Günther von Lojewski Bild: BK
Gastkommentar

Menetekel Völkermord

Kolumne Erinnerung in der Erregungsgesellschaft: Manche missbrauchen die Erinnerung an den Völkermord, um sich selbst im Mainstream politischer Correctness zu profilieren. Dagegen hat jetzt eine Überlebende des Holocaust Gnade und Vergebung gesetzt.

Völkermord hängt wie ein unabweisbares Menetekel über der Menschheit. Staatlich organisiert, übersteigt die Dimension dieser Verbrechen jede menschliche Vorstellungskraft und sprengt alle gesetzlichen Normen. Völkermord kennt keine Gerechtigkeit. Kein Maß ist angemessen, nicht für Schuld und nicht für Sühne.

Umso dringender bedarf es steter Erinnerung; in Deutschland wie in Armenien und der Türkei, in Stalins Sowjetunion, in Auschwitz wie in Buchenwald. Völkermord darf nie vergessen werden, muss für alle Nachfahren unbarmherzig und auf ewig eine Mahnung sein. Darum ist der Auschwitz-Prozess in Lüneburg gegen einen 93jährigen, Oskar Gröning, heute so sinnvoll und richtig, wie es der gegen „Mulka und andere“ 1963 war. Länger als das Urteil wirkt die Dokumentation des Unrechts, wirken die Zeitzeugen nach, die es personifizieren. Weil sie selbst „an der Rampe“ gestanden, dem Tod ins Auge geschaut, Eltern, Geschwistern, Verwandten Tränen ohne Ende nachgeweint haben.

Missbrauch der Erinnerung

Ihre natürliche Glaubwürdigkeit ist es, die sie von manchen Epigonen unterscheidet. Von jenen, die „Völkermord“ missbrauchen, um sich selbst im Mainstream politischer Correctness zu profilieren. Oder jenen anderen, die, gesegnet mit der Gnade der späten Geburt und aus der Distanz von Generationen ohne jedes Risiko, dem Ungeist vergangener Zeiten im Nachhinein ihren, „der Herren eigenen Geist“ aufzwingen wollen. Die vor einer braunen Renaissance so lange warnen, bis sie sie herbeigeredet (und nur deshalb Recht) haben. Die sich keinesfalls in der Mitverantwortung für die Zukunft sehen, gern aber an der Vergangenheit der Väter schadlos halten; da geht es dann, zum Beispiel, wenn „Völkermord“ aufgerufen wird, zuvörderst um „die Versäumnisse der Justiz“ nach 1945.

Solche Epigonen gleichen mir zunehmend jenen, die wir so oft in der Öffentlichkeit spektakulärer Prozesse antreffen. Die mit Heerscharen von Gleichgesinnten und Nebenklägern in die Gerichtssäle einziehen, vor Kameras und Mikrofone drängen und sich im Internet auslassen, um teilzuhaben an der allgemeinen Erregung. Die die Beschuldigten körperlich sehen möchten, die anklagen und nichts als Rache und Strafe wollen, denen es kein Urteil recht machen kann.

Zum christlich-abendländischen Menschenbild gehören Gnade und Vergebung

Wieviel weiser, verantwortlicher, zukunftzugewandter dagegen die Alten, die jetzt in Lüneburg aussagen. Ihm sei nicht wichtig, dass Gröning ins Gefängnis müsse, sagt einer, der Auschwitz überlebt hat; wohl aber müsse die Welt wissen, was in Auschwitz „passiert“ sei. Eine 81-Jährige hat gar „vergeben“: „meine Vergebung spricht die Nazis nicht frei“, wohl aber hoffe sie, dass „Sie und ich uns als Menschen begegnen können“. Zu verzeihen sei im übrigen für sie ein „Akt der Selbstheilung und der Selbstbefreiung“.

Wie gut für uns, dass es noch solche Zeitzeugen gibt, die über den Schatten ihres eigenen Leides zu springen vermögen. Die einer egozentrierten, von Schlagzeile zu Schlagzeile hetzenden Erregungsgesellschaft immer wieder die Unfassbarkeit eines Genozids vorhalten. Die mahnen, dass sich nicht wiederholen darf, was ihnen „passiert“ ist. Die Alten, die alle Jüngeren daran erinnern, dass zum christlich-abendländischen Menschenbild noch immer Gnade und Vergebung gehören.