Schicksalsabstimmung in London
Am Tag vor der Abstimmung in London gilt das Brexit-Abkommen als gescheitert. Brüssel richtet sich darauf ein, dass London um Verlängerung der Austrittsfrist nachsucht. Problem: Dann müsste Großbritannien an der Europawahl am 26. Mai teilnehmen.
Brexit

Schicksalsabstimmung in London

Am Tag vor der Abstimmung in London gilt das Brexit-Abkommen als gescheitert. Brüssel richtet sich darauf ein, dass London um Verlängerung der Austrittsfrist nachsucht. Problem: Dann müsste Großbritannien an der Europawahl am 26. Mai teilnehmen.

Die EU hält eine Verschiebung des Brexits über das vorgesehene Datum 29. März hinaus für möglich. Das sagten Diplomaten der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel.

Am Dienstagabend soll das britische Parlament über den von Premierministerin Theresa May mit der Europäischen Union ausgehandelten Austrittsvertrag abstimmen. Eine Niederlage der Regierung gilt aber als wahrscheinlich, wie Handelsminister Liam Fox in der BBC eingestand. Damit ihr Brexit-Abkommen sicher ratifiziert würde, bräuchte Theresa May im Unterhaus 320 Stimmen. Doch die sind nicht in Sicht.

Alles offen bis zum letzten Moment

May will Medienberichten zufolge am Nachmittag vor das Parlament treten und weitere Zusicherungen der EU präsentieren, um den Widerstand gegen ihr Abkommen aufzuweichen. Ob ihr das die nötige Unterstützung für das Abkommen sichert, ist aber fraglich. In Brüssel starteten mehr als 100 Europaabgeordnete einen Appell an Großbritannien, den Brexit abzublasen und in der EU zu bleiben.

Vor der Abstimmung im Unterhaus war die am meisten diskutierte Frage, wie schlimm die allseits erwartete Niederlage für May ausfällt und wie es danach weitergeht. Möglich ist, dass das Parlament am Dienstag selbst schon einen Weg dafür weist. Die Beschlussvorlage kann noch vor der eigentlichen Abstimmung abgeändert werden. Die Änderungen könnten sogar so weitreichend sein, dass die eigentliche Abstimmung am Ende obsolet wird.

Wie weiter nach einem „Nein” des Parlaments?

Sollte das Parlament das Abkommen am Dienstag jedoch mit großer Mehrheit ablehnen und sich auch in den kommenden Wochen nicht auf ein weiteres Vorgehen einigen, droht ein Austritt ohne Abkommen mit dramatischen Konsequenzen für die Wirtschaft und viele andere Lebensbereiche − in Großbritannien, aber auch in EU-Europa.

Nach einer Niederlage der Regierung könnte es auch zu einem Misstrauensvotum im Parlament kommen. Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Labour-Partei droht seit Tagen damit, wollte sich aber bislang nicht auf einen Zeitpunkt festlegen. Bislang wird nicht damit gerechnet, dass die Regierung damit zu Fall gebracht werden kann.

Brüssel hält Fristverlängerung für möglich

Die Londoner Tageszeitung The Guardian hatte unter Berufung auf hohe EU-Beamte berichtet, Brüssel halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die Frist eingehalten werden könne. Grund sei der starke heimische Widerstand gegen das Brexit-Abkommen, dem sich Premierministerin Theresa May gegenüber sehe.

Der einzige Ausweg aus dem Schlamassel: Die Regierung muss die Notbremse ziehen und die EU um Verlängerung der Austrittsfrist nach Artikel 50 bitten. Je schneller sie das tut, desto besser.

The Guardian

In Brüssel erwarte man, dass London in den kommenden Wochen eine Verlängerung der Austrittsfrist nach Artikel 50 der EU-Verträge beantragen werde, hieß es weiter. Eine „technische” Verlängerung bis Juli wäre ein erster Schritt, um May Extrazeit zu geben, das jetzige Abkommen zu überarbeiten und bestätigen zu lassen. Sollte May politisch überleben und mitteilen, dass sie mehr Zeit brauche, werde ihr der Aufschub bis Juli angeboten, zitierte das Blatt einen EU-Beamten. Problem: Dann müsste Großbritannien  an den Europawahlen am 26. Mai teilnehmen.

Es gibt noch eine − etwas irreguläre − Möglichkeit für London, eine Fristverlängerung zu erwirken: Großbritannien könnte seinen Austrittsantrag vom 29. März 2017 einseitig zurückziehen − um ihn womöglich einige Monate später noch einmal einzureichen. Das Problem Europawahl bliebe: Als EU-Mitglied müsste Großbritannien auch dann wieder Europaabgeordnete bestimmen.

Abkehr vom EU-Ausstieg?

Dagegen hielt Premierministerin May am Montag Nachmittag am Austrittsdatum fest: „Wir verlassen die EU am 29. März.” Sie sei nicht der Auffassung, dass der britische EU-Austritt verschoben werden sollte. Noch sei kein Antrag aus London auf eine Fristverlängerung gestellt worden, erklärten denn auch EU-Kreise auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Zudem müssten die EU-Mitgliedstaaten eine solche Verlängerung einstimmig beschließen.

Wir verlassen die EU am 29. März.

Theresa May, britische Premierministerin

Unterdessen warb die Premierministerin weiter für ihren Deal. Interessant: Eine Abkehr vom EU-Ausstieg bezeichnet sie als wahrscheinlicher als einen Ausstieg ohne Vertrag, wie aus einem vorab verbreiteten Redemanuskript hervorgeht. May wollte heute zu Fabrikarbeitern in Stoke-on-Trent sprechen. Die Stadt in Mittelengland gilt als Brexit-Hochburg.

Ohne Abkommen: Chaos

Unterdessen warnte die deutsche Wirtschaft erneut vor den negativen Folgen im Falle eines Brexits ohne Abkommen. „Ohne Deal würden zusätzlich Millionen an Zollanmeldungen und Milliarden an Zöllen fällig”, sagte der Präsident des Deutschen Industrie-und Handelskammertages, Eric Schweitzer, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Zudem würden Just-in-Time-Produktionen und Lieferketten unterbrochen.

Er wies abermals darauf hin, dass in Deutschland ungefähr 750.000 Arbeitsplätze vom Handel mit Großbritannien abhingen. Großbritannien ist Deutschlands fünftwichtigster Handelspartner. Das Handelsvolumen beträgt 122 Milliarden Euro. Die deutsche Außenwirtschaft äußerte sich ebenfalls besorgt und warnte vor Milliardenkosten.

EU-Parlament wirbt für Rücknahme des Brexit

In dem geplanten offenen Brief aus dem Europaparlament an die Briten heißt es: „Wir bitten darum, im Interesse der nächsten Generation den Austritt zu überdenken.” Bei einer Abkehr vom Brexit würde man zusammen daran arbeiten, „die Europäische Union zu reformieren und zu verbessern, so dass sie besser im Sinne aller Bürger funktioniert”, heißt es in dem Papier, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Zuerst hatte die Funke Mediengruppe darüber berichtet.

Nach Angaben von Mitunterzeichner Peter Liese (CDU) haben sich 111 der 751 Abgeordneten im EU-Parlament dem Appell angeschlossen. Bis Anfang kommender Woche könne man noch unterzeichnen, teilte Lieses Büro mit. Danach werde der Brief in britischen Medien veröffentlicht. (dpa/BK/H.M.)