Brexit-Befürworter demonstrieren in London. Für die Austritts-Entscheidung gab es auch wirtschaftliche Gründe. (Foto: Imago/Bettina Strenske)
Wirtschaft

Scheitert die europäische Integration?

Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Die Volkswirtschaften in der EU entwickeln sich zunehmend unterschiedlich. Der Wohlstandsverlust in vielen Regionen könnte den Fortbestand der Union gefährden, warnt der Ökonom Christian Helmenstein.

Mit der Etablierung des europäischen Binnenmarktes sowie des gemeinsamen Währungsraumes ging die Erwartung einher, dass sich makroökonomische Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union sukzessiv abbauen würden. Wäre ein solcher Konvergenzprozess tatsächlich zu beobachten, reichte dessen Bedeutung weit über die bloße empirische Bestätigung eines dem Grunde nach politisch motivierten, grenzüberschreitenden Integrationsprozesses hinaus.

Angleichung oder Umverteilung

Erstens stand allen Konstrukteuren der Währungsunion schon vor ihrer Gründung vor Augen, dass die Etablierung der europäischen Gemeinschaftswährung in ihrer gegenwärtigen „großen Gebietskulisse“ ein Projekt fernab eines theoretisch definierten „optimalen Währungsraumes“ sein würde. Soll der Euro unter solchen Voraussetzungen auf Dauer Bestand haben, muss zumindest eine der beiden nachfolgenden Bedingungen erfüllt sein: Es muss ein Konvergenzprozess in Richtung eines Abbaus der makro­ökonomischen Ungleichgewichte stattfinden oder/und ein dauerhafter zwischenstaatlicher Umverteilungsmechanismus substanziellen Umfangs etabliert werden.

Es mehren sich die Stimmen, welche für die Europäische Union neben der Retrospektive des erfolgreichen Friedensprojektes auch die Prospektive einer politischen Verheißung für die nächsten Jahrzehnte einfordern.

Christian Helmenstein

Zweitens steht die Europäische Union für den Erfolg eines politischen Friedensprojektes, dessen nicht zuletzt auch ökonomische Dividende den zunächst geteilten, seit gut einem Vierteljahrhundert wieder vereinten Kontinent im Laufe der Jahrzehnte zu einem attraktiven Lebensraum hat werden lassen. Dennoch mehren sich die Stimmen, welche für die Europäische Union neben der Retrospektive des erfolgreichen Friedensprojektes auch die Prospektive einer politischen Verheißung für die nächsten Jahrzehnte einfordern.

Vergleichbare Chancen für alle Bürger

Der denkbar höchste Anspruch an die Europäische Union aus wirtschaftspolitischer Perspektive bestünde in dem Ziel, allen Bürgerinnen und Bürgern der Union vergleichbare Lebensgestaltungschancen zu eröffnen. Das aber hieße nichts anderes, als einen erfolgreichen Konvergenzprozess zu avisieren: Unabhängig von ihrem jeweiligen Geburtsort sollten alle Bürger an den Einkommenszuwächsen in der Union partizipieren können, im erstbesten Falle quasi en passant infolge von Konvergenz zwischen den Regionen, im zweitbesten Falle als Ergebnis intraeuropäischer Wanderungsprozesse.

Das Auseinanderdriften des Wohlstandes auf nationaler Ebene unmittelbar im Gefolge der Krise 2008/09 ist vor allem dem relativen Wohlstandsverlust der südlichen Peripherieländer zuzuschreiben.

Christian Helmenstein

Gerade im Gefolge der Finanzkrise erscheint einem erheblichen Teil der Unionsbevölkerung ein solcher Anspruch allerdings als geradezu utopisch, herrscht doch eher der Eindruck vor, dass die wirtschaftliche Entwicklung in der Europäischen Union in der jüngeren Zeit eher durch Divergenz als durch Konvergenz geprägt war. Den damit einhergehenden Sorgen bedienen sich populistische Parteien quer durch Europa, indem sie in Weltuntergangsszenarien und durch Sündenbockkampagnen die Europäische Union sowie die Globalisierung für diverse Fehlentwicklungen verantwortlich machen. Aber sind die Wahlerfolge dieser Parteien tatsächlich hinreichend durch die subtile Aktivierung von vermeintlichen Schutzmechanismen auf Seiten der Wahlbevölkerung zu erklären? Oder gibt es bei (unerwarteten) politischen Abstimmungsergebnissen – etwa beim Brexit-Votum – nicht vielleicht doch einen harten ökonomischen Kern als maßgeblichen Einflussfaktor, welcher sich am persönlich erfahrenen Lebensstandard festmachen lässt?

Schlusslicht Griechenland

Faktum ist, dass sich der Wohlstand in den 28 Mitgliedsländern der Europäischen Union – gemessen am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf – in zahlreichen Ländern und Regionen in den letzten Jahrzehnten an das Niveau der Gründungsmitglieder und im Durchschnitt einkommensstärkeren EU-Mitgliedsländer angenähert hat (graduelle Wohlstandskonvergenz). Dies gilt beziehungsweise galt nicht nur für die südlichen Regionen in der Peripherie, sondern auch und vor allem für die Regionen der jüngeren Mitgliedstaaten in Zentral- und Osteuropa. Das Auseinanderdriften des Wohlstandes auf nationaler Ebene unmittelbar im Gefolge der Krise 2008/09 ist vor allem dem relativen Wohlstandsverlust der südlichen Peripherieländer zuzuschreiben, während die meisten anderen europäischen Länder ihr Wohlstandsniveau halten konnten.

