Russlands Griff nach der Ukraine: Die Krim wurde annektiert und in der Ostukraine kämpfen russische Soldaten und "Separatisten". Bild: Fotolia/peteri
Interview

„Es gibt immer wieder Kämpfe“

Ukraines Botschafter Andrij Melnyk im Interview zur Krise in seinem Land und den Beziehungen zur EU

Der Krieg im Osten der Ukraine ist noch immer das bestimmende Thema der ukrainischen Politik. Im Interview mit dem Bayernkurier spricht Botschafter Andrij Melnyk über die aktuelle Situation, die Beziehungen seines Landes zur Bundesrepublik, sowie die Nato- und EU-Beitrittspläne der Ukraine.

Bayernkurier: Herr Melnyk, wollen Sie sich kurz vorstellen?

Andrij Melnyk: Seit Januar 2015 bin ich Botschafter der Ukraine in Deutschland. Ausgebildet wurde ich in Lemberg, einer Stadt im Westen der Ukraine, wo ich auch geboren bin. Ich bin Völkerrechtler von Beruf und habe Ende der 90er Jahre meinen Master gemacht. Nebenbei beschäftige ich mich auch wissenschaftlich und habe promoviert im Völkerrecht in Kiew im Jahre 2004.

 

Bayernkurier: Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen der Ukraine und Deutschland?

Melnyk: Mein Präsident und Ministerpräsident waren bereits je zweimal in Deutschland, der Parlamentspräsident war hier zu einem offiziellen Besuch. Die Besuche der Minister habe ich aufgehört zu zählen. Allein mein Außenminister war fünf oder sechs Mal da. In den vergangenen drei Monaten war die ganze deutsche Staatsführung in Kiew. Die Bundeskanzlerin erwies uns die Ehre, der Bundespräsident war zum Jahrestag auf dem Majdan und auch der Präsident des Bundestages hat nach zehn Jahren zum ersten Mal einen offiziellen Besuch abgestattet, von anderen Kontakten abgesehen. Die Agenda ist schon sehr voll, die Tagesordnung sehr intensiv. Im Mittelpunkt aller Gespräche sind Krieg, Reformen, die deutsche Unterstützung. Das sind auch die Themen, an denen wir tagtäglich arbeiten. Die Kanzlerin wird wieder mit dem Präsidenten telefonieren, fast jede Woche gibt es Kontakte zwischen den beiden telefonisch. In Kürze ist mein Präsident wieder hier in Berlin und Aachen. Er wird an der Zeremonie zur Verlehung des Karlspreises teilnehmen, den in diesem Jahr Martin Schulz erhalten hat. Das bedeutet: Das Niveau der Beziehungen, die wir im Augenblick genießen, ist beispiellos. Es hat sich ein Fenster geöffnet für uns. Viele Leute, für die die Ukraine eigentlich kein Thema war, beginnen sich jetzt auch für uns zu interessieren, was sicherlich nicht nur durch den Krieg bedingt ist.

Bayernkurier: Ist der Krieg immer noch das Hauptthema bei diesen zahlreichen Kontakten?

Melnyk: Neben Krieg und Friedensprozess ist für uns die Hilfe im Reformprozess ganz wichtig, die humanitäre Hilfe angesichts der angespannten Lage im Osten. Wir haben derzeit 1,2 Millionen Flüchtlinge aus dem Donbass, wir haben alleine 150000 traumatisierte Kinder. Ich hatte ich Gespräche mit der Präsidentin des Landtages und mit Staatsministerin Merk, dass man vielleicht einige Kindergruppen im Sommer nach Bayern zur Erholung einladen könnte, dies wäre auch eine sehr schöne humanitäre Geste in der schwierigen Zeit, um zu zeigen, wir sind nicht alleine.

Bayernkurier: Wenn Sie von den intensiven Beziehungen zu Berlin und EU allgemein berichten, könnte man meinen, dass Putin das Gegenteil von dem erreicht hat, was er wollte, nämlich dass er die Ukraine regelrecht zur EU getrieben hat…

Melnyk: Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Das ist nicht nur politisch gesehen. Der Krieg hat großen Schaden im Osten angerichtet und wir haben etwa ein Fünftel des Wirtschaftskapitals verloren, hoffentlich nur temporär, der menschliche Preis ist enorm. Doch was man erzeugt hat durch diese rechtswidrigen Handlungen, ist eben der Zusammenhalt innerhalb der EU und auch die Bereitschaft, der Ukraine noch mehr zu helfen. Wirtschaftlich hat sich Russland auch isoliert. Russland hat vor einem Jahr die Handelsbeziehungen zur Ukraine gestoppt. Doch was haben wir als Ergebnis? Zum ersten Mal seit der Wende sind nicht mehr Russland und die GUS unsere wichtigsten Handelspartner, sondern das sind die EU-Staaten. Die ukrainischen Exporte sind massiv gestiegen – in einzelnen Bereichen um mehr als ein Drittel. Was die Importe betrifft, die sind natürlich zurückgegangen, weil unsere Währung massiv entwertet wurde, dieser Trend wird sich auch in diesem Jahr fortsetzen. Das Bruttoinlandsprodukt ging 2014 um knapp sieben Prozent zurück. In diesem Jahr erwarten wir leider wieder ein Minuswachstum von 5,5 Prozent. Aber für das nächste Jahr sind die Ansichten der Regierung und des Internationalen Währungsfonds schon optimistischer, da wird ein Wachstum von 2,2 Prozent erwartet. Grundlage dafür ist, dass die Reformen zügig angepackt werden.

Bayernkurier: Wie intensiv ist der Krieg denn zur Zeit?

