Abschied vom Kanzler der Einheit: Helmut Kohl winkt 1990 der jubelnden Menge vor dem Reichstag in Berlin zu. (Bild: Imago/Thomas Imo/Photothek)
Nachruf

Samurai auf politischem Parkett

Gastbeitrag Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit und europäische Versöhner, wurde zu Lebzeiten bekämpft, angefeindet – und unterschätzt. Kohl war ein "Glücksfall für Deutschland und Europa", schreibt sein früherer Regierungssprecher Peter Hausmann.

„Vater der Einheit“, „Ein großer Europäer“, „Rekordkanzler“ – die oft strapazierten Klischees über Helmut Kohl sind jetzt wieder in den wohlmeinenderen Medien zu lesen, zu hören und sehen gewesen. Andere – vor allem das Internet – stellen unter Beweis, dass sie weder ihren Frieden mit Helmut Kohl gemacht haben, geschweige denn machen wollen, noch dem alten Grundsatz „de mortuis nil sine bene“ folgen wollen. Helmut Kohl polarisiert auch nach seinem Tod.

Kohls Wandschmuck

Zu Lebzeiten war er oft das Ziel beißenden Spotts und übler persönlicher Herabsetzungen. Den linksliberalen Feuilletons galt Helmut Kohl im Vergleich zu seinem direkten Vorgänger Helmut Schmidt, der stets den weltmännischen hanseatischen Macher gab, als Vertreter der deutschen Provinz. Als ich zum ersten Mal den langen holzvertäfelten Gang des Kanzleramts in Bonn zu Helmut Kohls Büro entlang ging, drängten sich die gesammelten Spiegel-Titel in mein Blickfeld, die dort fein säuberlich gerahmt hingen. Keines der Titelbilder war für den Bundeskanzler schmeichelhaft – die weitaus meisten gingen sogar grob mit ihm um. Die Aussage aller Spiegel-Titel war eindeutig: Das politische Ende des Kanzlers aus der Pfalz ist nahe! Erst Monate später, als ich als Regierungssprecher in Bonn arbeitete, wagte ich es, Helmut Kohl auf den „Wandschmuck“ anzusprechen.

Und dann kommen sie in mein Büro und ich bin immer noch da.

Helmut Kohl, über sein oft vorhergesagtes politisches Ende

Betont naiv fragte ich, warum er ausgerechnet die kritischen Titelbilder eines von ihm nicht gerade geschätzten Blattes so prominent platziere, wo sie jedem Besucher ins Auge fallen müssen. „Ach weißt Du, wenn Besucher kommen, müssen sie auf dem Weg zu mir schön chronologisch geordnet lesen, dass mein politisches Ende schon X-mal prophezeit worden ist. Und dann kommen sie in mein Büro und ich bin immer noch da.“ Bei dieser Antwort blitzte der Schalk aus seinen Augen und sein Gesicht, das so lebendig Sympathie, Genugtuung und Ärger zeigen kann, überflog eine lausbübische Freude.

Ein entschlossener Kämpfer

Helmut Kohl, der von den Medien gnadenlos heruntergemacht worden ist, wie kaum ein anderer deutscher Politiker, hat es allen gezeigt. Er war der Kämpfer, der ruhig und entschlossen wie ein japanischer Samurai politisch zu Werke ging mit großem Erfolg. „Von Helmut Kohl lernen, heißt siegen lernen“, war einer der häufigsten Sätze, den Freunde und Feinde in Bezug auf ihn fast ehrfürchtig verwendeten.

Bei seinem Einzug ins Kanzleramt im Herbst 1982 hatte er eine schwierige Hinterlassenschaft vorgefunden. Die deutsche Volkswirtschaft schwächelte. Die Investitionsprogramme der sozialliberalen Bundesregierung waren wirkungslos verpufft. Hohe Arbeitslosigkeit, hohe Inflation und hohe Zinsen hatten sich wie Mehltau über die Ökonomie gelegt. International und vor allem in Europa hatte Deutschland durch mitunter barsche Befehlstöne Ansehen und Gewicht verloren. Der Begriff „Eurosklerose“ machte in den Gazetten die Runde.

Der Gegenentwurf zu Schmidt

Helmut Kohl war – wie man heute sagen würde – der komplette Gegenentwurf zu seinem Vorgänger. Sein Naturell war ein Glücksfall für Deutschland und Europa. Er war ein Mensch, der offen auf seine Gesprächspartner zuging und Menschen für sich einzunehmen verstand – dabei aber nie politisch naiv handelte, wie sich in den Wochen der friedlichen Revolution in der DDR und der deutschen Wiedervereinigung zeigte.

Wie gewinnend er in persönlichen Gesprächen war, unterstreicht ein Satz von Michail Gorbatschow. Er gestand, dass er sich mit seinem Freund Helmut Kohl anfangs gar nicht so gut verstand, bis dieser ihm „seine Seele“ öffnete. Das ist auch Beleg dafür, wie wenig zutreffend das oft strapazierte Klischee vom kalten Machtmenschen Kohl ist.

