Sahra Wagenknecht und ihr Mann Oskar Lafontaine wollen eine neue linke Bewegung gründen (Foto: Picture Alliance/Britta Pedersen/dpa)
Linke

Neue Bewegung für Umverteilung und Staatswirtschaft

Gastbeitrag Sahra Wagenknecht hat ihre linke Bewegung "Aufstehen" vorgestellt. Für den BAYERNKURIER hat der bekannte Publizist Hugo Müller-Vogg das Projekt analysiert. Für ihn veranschaulicht es vor allem die Schwäche und Zerrissenheit im rot-rot-grünen Lager.

Ein Gespenst geht um in unserer politischen Landschaft: eine „linke Sammlungsbewegung“. Geraunt wird über sie seit Ende vergangenen Jahres, offiziell aus der Taufe gehoben wurde sie jetzt. Diese Bewegung will nach den Worten Sahra Wagenknechts, der maßgeblichen Geburtshelferin dieser „Bewegung in Gründung“, nicht weniger, als unsere angeblich zur „Fassadendemokratie“ verkommene politische Ordnung wieder zu einer echten Demokratie machen. Weitere Ziele sind unter anderem Fairness im gesellschaftlichen Miteinander, eine leistungsgerechte Verteilung und eine Politik der guten Nachbarschaft im Verhältnis zu anderen Ländern. Man könnte es so zusammenfassen: eine Bewegung für Umverteilung, Staatswirtschaft und Abrüstung.

Was die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag und ihr Ehemann Oskar Lafontaine bisher an Programmatischem verlauten ließen, könnte größtenteils unter der Überschrift „Bei den Linken nichts Neues“ zusammengefasst werden. Das rote Power-Couple steht in einem permanenten Spannungsverhältnis zur eigenen Partei, nicht zuletzt deshalb, weil beide beim Linksabbiegen bisweilen sehr deutlich rechts blinken. Beide stehen nämlich für eine viel restriktivere Zuwanderungspolitik als ihre eigene Partei und die Grünen. Wenn sie jetzt nach mehr Polizei rufen und für die „Wahrung kultureller Eigenständigkeit“ eintreten, bewahren sie nur ihre Parteibücher vor dem am linken Rand wohlfeilen „Nazi“-Etikett.

AfD-Konkurrenz von links

Die Stoßrichtung ist klar: Die Sammlungsbewegung soll über die linke Schickeria in den Metropolen hinaus vor allem ärmere und vom sozialen Abstieg bedrohte Menschen ansprechen. Zur Zielgruppe zählen wohl auch solche Bürger, die in Flüchtlingen und illegalen Einwanderern vor allem Konkurrenten um Arbeitsplätze, Wohnungen und Kita-Angebote sehen. Denn genau aus dieser Gruppe sind in den letzten Jahren viele Wähler von der Linken zur AfD gewechselt. Die sollen jetzt wieder eingesammelt werden – mit links.

Wagenknecht und Lafontaine haben noch nicht viele Prominente für ihr Projekt gewinnen können. Als Unterstützer werden der ehemalige SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dressler und die ebenfalls in ihrer Partei, den Grünen, keine Rolle mehr spielende Antje Vollmer genannt, ebenso der Liedermacher Konstantin Wecker. Auch mit dabei: der Berliner Dramaturg Bernd Stegemann. Von den „ungewohnten Gesichtern“, die die Sammlung-Initiatoren angekündigt haben, ist bisher nichts zu sehen. Da muss sich das Publikum noch etwas gedulden.

