Hat Depression den Germanwings-Copiloten zum Massenmörder werden lassen? Foto: BK
Depression

Schatten über der Seele

Ließ der Copilot die Germanwings-Maschine aufgrund seiner Depression abstürzen? Das schreckliche Flugzeugunglück hat die Diskussion um eine Krankheit entfacht, die nicht mehr als vorübergehende trübe Stimmung oder momentane Niedergeschlagenheit abgetan werden kann. Sondern sogar Leben gefährden kann.

Wenn sich ein Schatten auf die Seele eines Menschen legt und sein Leben in einen finsteren Tunnel reißt, dann empfindet er nur noch Hoffnungslosigkeit und tränenlose Trauer, Apathie und lähmende Angst. Er ist erschöpft und kann dennoch nicht schlafen. Er braucht die Hilfe der anderen, aber er schafft es nicht, sie darum zu bitten. Er zieht sich zurück, obwohl er nichts mehr bräuchte als menschliche Nähe und Wärme.

Depression nennen Ärzte und Psychiater diesen Zustand. Aber für viele, die diese Krankheit noch nicht am eigenen Leib erfahren haben, ist sie etwas Unverständliches und liegt so zwischen Kopfweh und Einbildung. Besonders leistungsorientierte Menschen sind anfällig für eine Depression, wissen die Mediziner, und auch die, die in ihrem Beruf oder in ihrem familiären Alltag chronisch überlastet sind.

Fünf Prozent aller Deutschen sind von einer Depression betroffen, berichtet das „Kompetenznetz Depression“, ein bundesweites Großforschungsprojekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Das sind vier Millionen verzweifelter, erschöpfter Menschen, von denen mehr als ein Fünftel extrem suizidgefährdet ist – die tatsächliche Selbstmordrate liegt bei 15 Prozent.

Stoffwechselstörungen im Gehirn werden für diese Volkskrankheit verantwortlich gemacht, verursacht durch genetische Veranlagungen, die bei Stress-Situationen zum Zusammenbruch des Systems führen. Doch sind es wirklich nur genetische Prägungen, die bestimmte Nervenzell-Schaltkreise durcheinander bringen? Neueste Untersuchungen deuten darauf hin, dass es noch andere Faktoren gibt, die Gehirn und Seele so verwirren, dass es zum Krankheitsausbruch kommen kann.

Depression begann als Wohlstandskrankheit

In seinem Buch „Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart“ hat der französische Soziologe Alain Ehrenberg die Geschichte der Depression untersucht und kommt zu dem Ergebnis: Sie ist eine Krankheit des Überflusses und nicht der Not. Ehrenberg: „Die Depression beginnt in den goldenen Dreißigern, in einer Zeit des wirtschaftlichen Fortschritts, wachsenden Wohlstands und eines allgemeinen Optimismus. Damals wird sie durch ihre Häufigkeit, ihre Ausbreitung und ihre Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu einem Problem für das Gesundheitswesen.“

Einen neuen Schub erhält die Wohlstandskrankheit nach 1945. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg verändert sich alles: Durch Verstädterung und räumliche Mobilität lösen sich die alten Familienstrukturen auf. Traditionelle Geschlechterrollen zerbrechen. Wirtschaftliches Wachstum sorgt für die soziale Absicherung breiter Schichten. Die Idee setzt sich durch, dass jeder seinen Weg machen kann. Alvin Toffler hat diesen Trend 1970 in seinem Bestseller „Der Zukunftsschock“ in Frage gestellt. Er beschreibt eine Gesellschaft, in der das Flexible, das Temporäre, die Hyper-Auswahl zu einer allgemeinen Verbreitung der Erschöpfung führt, deren wichtigstes Resultat die Depression ist. Der amerikanische Psychologieprofessor Barry Schwartz greift diese These 35 Jahre später wieder auf. Ich komme darauf zurück.

Im Oktober 1970 wird bei einer internationalen Psychiatertagung in New York die Depression als die verbreitetste Krankheit der Welt bezeichnet – mit etwa 100 Millionen Betroffenen weltweit. „Die Zivilisation ist außerordentlich deprimierend“, heißt es 1977 in der ältesten psychiatrischen Zeitschrift Frankreichs, besonders jetzt, da „die psychische Befreiung und die unsichere Identität“ des Einzelnen im Mittelpunkt stünden. Ist also, so fragen sich die Psychologen bereits in den 70er Jahren, die Depression die Kehrseite der Lust, man selbst zu sein? In unseren Tagen werden diese Gedanken neu diskutiert – wie wir später noch sehen werden.

