No-Deal-Brexit-Dämmerung über Westminster. (Bild: H.M.)
Brexit

Boris Johnson erhöht den Druck

Boris Johnson schickt das Parlament in eine vierwöchige Sitzungspause, das nun einen No-Deal-Brexit kaum noch verhindern kann. Damit erhöht der Premier den Druck auf die EU: Brüssel muss entweder neu verhandeln − oder den No-Deal-Brexit hinnehmen.

Der britische Premierminister Boris Johnson hat mit seiner Ankündigung einer Parlamentspause vor dem Brexit am 31. Oktober die schlimmsten Befürchtungen der Gegner eines No-Deal-Brexits wahrgemacht. Die Empörung ist groß. Was steckt hinter der sogenannten „Prorogation”?

Der Premierminister …

Die Legislaturperioden des britischen Unterhauses werden in mehrere Sitzungsphasen (Sessions) unterteilt. Traditionell dauern die Phasen etwa ein Jahr. Die laufende Phase läuft nun bereits seit Sommer 2017 − es ist die längste in beinahe 400 Jahren, wie Johnson anmerkte. Ungewöhnlich ist daher nicht, dass die Regierung eine neue Parlamentsphase einläuten und ihr Programm vorlegen will. Doch der Zeitpunkt inmitten einer heftigen politischen Auseinandersetzung und die Länge der Unterbrechung sind ungewöhnlich.

Theoretisch hätte es in der Macht von Königin Elizabeth II. gelegen, den Antrag der Regierung abzulehnen. Doch das wäre ein Bruch jahrhundertealter Konventionen gewesen und damit undenkbar. Die britischen Monarchen halten sich seit langer Zeit strikt aus allen politischen Auseinandersetzungen heraus. Es ist daher nicht überraschend, dass die Queen dem Antrag zugestimmt hat.

… nimmt das Parlament aus dem Spiel

Die Zustimmung der Parlamentarier für die Prorogation ist nicht notwendig, sie können sie daher mit einer einfachen Abstimmung nicht verhindern. Die Abgeordneten könnten aber noch immer versuchen, ein Gesetz zu verabschieden, um das Brexit-Datum zu ändern und einen No-Deal-Brexit zu verhindern. Sie dürften sich dabei der Unterstützung von Parlamentspräsident John Bercow sicher sein, der angekündigt hatte, „bis zum letzten Atemzug” gegen eine politisch motivierte Parlamentsschließung zu kämpfen.

Doch die Zeit dafür wird sehr knapp. Denn ein Gesetzgebungsprozess muss durch beide Kammern des Parlaments gehen. Das kann sich besonders bei den Lords im Oberhaus sehr in die Länge ziehen. Dort haben die Brexit-Befürworter schon einmal bewiesen, dass sie bereit sind, mit einer Schwemme von Anträgen und sogenanntem „Filibuster” (Dauerreden) Gesetzgebungsverfahren zu verschleppen.

Angst vor Jeremy Corbyn

Als Ultima Ratio gilt ein Misstrauensvotum gegen die Regierung von Premierminister Johnson. Dazu bräuchte es aber eine Opposition, die sich über das weitere Vorgehen einig ist, und die Unterstützung von Rebellen aus dem Regierungslager. Brexit-Gegner wie der konservative Abgeordnete Dominic Grieve haben bereits angekündigt, dass sie bereit wären, die eigene Regierung zu stürzen.

Problem: Weder die Konservativen noch die Liberalen wollen dem radikalsozialistischen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn ins Premierminister-Amt verhelfen. Außerdem dürfte es auch in der Labour-Partei möglicherweise einige beinharte Brexit-Befürworter geben, die gerne einen No-Deal-Brexit sähen und Johnson aushelfen würden. Sie wissen warum: Es waren Labour-Wahlkreise, die 2016 am deutlichsten für den Brexit gestimmt haben. Kurz vor Wahlen, die Johnson offensichtlich schon bald anstrebt, werden die Labour-Abgeordneten das im Kopf behalten.

Wahl nach dem Brexit

Letztlich braucht es vor allem einen Plan, wie es nach dem Sturz der Regierung weitergehen soll. Denn findet sich innerhalb von zwei Wochen keine Mehrheit für eine Regierung, muss neu gewählt werden. Doch den Wahltermin legt der scheidende Premierminister fest. Johnson könnte ihn auf ein Datum nach dem EU-Austritt am 31. Oktober legen und den No-Deal-Brexit einfach geschehen lassen.

Seine nicht unberechtigte Hoffnung: Nach dem vollzogenen Brexit würde die Brexit-Partei überflüssig. Deren 15 Prozent Wahlstimmen, die ihr aktuelle Umfragen geben, würden Johnsons Tories zufallen − und ihn mit einem schönen Wahlsieg wieder in 10 Downing Street tragen.

Der Verhandlungsdruck auf Brüssel steigt

Indem Johnson nun das Parlament aus dem Spiel nimmt, erhöht er den Verhandlungsdruck auf die Europäische Union, und zwar dramatisch. Denn Johnson droht Brüssel mit einem No-Deal-Brexit, sollte sich die EU nicht auf seine Forderung nach Änderungen am Austrittsabkommen einlassen. Sollte es tatsächlich dazu kommen, wird mit drastischen Konsequenzen für die Wirtschaft gerechnet − auf beiden Seiten des Ärmelkanals.

In den vergangenen Tagen hatte Johnson mehrmals gewarnt, Brüssel solle sich nicht darauf verlassen, dass das Parlament einen No Deal verhindern würden. Das kann es nun vermutlich gar nicht mehr. Damit läge die Entscheidung, ob es zum chaotischen No-Deal-Brexit kommt oder nicht, bei Brüssel.

Das Problem der nordirischen Grenze

Knackpunkt im Streit zwischen London und Brüssel ist die Frage der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Republik Irland und der britischen Provinz Nordirland. Dort soll es auch nach dem Brexit keine Grenzkontrollen geben. Die sogenannte Backstop-Reglung sieht darum vor, dass entweder Großbritannien oder die Provinz Nordirland solange Mitglied der EU-Zollunion bleiben, bis eine andere Lösung zur Vermeidung von Grenzkontrollen auf der grünen Insel gefunden ist. Was sehr lange dauern könnte.

London sieht darin inakzeptable Fesseln − und im Falle von Nordirlands Zollunion eine Bedrohung für die territoriale Integrität des Vereinigten Königreichs. Genau darum ist das Austrittsabkommen drei Mal im Parlament gescheitert: Es verstößt gegen grundlegende britische Interessen.

Wählermehrheit gegen Parlamentsmehrheit

Hat Premierminister Johnson mit seinem Verfahrenstrick „Frevel gegen die Verfassung” begangen, wie Parlamentspräsident John Bercow es formuliert? Eher nicht. Tatsächlich geht es in London nicht um Verfassungsfrevel oder gar Verfassungsbruch, wovon Bercow auch nicht spricht, sondern um ein schwer lösbares Verfassungsdilemma.

Am 23. Juni 2016 hat eine klare Wählermehrheit für den Brexit, für den Austritt aus der Europäischen Union, gestimmt. Aber eine Mehrheit der Parlamentsabgeordneten war damals gegen den Brexit und ist es immer noch. In Großbritannien steht seit drei Jahren also eine Wählermehrheit gegen eine Parlamentsmehrheit. Ein echtes Verfassungsdilemma, wenn es je eines gegeben hat. Boris Johnson hat es nun politisch doch aufgelöst − zugunsten der Wählermehrheit. Die wirtschaftlichen Folgen aber könnten auch für Großbritannien fatal sein. (dpa/BK/H.M.)