Kompromisse als politische Maxime

Und doch greift das Bild des Kämpfers zu kurz. Es kann die Persönlichkeit Helmut Kohls nur unzureichend beleuchten. Auch wenn er Erfolge hart erarbeiten musste und am Anfang seiner Karriere als Bundespolitiker etliche Rückschläge hinnehmen musste, war ihm wie kaum einem anderen bewusst, dass man Erfolge nicht im Konflikt erringen kann. Man braucht Vision, Überzeugungskraft, Stehvermögen, die Fähigkeit, Menschen für sich zu gewinnen und auch ein Stück Glück. Das alles zeichnete Helmut Kohl aus und gab ihm die Fähigkeit zu seiner größten politischen Leistung: Der Kanzler der Einheit konnte den Menschen in Deutschland in den Wochen der friedlichen Revolution in der DDR Orientierung geben und ihnen sagen, wohin es gehen soll. Er nahm ihnen die Angst vor den gewaltigen Veränderungen des Einheitsprozesses.

Als führen Menschen gemeinsam mit einem Elefanten in einem Ruderboot über den See.

Helmut Kohl, über die Sicht der EU-Staaten auf Deutschland

Sein Regierungshandeln folgte dabei strikt dem Prinzip, seinen Gesprächs- und Verhandlungspartnern nie etwas abzuverlangen, das sie schwerlich leisten konnten, ohne dabei deutsche Interessen zu vernachlässigen. Das bewies Kohls grundsätzlicher partnerschaftlicher Respekt gegenüber seinen Partnern. Im kleinen Kreis erklärte Helmut Kohl seine Rücksichtnahme gerade auf kleinere EU-Partner gerne mit einem einfachen Bild. Die EU mit seinen so unterschiedlichen Ländern, kleinen, mittleren und einem großen, über 80 Millionen Menschen großen Deutschland sei, als führen Menschen gemeinsam mit einem Elefanten in einem Ruderboot über den See. Das löse nicht gerade behagliche Gefühle aus, weil es nur funktioniert, solange sich der Dickhäuter ruhig verhält und keine abrupten Bewegungen macht.

Frieden und Versöhnung in Europa

Wer nach der Triebfeder der Kohl´schen Politik forscht, muss sich zwangsläufig mit seiner Herkunft und seiner persönlichen Lebensgeschichte befassen. Helmut Kohl war der letzte Bundeskanzler aus einer Generation, die ihre Kindheit in der Zeit der Nazidiktatur und des Zweiten Weltkrieges erlebt hatten. Der Horror dieser gigantischen Menschheitskatastrophe war dem Menschen Helmut Kohl nicht zuletzt wegen des Todes seines Bruders auf dem Schlachtfeld stets wache Erinnerung. Er war tief davon überzeugt, dass Europa als größtes Friedensprojekt die einzig richtige und erfolgversprechende Schlussfolgerung aus Holocaust, Krieg und Vertreibung ist. Die Zeit, als Deutschland sich von „Erbfeinden“ eingekreist sah und dies den Kindern in den Schulen mit blindem Hurra-Patriotismus „eingetrichtert“ wurde, sah er als stete Mahnung zu Frieden und Aussöhnung. Den Prozess der europäischen Einheit unumkehrbar zu machen, war daher sein größtes politisches Ziel. Deutschland als guter Nachbar in der Mitte war ein fundamentaler Beitrag zu diesem Europa.

Und doch: Ein Mann mit Visionen

Wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, hatte Helmut Kohls Vorgänger einmal gesagt. Damit hatte er das Max Webersche Prinzip der Politik als Richtungsentscheidung grundsätzlich in Frage gestellt. Es war Deutschlands und Europas Glück, dass Helmut Kohl diese Aussage nie akzeptierte und seine Visionen von Frieden und Freiheit hartnäckig verfolgte. Helmut Kohl konnte so das Kapitel der deutschen Nachkriegszeit zu einem guten Ende führen. Dafür schulden wir Deutsche ihm Dank.

Der Autor

Peter Hausmann war von 1994 bis 1998 Sprecher der Bundesregierung und Chef des Bundespresseamtes sowie von 2008 bis 2014 Chefredakteur des Bayernkurier.

Er war als freier Journalist und fest angestellter Redakteur unter anderem für den Münchner Merkur und den Bayerischen Rundfunk tätig. Nach dem Tod von Franz Josef Strauß wechselte er Ende 1988 zur CSU als Sprecher des damaligen Parteichefs, Bundesfinanzminister Theo Waigel. Ende 1992 kehrte er zum BR als Leiter der Wirtschaftsredaktion Hörfunk zurück. Neben der journalistischen Arbeit erhielt er mehrere Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und arbeitete bei Wirtschaftsprüfungs- und Unternehmensberatungsfirmen sowie bei PR-Agenturen.