Flüchtlinge vor der Deutschen Botschaft in Beirut. (Bild: Hanns-Seidel-Stiftung)
Libanon

„Die Flüchtlingskrise betrifft auch uns“

Gastbeitrag Der Libanon steht vor seiner vielleicht größten Herausforderung. Der im sechsten Jahr mit unverminderter Härte geführte Krieg im Nachbarland Syrien hat das einstige Musterland der Levante an den Abgrund geführt. Sollte der Zedernstaat scheitern, hätte dies auch für Deutschland gewaltige Konsequenzen.

Die Schweiz des Orients. So vollmundig wurde der Libanon noch in den 1950er und 1960er Jahren wegen seiner wirtschaftlichen Stabilität und politischen Neutralität gepriesen. Vom alten Glanz ist wenig geblieben. Ein jahrelanger Bürgerkrieg, militärische Konflikte mit Syrien, mit Israel und die Zedernrevolution haben das Ihrige dazu beigetragen. Nun steht der Libanon vor seiner vielleicht größten Herausforderung. Der im sechsten Jahr mit unverminderter Härte geführte Krieg im Nachbarland Syrien hat das einstige Musterland der Levante an den Abgrund geführt. Sollte der Zedernstaat scheitern, hätte dies auch für Deutschland gewaltige Konsequenzen.

Hunderttausende Todesopfer

Eine Einschätzung der aktuellen Situation im Libanon beginnt in Syrien. Dort ereignet sich gegenwärtig die größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Offiziell wurden bislang 250.000 Tote gezählt. Andere Quellen sprechen von bis zu 470.000. Über 13 Millionen Menschen befinden sich innerhalb des Landes auf der Flucht. 4,7 Millionen sind inzwischen aus Syrien geflohen. Nicht zuletzt in den Libanon. Mit welcher Wucht die Flüchtlingswelle das kleine Nachbarland mit seinen ursprünglich vier Millionen Einwohnern getroffen hat, lässt sich an nackten Zahlen ablesen: Im März 2012 zählte der Libanon noch weniger als 10.000 registrierte Flüchtlinge. Ein Jahr später waren es bereits über 250.000. Zwei Jahre später 946.000. Im März 2015 zählte man schließlich weit über eine Million. Zusammen mit den illegal eingereisten, nichtregistrierten Syrern sind es heute 1,5 Millionen, die in rund 1.400 Flüchtlingscamps und privaten Wohnungen untergekommen sind. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder. Über 30 Prozent haben Kriegsverletzungen, dauerhafte Behinderungen oder chronische Erkrankungen. Sie alle sind auf Hilfe angewiesen. Hilfe, die auch das Hilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR zu leisten versucht.

Keine Flucht durch mehr Geld

Die hierzu benötigten Spendengelder verzeichneten in den Jahren 2013 bis 2015 allerdings einen dramatischen Einbruch. In diesem Zeitraum ging die monatlich pro Kopf zur Verfügung stehende Summe von 30 auf 13,5 Dollar zurück. Zum Überleben reichte dies nicht mehr. „Wer am Verhungern ist“, so Jean-Nicolas Beuze, Leiter des UNHCR-Büros in der Bekaa-Ebene, in der die meisten Flüchtlinge heute leben, „macht sich auf den Weg.“ Allen voran erkannte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller die enorme Brisanz dieser Entwicklung, die aus der schieren Not heraus zu einer weiteren Massenflucht in Richtung Europa geführt hätte. Auf der Geberkonferenz in London sagte er deshalb im Februar für das laufende Jahr eine Milliarde Euro Soforthilfe für humanitäre Hilfsprogramme der Vereinten Nationen zu. 570 Millionen davon für das Welternährungsprogramm. Dank dieser Hilfe konnte die Summe wieder auf 27 Dollar angehoben werden. Der Ruf, den sich Deutschland ob dieser Initiative unter Flüchtlingen wie Helfern erworben hat, ist gewaltig. In allen Partnerläden des Welternährungsprogramms, über die Nahrungsmittel an die Flüchtlinge verteilt werden, grüßen heute „Thank you Germany!“ Plakate von den Wänden.