Vorbilder im Ausland

Sammlungsbewegungen sind derzeit en vogue. Emanuel Macron hat in Frankreich den linksliberalen-bürgerlichen Teil des alten Parteisystems mit „Le Republique en marche (Republik in Bewegung)“ zertrümmert, Jean-Luc Mélenchon ist mit „La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich)“ dasselbe links der Mitte gelungen. In Großbritannien wiederum hat Jeremy Corbyn die Labour Party für Kurzzeit-Mitglieder geöffnet, die Partei per Mitgliederentscheid weit nach links gerückt und so die Konservativen samt ihrer unbeliebten Premierministerin Theresa May um die absolute Mehrheit gebracht. Man kann mit Bewegungen also durchaus Bewegung ins System bringen. Fragt sich nur, ob sich ausländische Erfahrungen einfach auf Deutschland übertragen lassen. Das französische wie das britische Wahlsystem jedenfalls bieten Ad-hoc-Koalitionen unzufriedener Wählergruppen ganz andere Möglichkeiten als das deutsche.

SPD, Grüne und Linke bringen es zusammen derzeit gerade mal auf gut 40 Prozent.

Hugo Müller-Vogg

Sammlungsbewegungen entstehen gemeinhin von unten und außerhalb des parlamentarischen Spektrums. Sie kämpfen mit außerparlamentarischen Mitteln um Einfluss auf die Politik der „Etablierten“. Der Ansatz Wagenknechts, als Teil des Berliner Establishments mit politischen Kräften jenseits der Parteien eine Bürgerbewegung zu starten, mutet deshalb etwas seltsam an. Eine „linke Sammlungsbewegung“ stünde aber aus einem weiteren, noch wichtigeren Grund, vor eher hohen Hürden. Wenn es einen natürlichen Nukleus für eine solche Formation gäbe, dann wäre das Wagenknechts eigene Partei, Die Linke. Die aber ist in dieser Frage gespalten oder mit großer Mehrheit entschieden gegen den mit der Partei keineswegs abgesprochenen Vorstoß Wagenknechts. Wenn gestandene Links-Funktionäre eines nicht wollen, dann eine „Liste Wagenknecht.“ Mag die Partei auch die rhetorischen Fähigkeiten und starken Auftritte ihrer Fraktionsvorsitzenden in Talkshows schätzen: Für ihre Alleingänge findet die „rote Diva“ kein Verständnis.

Keine linke Mehrheit in Sicht

Das „Wagenknecht-Projekt“ hat ein Ziel: Wähler für eine linke Koalition zu gewinnen. Das kann aber nur dann gelingen, wenn die neue Kraft zusätzliche Wählerschichten außerhalb des rot-rot-grünen Spektrums erreicht. Denn SPD, Grüne und Linke bringen es zusammen derzeit gerade mal auf gut 40 Prozent. Allerdings spricht nichts dafür, dass eine „linke Sammlungsbewegung“ auf diesen 40 Prozent aufbauen könnte. Denn nicht nur in der Linkspartei ist die Skepsis groß; von der SPD oder den Grünen hat sich bisher auch noch niemand von Gewicht für eine solche Bewegung ausgesprochen.

In einer Umfrage haben 25 Prozent der Befragten gesagt, sie könnten sich vorstellen, eine „Liste Wagenknecht“ zu wählen. Da kommt bei manchen Hoffnung auf. Doch wissen wir seit der Kurzeit-Ära Schulz, wie wenig Umfragen zu trauen ist. Zudem entsprechen diese 25 Prozent nur knapp zwei Drittel der aktuellen Sympathisanten von Rot-Rot-Grün. Denn man muss dabei berücksichtigen, dass zu den potentiellen Wagenknecht-Anhängern auch ein stattlicher Prozentsatz bisheriger AfD-Wähler zählt. Nach einer neuen linken Mehrheit sieht das also nicht aus.

Lafontaines Trugschluss

Genau genommen befindet sich Sahra Wagenknecht mit ihrem Vorhaben auf den Spuren des Mannes an ihrer Seite. Oskar Lafontaines hatte schon früher die These vertreten, die SPD brauche nur Politik für Arbeitnehmer und Rentner zu machen, also für die Mehrheit, und schon wäre sie Mehrheitspartei. Was rechnerisch stimmen mag, geht inhaltlich freilich nie auf. Die meisten Arbeitnehmer und Rentner denken nicht so eindimensional, dass sie ihre Stimmabgabe allein an der Höhe von Löhnen, Renten und Sozialleistungen orientieren. Da muss schon das ganze „Paket“ stimmen. Das aber stimmt bei der SPD schon lange nicht mehr. Die Partei steht programmatisch nämlich links von ihrer Klientel. Da würde ein Linksruck nicht helfen – im Gegenteil.