Ein französischer Arzt bringt es 1981 in der Zeitung „L’Express“ auf den Punkt: „Das immer schneller werdende Tempo der Veränderungen zwingt den Menschen, den Anpassungsprozess immer mehr zu beschleunigen. Der moderne Mensch muss sich, um überleben zu können, an eine Gesellschaft anpassen, die sich im permanenten Wandel befindet, in der sich alles vor seinen Augen verändert… Von zehn Kranken, die in die Sprechstunde kommen, weisen sieben Störungen auf, die eine direkte Konsequenz der Seuche sind.“

Depression als Seuche der Moderne

Die 80er und 90er Jahre sorgen für die weitere Verbreitung der Krankheit. Allein in Frankreich steigt die Rate der Depressiven um 50 Prozent. In den USA belaufen sich die Kosten, die durch Depressionen verursacht werden, auf jährlich knapp 50 Milliarden Dollar. Diese Zahl des Journal of the American Medical Association umfasst nur den Produktivitätsverlust für die Firmen. Die direkten Ausgaben wie Krankenhausaufenthalte, Medikationen, Arztbesuche etc. sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.

Waren in den 30er Jahren die vom Wohlstand und der damit einhergehenden Langeweile Betroffenen depressiv geworden, so sucht die Krankheit ab den 90er Jahren vor allem die Verlierer des Wirtschaftswunders heim. In einer französischen Untersuchung heißt es dazu: „Der Anteil nimmt mit den ungünstigen Verhältnissen zu – Einsamkeit, geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit -, Verhältnisse, die selbst ebenfalls zahlenmäßig klar zunehmen.“

Eine ungeheure Kostenlawine droht auf die sozialen und medizinischen Dienste herein zu brechen. Eine Planungskommission sieht 1998 in der „wachsenden Anfälligkeit der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter… ein radikal neues Phänomen.“ Die Zahl der Selbstmorde bei den 35- bis 44-Jährigen habe sich verdoppelt. Die Gründe: Vereinsamung und Angst um den Arbeitsplatz.

Dem französischen Hohen Ausschuss für Öffentliche Gesundheit zufolge ist „das psychische Leiden im Bereich der Gesundheit aktuell das wichtigste Symptom der Ungewissheit“. Oder wie es die beiden Psychiater Mercueil und Letout 1997 ausdrückten: „Die Hoffnung zu verlieren wird zum größten Risiko.“

Hinzu kommt die vollständige Liberalisierung der Wirtschaft, die vom Einzelnen Initiative, Motivation, Flexibilität, Eigenverantwortung und die Fähigkeit verlangt, Projekte zu entwickeln. Der Fließbandarbeiter gehört der Vergangenheit an, der innovative Kleinunternehmer ist gefragt. Die Kehrseite ist die Unsicherheit der Karrieren: Arbeitsplätze können über Nacht wegrationalisiert werden, egal wie engagiert sich der Arbeitnehmer oder auch der Manager eingebracht haben.

Alain Ehrenberg fasst zusammen: „Welchen Bereich man auch ansieht (Unternehmen, Schule, Familie), die Welt hat neue Regeln. Es geht nicht mehr um Gehorsam, Disziplin und Konformität mit der Moral, sondern um Flexibilität, Veränderung, schnelle Reaktion und dergleichen. Selbstbeherrschung, psychische und affektive Flexibilität, Handlungsfähigkeit: Jeder muss sich beständig an eine Welt anpassen, die eben ihre Beständigkeit verliert, an eine instabile, provisorische Welt mit hin und her verlaufenden Strömungen und Bahnen. Die Klarheit des sozialen und politischen Spiels hat sich verloren. Diese institutionellen Transformationen vermitteln den Eindruck, dass jeder, auch der Einfachste und Zerbrechlichste, die Aufgabe auf sich nehmen muss, alles zu wählen und alles zu entscheiden (Hervorhebung durch Ehrenberg).“ An anderer Stelle erläutert er diese Entwicklung so: „Die Depression ist die Kehrseite einer kapitalistischen Gesellschaft, die das authentische Selbst zur Produktivkraft macht und es damit bis zur Erschöpfung fordert.“

