beschlüsse können nur mit Großbritannien fallen, das bis auf weiteres als volles Mitglied zur EU gehört. Die Briten aber lassen sich mit dem Austritt Zeit, einen offiziellen Termin für den Beginn der Austrittsverhandlungen hat London bisher nicht genannt.

Der Aufbau einer gemeinsamen Grenze- und Küstenwache soll beschleunigt werden.

Konkret verabredeten die 27 eine Reihe von Projekten: Die Außengrenzen der EU sollen besser gegen illegale Einwanderung geschützt und der Flüchtlingspakt mit der Türkei umgesetzt werden. Der Aufbau einer gemeinsamen Grenz- und Küstenwache soll beschleunigt werden. Im Kampf gegen den Terror soll der Informationsaustausch verbessert werden. Im Dezember soll eine engere Verteidigungszusammenarbeit beschlossen werden. Auch neue Arbeitsplätze schreiben sich die 27 auf die Fahnen.

108 Millionen Euro für die Sicherung der bulgarischen Grenze

EU-Kommissar Günther Oettinger warnte die EU-Staaten nach dem Gipfel vor einer Nichterfüllung ihrer finanziellen und personellen Zusagen für den Grenzschutz. „Wir bauen darauf, dass es den Mitgliedsländern nicht egal ist, wenn bekannt wird, dass sie nichts oder zu wenig für die Sicherung der gemeinsamen EU-Außengrenzen tun. Im Einzelfall müssen wir die Länder nennen, die die Zusagen nicht einhalten”, so Oettinger.

Vorschläge hatten vorab Gipfelchef Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker gemacht, etwa zum Aufbau eines gemeinsamen Grenzschutzes oder zusätzlicher Milliardeninvestitionen. Schon in Bratislava gab es erste Signale, dass die EU mit der Sicherung ihrer Außengrenzen ernst macht − mit der Entsendung von 200 Beamten nach Bulgarien, um die Grenze zur Türkei gegen Zuwanderung dichter zu machen. Für die Sicherung der bulgarischen Grenze will die Kommission 108 Millionen Euro zur Verfügung stellen.

Vorschlag aus Osteuropa: Wer weniger Flüchtlinge aufnimmt, könnte mehr für den gemeinsamen Grenzschutz tun.

Aber auch nach Bratislava bleibt es vorläufig beim EU-Dauerstreit über die Bewältigung der Migrantenkrise: Die vier osteuropäischen Staaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen lehnen die eigentlich schon beschlossene Umverteilung von Migranten weiterhin ab. Als Kompromiss schlugen die vier sogenannten Visegrad-Staaten jetzt gemeinsam ein Konzept namens „flexible Solidarität” vor: Wer weniger Migranten aufnimmt, könnte demnach mehr für den gemeinsamen Grenzschutz tun. Optimistische Beobachter meinen darum, dass in der Frage die Fronten aufweichen. Eine Lösung wird aber frühestens Ende des Jahres erwartet.

Stärkung der europäischen Verteidigung

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte schon zum Auftakt gesagt: „Es geht darum, durch Taten zu zeigen, dass wir besser werden können.”  Nach dem Treffen betonte sie mit Blick auf die anstehenden Wahlen: „Die Wählerinnen und Wähler erwarten von uns Resultate.“ Bratislava sei ein wichtiger Schritt. „Aber eben nur ein Schritt auf einem längeren Weg.” Sie nannte neben den Themen innere und äußere Sicherheit und Bekämpfung von Terrorismus auch die Zusammenarbeit der Europäer bei der Verteidigung. Für die Schaffung von Arbeitsplätzen setzt sie vor allem auf den digitalen Binnenmarkt. Frankreichs Präsident Hollande äußerte sich ähnlich. Er betonte zudem die Stärkung der europäischen Verteidigung. Derzeit sei Frankreich besonders engagiert, doch wolle sein Land nicht alleine dastehen. Europa müsse sich notfalls auch ohne die USA selbst verteidigen können. (dpa/BK/H.M.)