Beim Selfie kommt die Überraschung von hinten
Kein Scherz: Wildpark-Wärter warnen Touristen vor Selfies mit Bären. Ferienzeit ist Selfie-Zeit, und der Leichtsinn kennt keine Grenzen. Mehr Leute sterben jedes Jahr beim Selfieknipsen als von Haien gefressen werden, rechnet ein Statistik-Witzbold aus. Häufigste Selfie-Unfall-Ursache: Sturz von Felswänden, Klippen oder hohen Häusern. Ebenfalls oft tödlich: Selfie mit Schnellzug.
Social Media

Beim Selfie kommt die Überraschung von hinten

Kein Scherz: Wildpark-Wärter warnen Touristen vor Selfies mit Bären. Ferienzeit ist Selfie-Zeit, und der Leichtsinn kennt keine Grenzen. Mehr Leute sterben jedes Jahr beim Selfieknipsen als von Haien gefressen werden, rechnet ein Statistik-Witzbold aus. Häufigste Selfie-Unfall-Ursache: Sturz von Felswänden, Klippen oder hohen Häusern. Ebenfalls oft tödlich: Selfie mit Schnellzug.

Präsident Obama hat es getan, und die Queen hat es getan. Ganz harmlos. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es im vergangenen Sommer auch getan, nicht so harmlos und mit massiven Folgen für Deutschland und ganz Europa. Zigtausende Touristen werden es jetzt in den Sommerferien tun am Strand, auf der Zugspitze oder in Venedig auf dem Markusplatz in Venedig: Selfies knipsen, mit Selfiestick oder einfach nur mit dem Smartphone in der Hand.

Das Hingucker-Selfie kann im Wortsinne ultimativ sein – das äußerste, das wirklich allerletzte.

Ferienzeit ist Selfie-Zeit. Die ganze Welt soll sehen, über facebook, twitter oder sonst ein Social Medium, was für tolle Dinge wir an den aufregendsten Orten der Welt erleben – oder tun. Jeder ist ein Star oder kann es werden, jedenfalls im Netz. Man muss sich nur in Szene setzen, zum Hingucker machen, dann gibt’s Millionen Klicks. Manchmal allerdings posthum.
Denn der Selfie-Drang kann tödlich enden. Das Hingucker-Selfie kann im Wortsinne „ultimativ” sein – das äußerste, das wirklich allerletzte.

Mit der guten alten Spiegelreflex-Kamera wäre das nicht passiert.

Das vorläufig letzte solcher finalen Ferienselfies an zugegebenermaßen interessantem Ort passierte Ende Juni einem 51-jährigen deutschen Touristen in Peru: Der Mann verlor in der Inka-Ruinenstadt Machu Picchu beim Selfie-Knipsen das Gleichgewicht und stürzte von einem Felsvorsprung fast 50 Meter in den Tod. Kurz zuvor war ebenfalls in Peru, am 775 Meter hohen Gocta-Wasserfall im Norden des Andenstaates, ein südkoreanischer Tourist 500 Meter abgestürzt, auch beim Selfie-Foto. Mit der guten alten Spiegelreflex-Kamera wäre das nicht passiert. Aber dann ist man halt nicht mit im Bild. Was manche für tödlich langweilig halten. Ein Irrtum: langweilig vielleicht, aber eben nicht tödlich.

Liste von Verletzungen und Todesfällen mit Selfie-Bezug

„Dieses Jahr sind mehr Leute beim Selfieknipsen gestorben als bei Hai-Angriffen“, titelte vergangenes Jahr im September die Londoner Tageszeitung The Daily Telegraph. Den schönen Vergleich hatte sie vom New Yorker Internetmedium Mashable übernommen. Zu dem Zeitpunkt waren im Jahr 2015 tatsächlich schon zwölf Personen bei gefährlichen Selfies verunglückt, aber nur acht bei Hai-Angriffen getötet worden. „Das ist lächerlich“, schimpfte trotzdem die Washington Post über den reißerischen Vergleich: „Nein, Selfies haben nicht mehr Leute umgebracht als Haie.“  Haie können töten, aber Selfies nicht, erklärte die Washington Post ihren Lesern. Das seien alles Unfälle gewesen, so wie hunderte Stürze von der Leiter jedes Jahr.

Dieses Jahr sind mehr Leute beim Selfieknipsen gestorben als bei Hai-Angriffen.