Es wäre auch fahrlässig, die Wähler der Grünen pauschal dem rot-rot-grünen Sammellager zuzuschlagen. Zweifellos gibt es unter den grünen Funktionären und Mandatsträgern nicht wenige, die gegenüber der Linken keine Berührungsängste haben. Oder die ihre Bedenken fallen lassen, wenn – wie in Thüringen oder Berlin – eine Regierungsbeteiligung lockt. Aber ein nicht unerheblicher Teil gut situierter Grünen-Wähler dürfte einer „Liste Wagenknecht“ nicht viel abgewinnen. Das wissen auch die führenden Grünen. Als sie 2013 – Seit‘ an Seit‘ mit SPD und Linken – einen rigorosen Umverteilungswahlkampf führten, rutschten sie auf 8,4 Prozent ab.

Wer nach der Macht greift, tut sich in einer nicht so genau definierten Bewegung leichter als in einer Partei mit festen Regeln.

Hugo Müller-Vogg

Unabhängig von den nicht allzu rosigen Erfolgsaussichten: Die „Linke Sammlungsbewegung“ steht nicht für einen neuen Aufbruch der Parteien links der Mitte. Sie steht vielmehr für den Versuch Wagenknechts, auf einem Umweg das zu erreichen, was ihr innerhalb der eigenen Partei verwehrt ist: sich zur alleinigen Führerin des linken Lagers aufzuschwingen. Dabei würde helfen, dass eine Sammlungsbewegung keine Partei ist, also auch nicht an die Vorschriften des Parteiengesetzes über innerparteiliche Demokratie gebunden ist. Wer nach der Macht greift, tut sich deshalb in einer nicht so genau definierten Bewegung leichter als in einer Partei mit festen Regeln.

Themen, die nicht zünden

Es hat in der Bundesrepublik schon manche Bewegung gegeben, die ohne Bindung an Parteien die politischen Entscheidungsprozesse zu beeinflussen wusste. Die Studentenbewegung von 1968ff. zählt ebenso dazu wie die Friedensbewegung und die Anti-Atomkraft-Bewegung. Auch die Montagsdemonstrationen gegen die Hartz-Gesetze sind dazuzurechnen. Die Studentenbewegung zerbrach schnell an inneren ideologischen Spannungen; nicht wenige Aktivisten gingen zur SPD oder später zu den Grünen. Die Pazifisten und Kernkraftgegner hatten durchaus Erfolge zu verzeichnen, aber erst, nachdem aus ihnen eine Partei hervorgegangen war – die Grünen. Die Mobilmachung der Hartz-Gegner hinterließ ebenfalls politische Spuren: Sie bereitete den Weg für die Westausdehnung der damaligen PDS.

Wagenknecht und ihre wenigen bekannten Mitstreiter bauen offensichtlich darauf, dass es hierzulande Mehrheiten gibt für höhere Löhne, für eine höhere Besteuerung der „Reichen“, für höhere Renten, für mehr Sozialwohnungen und für eine Bundeswehr, die sich eher als technisches Hilfswerk versteht denn als Einsatztruppe. Aber alle diese Themen treiben die Menschen nicht auf die Straßen und Plätze, haben bisher nicht den Ruf nach neuen Mehrheiten jenseits des vorhandenen Parteien-Spektrums erschallen lassen, auch nicht nach einem Retter oder einer Retterin. Gleichwohl bietet sich Sahra Wagenknecht schon mal als Heilsbringerin an der Spitze einer neuen Bewegung an. Da denkt man unwillkürlich an einen Satz von Talleyrand: „Da geht mein Volk. Ich muss ihm nach. Ich bin sein Führer!“

Hugo Müller-Vogg ist Journalist und Publizist. Er war Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.