Er ist, auch mit 80 Jahren, wie er immer war und immer bleiben wird: unprätentiös, loyal, verschwiegen. Wenn es dafür noch einer Bestätigung bedurft hätte, so hat er selbst sie jetzt mit einer „Autobiografie“ abgegeben: „Vertrauensverhältnisse“ ist kein Titel, der hinreißt; der aber den Mann charakterisiert und darum herausragt aus dem Überangebot immer gleicher Eitelkeiten.
Rudolf Seiters war zeit seines Lebens ein Gärtner in der Wüste der Politik. So hat er viel zu berichten, kenntnisreich und kompetent: aus 33 Jahren im Bundestag, über vier Bundeskanzler; als einer der engsten Vertrauten Helmut Kohls, dessen „Hausmeier“ er im Bundeskanzleramt war, ehe er als Innenminister zurücktrat und jene „politische Verantwortung“ übernahm, die heute keiner mehr kennen mag. Seit 2002 ist er Präsident des Deutschen Roten Kreuzes und als solcher noch immer auf den großen Bühnen der Welt dabei: im Nahen Osten und auf den Fluchtwegen nach Europa, in Haiti wie in Nepal. Der Mann taugt als Augenzeuge nahezu der ganzen deutschen Nachkriegsgeschichte.
Koordinator der Wiedervereinigung
Nicht zuletzt am 9. November 1989, als er dem in Polen weilenden Bundeskanzler in Bonn das Haus hütete. Da, bekennt er, in dieser historischen Stunde bezog auch er sein Wissen nur aus dem Fernsehen. Aber der Bundestagspräsidentin, verrät er, nahm er namens der Exekutive eine Erklärung vor dem Hohen Haus sofort ab. Von da an − und schon früher − war er bei jeder maßgeblichen Entscheidung dabei: Als Ungarns Premier Miklos Nemeth im Mai 1989 in Bonn ankündigt, als erster ein Loch im Eisernen Vorhang zu öffnen: „Ungarn verkauft keine Menschen“; als Michail Gorbatschow dann die Ungarn als „gute Leute“ dafür lobt, weiß Seiters: „Das war ein klares Signal.“ Seiters ist auch dabei als Gorbatschow ein knappes Jahr später im Kaukasus den Deutschen „Weg und Zeit der Einigung“ freigab.
Die Sache ist gelaufen.
Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden
Zuvor, am 30. September 1989, erlebt er auf dem Balkon der Prager Botschaft „vielleicht die Szene meiner politischen Laufbahn“: die Ausreise der DDR-Flüchtlinge, die er maßgeblich vorbereitet hatte, für die aber Außenminister Genscher den Ruhm einstrich. Am 19. Dezember begleitet er den Bundeskanzler nach Dresden zum ersten großen Auftritt in der Noch-DDR unter „Einheit-Einheit“-Rufen der jubelnden Menge. An Seiters gewendet fällt dann Kohls berühmter Dresden-Satz: „Die Sache ist gelaufen.“ Seiters sondiert, verhandelt, diktiert der DDR ein neues Wahlgesetz – und ihr Ende. Er koordiniert: die Verträge mit der DDR über die Währungs- und Sozialunion und dann die deutsche Einheit, mit Polen über die Aussöhnung, mit den „2+4“-Siegermächten den Friedensschluss, die Entwicklung der Europäischen Union und der Nato. „Mit faszinierender Dynamik“ entwickelte sich „ein Wunder“, staunt der Mann noch heute, der selbst daran mitgewirkt hat.
Nützliche Erinnerung
Seiters hinterlegt mit mancher Erinnerung eine Mahnung an die, die heute das Sagen haben, aber sich nicht erinnern wollen. Es waren 1990 gerade die Polen, für die es nach Jahrzehnten kommunistischer Diktatur nur ein Heil gab: EU und Nato – jawohl, Herr Kaczynski! „Meckern kann jeder, gestalten ist etwas ganz anderes“ – so ist es, Frau Petry! Seiters: „Wir dürfen nicht zulassen, wollen wir unseren Staat nicht selbst zerstören, dass jede politische Gruppe, der die politischen Verhältnisse nicht gefallen, versucht, ihre Ansichten mit Gewalt und Gesetzlosigkeit durchzusetzen. Dann werden wir bald die Schlägertrupps der Rechtsradikalen erfahren“ – hört hin, „Reichsdeutsche“ und Pegida! Seiters redet der jungen Generation „Politikmüdigkeit und Desinteresse“ aus, plädiert für überparteilichen Pragmatismus, freut sich an dieser Stelle noch immer über das „deutliche Stirnrunzeln meiner Fraktionskollegen“, als er im Bundestag Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ applaudiert.
Wer glaubt, ist niemals allein.
Rudolf Seiters
Nicht zuletzt bekennt sich Seiters zu seinem Glauben („wer glaubt, ist niemals allein“), zur Verantwortung des Politikers „vor Gott und den Menschen“. Und, Heimat und Familie, „das sind Werte, die mir wichtig sind“. Das sagen, das trauen sich heute nicht viele. Aber gerade wie es so beiläufig daherkommt, wird es glaubwürdig. Aus Seiters‘ reicher Lebenserfahrung, aus den Lehren, die er immer wieder aus der Geschichte zieht, erhebt sich ein Gegenentwurf zu allem Opportunismus und scheinbar unaufhaltsamem Zeitgeist.