The Daily Telegraph, September 2015

Das mag schon sein, ist aber kein Trost. Zumal die Zahl der Selfie-Toten steigt. Inzwischen gibt es sogar eine Wikipedia-Seite mit einer ausführlichen „Liste von Verletzungen und Todesfällen mit Selfie-Bezug“. Für das vergangene Jahr sind dort weltweit 29 Todesfälle verzeichnet. Es waren sicher mehr. Denn schon im Juli 2015 zitierte die britische Tageszeitung The Guardian eine Sprecherin des russischen Innenministeriums, die von „dutzenden tödlichen Unfällen“ und „etwa 100 Verletzungen“ durch gefährliche Selfies sprach, allein in Russland und nur für die ersten Monate des Jahres. Für das Jahr 2016 verzeichnet die Wikipedia-Liste jetzt schon 25 Todesfälle – und die Ferienzeit hat gerade erst begonnen.

Indische Spezialität: Selfie vor einem heranrasenden Zug

Die meisten Selfie-Opfer stürzen in die Tiefe, von Klippen, Felsvorsprüngen, hohen Häusern oder Brücken. Ein besonders trauriger solcher Fall aus dem Jahr 2014 ist noch in Erinnerung: Zwei junge polnische Eltern wollten an der portugiesischen Atlantikküste, unweit Lissabon, ein spektakuläres Selfie schießen, natürlich am Rande einer Klippe – und stürzten zusammen 140 Meter in die Tiefe. Sie hinterließen zwei kleine Kinder. Ähnlich ging es Anfang 2015 einer jungen Bulgarin auf Ibiza: Sie wollte sich und den Moment und Ort der Freude verewigen, an dem ihr Freund ihr gerade den Heiratsantrag gemacht hatte – und stürzte von der Klippe.

Die Welle kam von hinten – wie das beim Selfie halt unvermeidlich ist.

Ertrinken ist die zweithäufigste Selfie-Todesursache: Die Opfer stürzen beim Selfieknipsen ab und fallen in einen Fluss, einen See oder ins Meer. Gleich sieben Opfer forderte März 2015 ein derartiger Selfie-Unfall auf dem Mangrul See ziemlich genau in der Mitte Indiens: Sieben Jugendliche wollten in ihrem Boot stehend ein Gruppenbild machen. Das Boot kenterte, die Jungens ertranken. Bei Bombay kam in diesem Februar eine Studentin ums Leben, die beim Selfie von einer Flutwelle überrascht wurde. Die Welle kam von hinten, wie das beim Selfie halt unvermeidlich ist. Die Studentin wurde ins Meer gespült, genauso wie jene junge Philippinin, die Ende 2014 ihr letztes Selfie am Strand machte.

Der Zug war schneller oder das Smartphone zu langsam.

Überhaupt, Indien. In dem handy- und selfie-besessenen Riesenland passieren der indischen Internetseite Phone Radar zufolge über 40 Prozent aller Selfie-Todesfälle. Was die Polizei in Bombay veranlasst hat, in der Stadt 16 Selfie-Verbotszonen einzurichten. Eine indische Spezialität ist offenbar das Selfie vor einem heranrasenden Zug. Problem: Nicht allen Selfitis – den Ausdruck erfand ein indischer Nervenarzt – gelingt rechtzeitig der Sprung vom Gleis. So erging es seit Mai 2014 schon mindestens neun jungen Indern, in einem Fall im Januar 2015 gleich dreien auf einmal. Der Zug war schneller oder das Smartphone zu langsam. Aber nicht nur fahrende Züge werden zur Selfie-Todesfalle und nicht nur in Indien: Auch in Rumänien, Spanien und Russland kommt es vor, dass Selfie-Jäger auf stehende Züge aufsteigen und dann das Stromkabel berühren.

Aufklärungsaktion der russischen Polizei

Eine andere wohl unwiderstehliche Selfie-Pose: mit der Schusswaffe an der eigenen Stirn. In Moskau verletzte sich auf diese Weise eine 21-jährige Russin schwer mit einer Gummigeschoss-Pistole. In St. Louis kam diesen Juni ein 15-jähriger Junge ums Leben, der im Schlafzimmer der Eltern eine Pistole fand und damit das Selfie schießen wollte. Abgesehen von dem Wahnsinn, geladene Waffen in der Wohnung herumliegen zu lassen, war da womöglich ein motorisches Problem mit im Spiel: Es ist gar nicht einfach, zwar mit dem linken Daumen den Handy-Auslöser zu drücken, aber nicht gleichzeitig mit dem rechten Zeigefinger auch den Abzug der Waffe. Zur allerletzten Mutprobe geriet  der Fall zweier junger Russen, die im Ural mit Handgranate posierten – und dabei den gezogenen Sicherheitssplint vorzeigten. Nach dem Selfie musste der Splint natürlich dahin zurück, wo er den Auslösemechanismus der Handgranate blockieren soll. Offenbar haben die beiden dabei den Sicherungsbügel nicht fest genug gedrückt gehalten. Nur das Smartphone und das Selfie haben die Explosion überstanden.

Ein Selfie auf Eisenbahngleisen ist eine schlechte Idee, wenn Dir Dein Leben lieb ist.