Jeder zweite Jugendliche hat keine Arbeit

Die Gefahr ist damit allerdings nicht gebannt. Nach wie vor ist die Situation im Libanon hochgradig prekär.

Zwar haben im Mai ansatzweise demokratische Kommunalwahlen stattgefunden. Ansonsten ist die politische Lage jedoch wenig erfreulich: Seit zwei Jahren ist der Zedernstaat ohne Staatsoberhaupt, das nach dem herrschenden religiösen Proporzsystem als einziges im Nahen Osten ein Christ sein muss. In 40 Sitzungen hat es das Parlament nicht geschafft, sich auf einen Kandidaten zu einigen, und hat seine Arbeit inzwischen faktisch eingestellt. Ohne Staatsoberhaupt und funktionierendes Parlament ist der Libanon in eine tiefe konstitutionelle Krise gestürzt. Die Wirtschaft liegt am Boden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 30, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 54 Prozent. Das Handelsbilanzdefizit wird 2016 voraussichtlich bei weit über 13 Milliarden US-Dollar liegen. Im vergangen Jahr entsprach die Staatsverschuldung 138 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Angst vor Islamisierung

Vor diesem Hintergrund grenzt es fast an ein Wunder, mit welcher Empathie die Libanesen die große Zahl an Flüchtlingen aus dem Nachbarland bisher aufgenommen haben. Doch die Stimmung kippt. Gemeinden, die die doppelte Anzahl ihrer Einwohner an Flüchtlingen beherbergen, explodierende Mieten und Lebenshaltungskosten, angezapfte Wasser- und Stromleitungen, Müll- und Abwassersorgen, eine Überflutung des Niedriglohnsektors tragen das Ihre dazu bei. „Zu Beginn des Kriegs haben wir die Flüchtlinge in unsere Häuser aufgenommen und mit ihnen unser Brot geteilt“, so Kazem Kheir, der als jüngster Abgeordneter im libanesischen Parlament eine der ärmsten Regionen des Landes in der Nähe von Tripoli vertritt, „heute haben wir kein Brot mehr, das wir verteilen könnten.“ Hinzu kommt gerade bei der christlichen Bevölkerung eine wachsende Angst vor einer Islamisierung des Landes durch den hohen Anteil muslimischer Flüchtlinge.

Ein weiteres dramatisches Kapitel droht

Die Grenzen der Belastbarkeit hat der Libanon längst überschritten. Eine weitere Flüchtlingswelle aus Syrien dürfte dieses kleine Land nicht mehr verkraften. Zwar hat die Regierung im Januar 2015 mit der Einführung einer Visapflicht die Grenze zum Kriegsgebiet faktisch dicht gemacht.

Doch im Libanon glaubt kaum jemand, dass diese Abschottung auf Dauer funktioniert. „Sollte sich die Situation im Land nicht verbessern und der Zustrom an Flüchtlingen wieder ansteigen, dann machen wir die Häfen auf!“ Diesen Satz hörte der Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung Martin Neumeyer mehr als einmal, als er vor wenigen Wochen den Libanon bereiste. Eine Anekdote, die aktuell in Botschaftskreisen die Runde macht, lässt wenig Zweifel daran, wohin ein neuer Flüchtlingsstrom sich richten würde. Bei seinem Libanon-Besuch im April habe der französische Präsident François Hollande ein Flüchtlingscamp in der Bekaa-Ebene besucht und sei von einem Syrer treuherzig gefragt worden: „Herr Präsident, können Sie uns helfen, nach Deutschland zu kommen?“

Die Lösung für die Krise im Libanon heißt: Frieden in Syrien. Doch niemand im Zedernstaat glaubt heute ernsthaft daran, dass ein solcher auch nur ansatzweise in greifbarer Nähe ist. Bis dahin muss Deutschland auch aus berechtigtem Eigeninteresse heraus alles daran setzen, den Libanon zu stabilisieren und ihm helfen, in seine Rolle als Stabilitätsanker der Region hineinzuwachsen. Die Folgen eines Scheiterns wären für die Menschen vor Ort verheerend, und Deutschland stünde vor einem weiteren dramatischen Kapitel in der Flüchtlingskrise.