Uneingeschränkter Konsum: wenn Fülle depressiv macht

Dieses authentische Selbst verschärft die Spirale von Angst (um den Arbeitsplatz oder allgemein: zu versagen), Leistungsdruck und völliger Erschöpfung durch das Bild, das es nach außen von sich gibt: vor Kraft strotzend, dynamisch, immer gut drauf und natürlich immer liquide. Neben den Schulden für Eigenheime und Autos hat jeder amerikanische Haushalt mehr als 8000 Dollar Minus auf seinen Kreditkarten, weiß die New York Times. Alle 15 Sekunden geht jemand in den USA Bankrott, wie Elizabeth Warren, Juraprofessorin in Harvard, berichtet. Das sind fünf Mal so viele Pleitiers wie 1980. Juliet Schor, Professorin für Wirtschaft und Soziologie am Boston College, macht dafür den derzeit herrschenden grenzenlosen Konsumismus verantwortlich. Immer mehr zu wollen und nie zufrieden zu sein, schaffe nach Schor die Grundlage für die heutige Ausbreitung der Depression.

Barry Schwartz, Professor für Psychologie am Swarthmore College in Pennsylvania, führt die Gedanken von Ehrenberg und Schor noch weiter: „Unbegrenzte Wahlfreiheit kann die Ursache echten Leidens sein“, schreibt er in seinem Buch „Anleitung zur Unzufriedenheit. Warum weniger glücklich macht“. „Zu viele Optionen zu haben, ruft psychische Probleme hervor, zumal in Verbindung mit Reue, Statusstreben, Anpassung, sozialem Vergleich und, vor allen Dingen, mit dem Wunsch, von allem das Beste zu haben.“

Schwartz hat vor allem verwundert, dass der Anteil der amerikanischen Bevölkerung, der sich als glücklich beschreibt, in den letzten 30 Jahren stetig zurückging, obwohl sich im gleichen Zeitraum das Bruttoinlandsprodukt mehr als verdoppelt hat. Dass zweitens in den USA Depressionen im Jahr 2000 zehnmal so häufig waren wie 1990. Und schließlich, dass die Länder mit dem höchsten Maß an persönlicher Freiheit und Kontrolle die höchsten Selbstmordraten aufweisen (Untersuchung des australischen Sozialwissenschaftlers Richard Eckersley).

Ein weiterer amerikanischer Psychologe, Martin Seligman, fand heraus, dass die Fähigkeit, Kontrolle auszuüben, von entscheidender Bedeutung für das seelische Wohlbefinden ist. Genau diese Kontrolle gehe dem Menschen zunehmend verloren, folgert Barry Schwartz. Denn „in einer Welt, die unbegrenzte Wahlmöglichkeiten bietet, ist es viel einfacher, sich für enttäuschende Ergebnisse selbst die Schuld zu geben, als in einer Welt mit begrenzten Optionen.“ Wahlfreiheit wird so zur Last und nicht zum Privileg. Misserfolge bei der Berufs- oder Partnerwahl, aber auch bei jeder anderen Entscheidung werden in dieser Welt der unbegrenzten Möglichkeiten zwangsläufig als persönliches Scheitern gewertet, das „durch die richtige Wahl hätte verhindert werden können“.

Wie Ehrenberg sieht Schwartz einen Trend vom Gesellschaftlichen (Familie, Freunde, Gemeinschaft) zum Individuellen – gipfelnd in dem Wunsch des Einzelnen nach Kontrolle, Autonomie und Perfektion. „Unser erhöhter Individualismus hat zur Folge, dass wir nicht nur Vollkommenheit von allen Dingen, sondern auch von uns selbst erwarten.“ Mit diesem Anspruch müssen wir zwangsläufig scheitern. Und dafür suchen wir die Schuld dann bei uns selbst und „leisten damit der Depression Vorschub“. Am Schlankheitswahn zeigt sich nach Schwartz am deutlichsten, wie „übermäßige Erwartungen und Ansprüche an unsere Fähigkeit zur Kontrolle zu einer epidemischen Depressionsrate beitragen“. Allein die Zahlen zeigen hier, wie oft um Kontrolle in diesem Bereich gekämpft wird: Pro Jahr kaufen die Amerikaner mehr als 50 Millionen Diätbücher und geben mehr als 50 Milliarden Dollar für Diäten aus.

Statusstreben, Hang zu Perfektion und Vollkommenheit, übermäßige Erwartungen und Ansprüche an unsere Fähigkeit zur Kontrolle – all dies kann Menschen in die Depression, ja sogar in den Selbstmord treiben. Im schlimmsten Fall sogar in den Amoklauf im Cockpit, dem dann 149 Unschuldige zu Opfer fallen.

Depression ist in der Tat mehr als nur schlechte Stimmung.