Empfehlung der russischen Polizei

In Russland sind die Risiko-Selfies so zur Epidemie ausgeartete, dass die russische Polizei sich im vergangenen Jahr genötigt sah, eine nationale Aufklärungskampagne zu starten. „Ein cooles Selfie, kann Dich das Leben kosten“, heißt es da auf einem bunten Flugblatt oder: „Ein Selfie mit einer Waffe tötet.“  Rot durchgestrichene Verbotszeichen signalisieren dem, der es nicht vorher wusste: Kein Selfie auf der Autobahn, beim Autofahren oder auf dem Strommast. „Ein Selfie auf Eisenbahngleisen ist eine schlechte Idee, wenn Dir Dein Leben lieb ist“, so das Flugblatt. Ein anderes Verbotszeichen rät ab vom Selfie mit einem Löwen.

Lebensgefährliches twitter hashtag #bearselfie

Wer diesen letzten den Tipp der russischen Polizei für eigentlich selbstverständlich hält, kennt die Realität nicht. Selfies mit gefährlichen Tieren sind populär. Besonders bei Amerikanern, aber nicht nur. Ein Mann im kalifornischen San Diego etwa hat im vergangenen Juli das bestimmt originelle Selfie mit einer Klapperschlange nur knapp überlebt. Ein anderer Selfiknipser kam beim Stierrennen in Toledo ums Leben. Im Yellowstone Park wurde vergangenen Juli eine Frau bei der Selfie-Pose von einem tonnenschweren Bison auf die Hörner genommen und durchbohrt – der dritte Unfall mit Bison und Selfie im Yellowstone Park in nur drei Monaten.

Aus unserer Sicht ist es keine gute Idee, erstens so nahe an wilde Tiere heranzugehen, und ihnen dann zweitens auch noch den Rücken zuzukehren – und dann noch Bären.

Waterton Canyon Park Manager in Colorado

Eher lebensgefährlich ist der mindestens seit 2014 populäre Twitter-hashtag #bearselfie. Er lädt die weltweite Selfie-Crowd zum Selbstbildnis mit Bär ein. Im Bear-Selfie-Wahn (The Daily Mail) belassen es immer mehr Selfitis nicht beim Bild mit Gummibärchen oder Teddy, sondern machen sich auf die Suche nach Meister Petz in freier Wildbahn. „Wir hatten ganze Meuten von Leuten, die sich regelrecht auf die Bären stürzten, um ein Selfie zu bekommen”, berichtete im Sommer 2014 völlig entgeistert eine Verantwortlich im Lake Tahoe Basin in Kalifornien. Nahe Denver, in Colorado, musste wegen des Bear-Selfie-Wahns im vergangenen Sommer sogar der beliebte Waterton Canyon Park – 100.000 Besucher im Jahr – geschlossen werden. „Wir haben Leute gesehen, die mit Selfiesticks so nahe wie möglich an die Bären heran wollten, manchmal bis zu drei Meter, an wilde Bären“, so ein fassungsloser Parkmanager. Dass zwei Grizzly-Bärinnen gerade mit ihren Jungen durch die Gegend streiften, machte die Sache nicht besser. Ein anderer Parkverantwortlicher riet den Selfie-Jäger in den Rocky Mountains: „Aus unserer Sicht ist es keine gute Idee, erstens so nahe an wilde Tiere heranzugehen, und ihnen dann zweitens auch noch den Rücken zuzukehren – und dann noch Bären.“

Tödliches Selfie mit dem Walross

Nein, das ist keine gute Idee. Wildtiere sind eben keine Steifftiere, auch keine Haustiere. Für Selfieknipser, die das vergessen, kann es böse enden. Nicht nur in Colorado und in den Rocky Mountains, sondern auch in China. Dort wollte diesen Mai ein Geschäftsmann in der Provinz Shandon in einem Wildtiergehege ein Selfie mit Walross machen. Das ging übel aus: Dass 1,5 Tonnen schwere Tier schnappte den Mann von hinten und zog ihn „spielerisch“ ins Becken, so die Londoner Boulevardzeitung The Daily Mail. Zoo-Tiere langweilen sich und lieben jede Abwechslung. Ein Wärter, der das Tier seit zehn Jahren kannte und pflegte, sprang hinterher, um den Besucher zu retten. Das Walross drückte die Männer unter Wasser. Beide ertranken.

Wilden Tieren soll man halt nicht den Rücken zukehren. Die gleiche Lektion lernte auch ein Selfie-Begeisterten im US-Bundesstaat Kansas, allerdings deutlich glimpflicher: Beim Selfie mit einem Schwan streckte das Tier seinen Hals über den niedrigen Zaun und zwickte den Mann von hinten ins Bein. Auf das Selfie mit Grizzly wird wenigstens dieser Smartphone-Fotograf jetzt vielleicht verzichten.