Melnyk: Seit den Vereinbarungen von Minsk Mitte Februar ist die Situation schon ruhiger geworden. Die Waffenruhe wird aber nicht hundertprozentig eingehalten. Es gibt viele Hot-Spots, wo es immer wieder kracht. Die meisten sind in der Nähe von Donezk, im Flughafengebiet. Der zweite ist in der Region Mariupol, der temporären Hauptstadt des Donezker Gebietes, und auch in Luhansk. Da gibt es auch immer wieder Kämpfe. Da wird leider weiter geschossen, und wir haben viele Soldaten, auch Zivilisten verloren, seit die Waffenruhe eingeführt wurde. Es ist also besser als früher, aber es ist noch nicht gut genug.

Bayernkurier: Was ist noch zu tun?

Melnyk: Wir müssen weitere Schritte, die in Minsk auch vereinbart wurden, vorantreiben. Mit dem Abzug der schweren Waffen gibt es Schwierigkeiten. Die OSZE-Mission ist aktiver geworden, das muss man zugestehen. Man hat auch auf sie Druck ausgeübt, dass sie nicht nur sporadisch etwas beobachtet, sondern systematisch ihren Auftrag erfüllt. Das hat sie begonnen zu tun, es gibt jetzt jeden Tag Berichte von der OSZE-Mission. Laut Zeitplan von Minsk ist vorgesehen, dass bis Ende des Jahres gemeinsame Grenzkontrollen gewährleistet sein müssen. Vorausgesetzt, dass die Wahl stattgefunden hat. Da gibt es viele Schwierigkeiten. Damit eine Wahl vernünftig abgehalten werden kann, braucht man viele Voraussetzungen: Die Parteien müssen zugelassen sein, das Fernsehen muss eingeschaltet werden. Im Moment gibt es kein ukrainisches Fernsehen in den Gebieten. Alle, die politisch aktiv waren, mussten flüchten aus Angst um ihr Leben. Und die OSZE muss den Prozess auch überwachen. Davon sind wir leider noch weit entfernt.

Bayernkurier: Das hört sich so an, als ob Sie erwarten, dass die Separatistengebiete mittelfristig bei der Ukraine bleiben und dass dort auch eine gesamt­ukrainische Wahl stattfinden wird.

Melnyk: Ja, wir gehen davon aus. Das ist der Wortlaut und Geist des Minsker Abkommens, sowohl Minsk I als auch Minsk II. Alle Seiten, auch Russen, die diese Dokumente unterzeichnet haben, gehen davon aus, dass diese beiden Regionen, die im Moment unter Okkupation stehen, ein untrennbarer Teil der Ukraine bleiben werden, das ist das wichtigste, und dass sie einen besonderen Status bekommen sollen, innerhalb der Ukraine. Diese bestimmten Vorrechte und Kompetenzen sind in einer Fußnote ganz genau aufgelistet und sind vom ukrainischen Parlament bereits verabschiedet und vom Präsidenten unterzeichnet. Dieses Gesetz wird in Kraft treten, nachdem die Wahl stattgefunden hat.

Bayernkurier: Zu Beginn der Krise hieß es, die Ukraine sei ohne die Schwerindustrie im Donbass wirtschaftlich nicht überlebensfähig. Nun gehört die Region derzeit ja nicht zur ukrainischen Volkswirtschaft. Wovon lebt denn die Ukraine, wovon erwirtschaften Sie den volkswirtschaftlichen Mehrwert – ohne die Schwerindustrie?

Melnyk: Okkupiert ist nur ein relativ kleiner Teil der Ukraine, auch wenn dort sehr viele wichtige Betriebe sind wie Kohlegruben und so weiter. Wir haben in der Ukraine insgesamt etwa 150 Kohlegruben, und davon befinden sich etwa 115 dort. Deshalb kam es auch zu Schwierigkeiten mit der Kohleversorgung, wir mussten die Kohle in Südafrika und sogar in Russland zukaufen. Charkiw, Dnjepropetrowsk, Saporischja am Dnjepr, da ist die Schwerindustrie und chemische Industrie geblieben. Eine Krise in diesem Ausmaß ist für uns auch die Chance, das Land so aufzubauen, dass man nicht auf die Strukturen des 19. Jahrhunderts zurückgreifen muss. Denn diese Kohlebetriebe sind nicht rentabel. Die wurden vom staatlichen Haushalt bis vor einem Jahr jährlich mit neun Milliarden Hryvnia subventioniert, das war damals etwa eine Milliarde US-Dollar. Das ist also kein Todesstoß für uns, sondern ein Impuls, das Land neu aufzubauen. Wir haben ganz gute Ansätze. Der Tourismus ist ein wachsender Wirtschaftsfaktor. Hightech und Computer-Sciences, das kann man in Lemberg studieren. Jetzt haben wir dort Cluster, wo Tausende von Computertechnikern für weltweite Konzerne tätig sind. Der Agrarbereich war die einzige Sphäre, wo wir sogar ein Wachstum zu verzeichnen hatten 2014. Die Ukraine hat 2014 ohne Krim und den Osten des Landes eine Rekordernte erzielt, mit 60 Millionen Tonnen, Tendenz steigend. Wir haben also genug Spielraum, diesen temporären Verlust der Krim und des Ostens zu verkraften. Es ist nicht so, dass das ganze Land jetzt lahmgelegt wird. Es ist vielmehr ein Ansporn, noch mehr zu tun und die Reformen noch vehementer voranzutreiben.

Bayernkurier: Wo steht die Ukraine in 20 Jahren? Mitglied der EU und der Nato?

Melnyk: In 20 Jahren sind wir ganz bestimmt in der EU, und ich bin fast hundertprozentig überzeugt, dass wir auch in der Nato sein werden, wenn die Nato bis zu dem Zeitpunkt sich nicht geändert hat. EU auf jeden Fall, Nato sehr wahrscheinlich.