Der türkische Präsident Recep Erdogan. (Foto: Imago/Zuma Press)
Türkei

Erdogans große Säuberung

Das erinnert fast an Verhältnisse im Russland der 30er Jahre: Tausende Richter und Staatsanwälte werden aus ihren Ämtern gejagt und verhaftet. Fast die gesamte unabhängige Presse wird geschlossen, Journalisten werden in die Gefängnisse geworfen. In der Armee wird das Offizierskorps ausgetauscht. Erdogans Reaktion auf den Putschversuch verwandelt die Türkei in eine AKP-Diktatur.

Das Ende der unabhängigen Justiz

Die türkische Staatsanwaltschaft will die Privatvermögen von mehr als 3000 suspendierten Richtern und Staatsanwälten beschlagnahmen lassen. Betroffen sind 3049 Menschen mit mutmaßlichen Verbindungen zur Bewegung des Predigers Fetullah Gülen. Ihre Festnahme sei bereits angeordnet worden, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Donnerstagabend meldete. Die Juristen sind bereits vom Dienst freigestellt.

3049 Richter und Staatsanwälte wurden suspendiert, 1600 sitzen in Untersuchungshaft.

Beschlagnahmt werden sollen unter anderem Immobilien, Bankkonten oder Fahrzeuge. Die Regierung macht den in den USA lebenden Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich. Nach Angaben des Innenministeriums saßen am Mittwoch mehr als 1600 Richter und Staatsanwälte in Untersuchungshaft. Die Regierung wirft der Gülen-Bewegung vor, den Staat unterwandert zu haben. Gülen wurde in der Vergangenheit großer Einfluss im Justizbereich nachgesagt. Diese Unterwanderung hatte Gülen allerdings einst mit Erdogans Billigung begonnen, als beide noch Partner waren.

Gleichschaltung der Medien

Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der Mitte-Links-Partei CHP warnte Präsident Erdogan vor einer „Hexenjagd gegen Unschuldige”. „Journalisten zu verhaften wird unserer Demokratie schaden”, sagte er der Bild-Zeitung. Trotz der Kritik verteidigte Kilicdaroglou aber gleichzeitig das harte Vorgehen gegen die Gülen-Bewegung und sieht diese hinter dem Putschversuch. „Es gibt starke Anzeichen dafür, dass Teile dieser zusammen mit einzelnen beim Militär hinter dem Putsch stecken.” Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan müsse jedoch härter kritisiert werden, verlangte er. „Nicht nur Frau Merkel, sondern alle EU Institutionen können sich viel deutlicher und viel lauter gegen die undemokratischen Sitten aussprechen.”

Schließung von 3 Nachrichtenagenturen, 16 Fernsehstationen, 23 Radiosendern, 45 Zeitungen, 15 Magazinen sowie 29 Verlagshäusern.

Mit dem jüngsten Dekret Erdogans wurde die Schließung von drei Nachrichtenagenturen, 16 Fernsehstationen, 23 Radiosendern, 45 Zeitungen, 15 Magazinen sowie 29 Verlagshäusern und Pressevertrieben angeordnet. Unter den Medien ist die Zeitung Zaman. Im März war das einstige Flaggschiff-Medium der Gülen-Bewegung bereits unter Zwangsverwaltung gestellt und auf Regierungskurs gezwungen worden. Die Auflage sank von mehreren Hunderttausend auf zuletzt wenige Tausend Exemplare. Am Mittwoch hatte die Staatsanwaltschaft die Festnahme von 47 ehemaligen Zaman-Mitarbeitern angeordnet. Bereits am Montag war die Festnahme von 42 Journalisten auch anderer Medien angeordnet worden.

Nach Regierungsangaben wurden seit dem Putschversuch vor knapp zwei Wochen mehr als 15.800 Menschen festgenommen, etwa 10.000 davon aus dem Militär. Insgesamt wurde gegen mehr als 8100 davon Haftbefehl erlassen, rund 3000 wurden freigelassen. Der Rest sitzt weiter in Polizeigewahrsam. Nach Erdogans erstem Notstands-Dekret vom Samstag können Festgenommene bis zu 30 Tage festgehalten werden, bis sie einem Haftrichter vorgeführt werden müssen. Zuvor waren es vier Tage. Die drastische Maßnahme betrifft alle Bürger des Landes. Zehntausende Staatsbedienstete wurden suspendiert.

Säuberungswelle in der Armee

Mit demselben jüngsten Erlass wurden außerdem 1684 Offiziere unehrenhaft aus den Streitkräften entlassen, davon 149 im Generalsrang. Der türkische Armeechef Hulusi Akar bleibt hingegen weiter im Amt. Diese zuvor vom Obersten Militärrat getroffene Entscheidung habe Erdogan gebilligt, erklärte sein Sprecher Ibrahim Kalin am Abend. Akar war vor zwei Wochen von den Putschisten gefangen genommen, später aber befreit worden.

Knapp zwei Wochen nach dem Putschversuch aus den Reihen der Armee kam am Donnerstag in Ankara der Oberste Militärrat zusammen. Bei dem Treffen sollte es um Reformen in der Armee und um die Neubesetzung der Stellen gehen, die durch die Verhaftungen und Entlassungen von Offiziere freigeworden sind. An dem eintägigen Treffen unter Vorsitz von Ministerpräsident Binali Yildirim nehmen unter anderem Verteidigungsminister Fikri Isik und Armeechef Hulusi Akar teil.

Oberster Militärrat: Reformen in der Armee und Neubesetzung der Stellen.

Aus Regierungskreisen hieß es, am Freitag sollten die Entscheidungen Staatspräsident Erdogan zur Billigung vorgelegt werden. Laut Medienberichten ist die Zahl der Entlassenen so hoch, dass die Stellen nicht ausschließlich mit AKP-Getreuen besetzt werden können. Selbst Offiziere müssten wieder reaktiviert werden, die noch dem säkularen Atatürk-Kurs anhängen.

Der Militärrat entscheidet traditionell über Stellenbesetzungen in der Armee. Das Treffen findet erstmals am Sitz des Ministerpräsidenten und nicht im Armee-Hauptquartier statt. Ursprünglich war die Sitzung des Militärrats für August geplant, sie wurde wegen des Putschversuches vorgezogen. Nach Darstellung der Regierung sollten bei dem Ratstreffen im August zahlreiche Gülen-Anhänger aus den Streitkräften entfernt werden, weswegen diese sich zum Putsch entschlossen.

Flüchtlingsabkommen nicht in Gefahr

Nach dem Putschversuch verhängte Erdogan den Ausnahmezustand, der am 21. Juli in Kraft trat. Das Notstandsgesetz erlaubt dem Präsidenten, weitgehend per Dekret zu regieren. Bislang erließ er zwei Dekrete. Die harten Maßnahmen, die seit dem Putschversuch gegen Verdächtige ergriffen wurden, wurden besonders aus der EU kritisiert.

Die Flüchtlingswelle ist gestoppt.

EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn

Trotz der Wirren ist das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei nach Einschätzung von Erweiterungskommissar Johannes Hahn nicht in Gefahr. „Die Flüchtlingswelle ist gestoppt”, sagte er der Süddeutschen Zeitung. „Das sollte Europa auch selbstbewusst sagen. Heute geht es darum, dass wir der Türkei helfen, die finanzielle Last durch drei Millionen Flüchtlinge mit zu schultern.” (dpa/H.M.)