Die Grafik zeigt die Entwicklung des Wohlstandes (gemessen in BIP pro Kopf) in Relation zum EU-Durchschnitt seit dem Jahr 2000 für einige ausgewählte Länder. Der Wohlstandsverlust der südlichen Peripherieländer seit der Krise ist dabei evident. Griechenland hat seit 2009 über 26 Prozentpunkte an Pro-Kopf-BIP gegenüber dem EU-Durchschnitt verloren. Ein langfristiger Abwärtstrend ist hingegen in Italien zu beobachten. Lag das Wohlstandsniveau im Jahr 2000 noch bei 120 Prozent des EU-Durchschnittes, erreicht es im Jahr 2015 nur mehr 96 Prozent, was einem Verlust von 24 Prozentpunkten gleichkommt. Über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet ist ein Wohlstandsverlust – wenngleich in der Größenordnung geringer als in Italien – auch für Großbritannien und Frankreich zu konstatieren.

Auch Italien fällt zurück

Eine vergleichbare Auswertung auf regionaler Ebene akzentuiert diese nationalen Ergebnisse, zeigt sie doch, dass sich Teilregionen eines Landes zum Teil sehr unterschiedlich gegenüber dem nationalen Durchschnitt entwickelten. So haben im Zeitraum von 2009 bis 2014 alle griechischen Regionen relativ an Wohlstand verloren, beispielsweise Attiki im Vergleich zum EU-Durchschnitt minus 26 Prozentpunkte an BIP/Kopf. Das gilt auch für alle 19 Regionen in Spanien. In Portugal ist in vier der sieben betrachteten Regionen im Zeitraum von 2009 bis 2014 der relative Wohlstand zurückgegangen.

Hochinteressant ist der Befund, dass sogar 34 der insgesamt 40 Regionen im Vereinigten Königreich relativ an Wohlstand verloren haben.

Christian Helmenstein

Mit Ausnahme von Südtirol haben alle 21 italienischen Regionen einen relativen Wohlstandsverlust erlitten, am stärksten die Region Lazio mit einer Einbuße von 16 Prozentpunkten. In Frankreich sind 12 der 27 betrachteten Regionen gegenüber dem EU-Durchschnitt zurückgefallen, am stärksten die Region Franche-Comté mit 8 Prozentpunkten. Die Region Guyane hat seit 2009 hingegen um 7 Prozentpunkte an relativem Pro-Kopf-BIP zugelegt, die Region Île de France (Großraum Paris) um 4 Prozentpunkte.

London gegen den Rest

Hochinteressant ist der Befund, dass sogar 34 der insgesamt 40 Regionen im Vereinigten Königreich im genannten Zeitraum relativ an Wohlstand verloren haben. Die stärksten Verluste verbuchte die Region Bedfordshire und Hertfordshire mit einem relativen Verlust von 12 Prozentpunkten, während Inner London (East) um 14 Prozentpunkte zugelegt hat. Gerade im Falle des Vereinigten Königreiches waren die Folgen einer von Divergenz geprägten regionalen Wirtschaftsentwicklung fatal.

Wendet man die vorstehende Regionalanalyse auf einen längeren Zeitraum an, so bestätigt sich die These einer regional divergierenden Entwicklung. Eine höhere Kaufkraft erwirtschafteten im Wesentlichen die Region London sowie das nordöstliche Schottland. Dieser Befund ist aber nicht etwa Zufall, sondern Konsequenz einer Wirtschaftspolitik, die gering diversifizierend auf hoch wertschöpfende Finanzdienstleistungen einerseits und die Exploration fossiler Ressourcen andererseits setzte. Und er ist nicht etwa Resultat eines europäischen, sondern eines nationalen Politikversagens über zahlreiche Legislaturperioden und damit auch Parteigrenzen hinweg.

Handfeste Gründe für den Brexit

Die beiden genannten Branchen boten und bieten weit überdurchschnittlich hohe Verdienstmöglichkeiten, sodass sie einen starken Sogeffekt auf qualifiziertes Humankapital ausüben. Dieser quantitativen wie qualitativen Erosion des in den übrigen Regionen des Vereinigten Königsreiches verfügbaren Humankapitals vermochten die anderen Wirtschaftszweige (zu) wenig entgegenzuhalten – das Ergebnis war ein substanzieller Brain Drain zugunsten des Londoner Metropolraumes im Tandem mit einer flächendeckenden Deindustrialisierung. Besonders negativ betroffen sind vor allem ländliche Regionen. Zudem war ein Auseinanderdriften der allgemeinen Wachstumsdynamik Großbritanniens einerseits und dem dadurch generierten, durchschnittlich verfügbaren Einkommen andererseits zu beobachten. Weite Teile der britischen Bevölkerung partizipierten nicht mehr an der Wohlstandsentwicklung.

In diesem Lichte betrachtet ist der Ausgang des Brexit-Votums weder ein psychopathologisches Phänomen, welches splendid isolation als anzustrebenden Idealzustand verherrlichen würde, noch sind antieuropäische Reflexe der Wahlbevölkerung ausschließlich das Produkt populistischer Panikmache, die nationales Politikversagen erfolgreich auf die europäische Ebene projiziert. Vielmehr ist es auch das Resultat von handfesten materiellen Einkommensnachteilen und damit einem Verlust an Lebensgestaltungschancen für die betroffenen Menschen.

Dr. Christian Helmenstein ist Chefökonom der österreichischen Industriellenvereinigung und Mitglied des Vorstandes am Economica Institut für Wirtschaftsforschung.